50 Jahre Ionenphysik und Angewandte Physik

Universität Innsbruck

Festvortrag, 5. Oktober 2017

Öffentlich alimentierte Grundlagenforschung – wozu und warum überhaupt?

Helmut Schwarz

Alexander von Humboldt-Stiftung


Magnifizenz, verehrte Festversammlung:

1939, nur wenige Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, erschien in Harper's Magazin ein Essay mit dem Titel "The Usefulness of Useless Knowledge". Der Autor, Abraham Flexner, Generalsekretär des legendären Institute of Advanced Studies in Princeton, beschreibt darin, wie aus scheinbar nutzloser Tätigkeit die größten Entdeckungen und Erfindungen hervorgegangen sind; er liefert ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit des menschlichen Geistes, argumentiert scharf gegen die Hegemonie des Begriffes "Nützlichkeit" in der Forschungspolitik und die Verteilung von öffentlichen Forschungsgeldern unter rein ökonomischen Gesichtspunkten.

Obwohl die Welt sich in den letzten 75 Jahren dramatisch verändert hat, Flexners Dokument hat nichts von seiner Gültigkeit zur Rolle der Grundlagenforschung verloren – handelte es sich dabei um einen kulturellen Wert an sich oder stellte sie den Ausgangspunkt einer jeden Innovationskette dar.

Flexners Überlegungen zwingen den aufmerksamen Leser, darüber nachzudenken, ob es wirklich sinnvoll sein kann, alle menschlichen Tätigkeiten unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit zu sehen, er beleuchtet die herausgehobene Rolle, die in der Forschung der einzelne Mensch spielt, verdeutlicht Schillers Verdikt, dass kreative Wissenschaftler nicht von ihrer sondern für ihre Arbeit leben, und dass die wahre Triebkraft für diese Spezies darin besteht, wirklich neues Terrain – terra incognita – zu erschließen, Schneisen ins Unbekannte zu schlagen – letztlich, um sich selber und die Welt besser zu verstehen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit Dritten zu teilen. Aber genau diese Haltung induziert immer wieder einen Prozess, der angereichert ist mit vielen Rückschlägen und Missverständnissen.

Warum eigentlich? Nun, wirkliche Durchbrüche in der Forschung lassen sich nicht planen, ihr Wert an sich oder auch ihr Anwendungspotential sind in der Regel zunächst unbekannt; das "heureka" blitzt plötzlich an unerwarteter Stelle auf, wie Puck in einem Shakespeare-Stück. Obwohl die Wissenschaft wie ein Mosaik auf den Beiträgen vieler beruht, kann nicht übersehen werden in diesem Prozess, dass die Leidenschaft von Individuen eine maßgebliche Rolle spielt und die erzielten Durchbrüche einer individuellen, nicht planbaren Kombination von Kreativität, Intelligenz, Neugier, Ausdauer und Zufall ("serendipity") geschuldet sind. Und diese Personen, die Wissenschaftler, benötigen – neben Geld – vor allem Freiräume und Vertrauen. Beschränkungen durch eng definierte Zeitskalen oder Korsettierungen durch eine wenig flexible Themenwahl, wie auch Sprunghaftigkeit im Förderverhalten sind extrem schädlich. Diese Überlegungen stellen auch den Kern eines Manifestes von über 13.000 Wissenschaftlern an die europäischen Parlamente, Ministerien und Forschungsförderer dar.

Noch einmal: Wirklich neues Wissen, meine Damen und Herren, entsteht aus dem Bedürfnis etwas besser zu verstehen, aus dem Durst nach Einsicht und Erkenntnis – und nicht unbedingt aus einem konkreten Anwendungsauftrag zum Beispiel eines Ministeriums.

"Wissen soll der Anwendung vorausgehen", hielt Max Planck 1919, also in einer Zeit größter materieller Not, in einer großen Rede fest – und sein Diktum gilt bis heute als Leitmotiv der Max Planck Gesellschaft, der wohl erfolgreichsten deutschen Forschungsorganisation. Was ist das Erfolgsprinzip der MPG, das seit 1948 zu nicht weniger als 18 Nobelpreisträgern geführt hat? 1) Eine großzügige, ausreichende, stetige Alimentierung aus öffentlichen Mitteln, 2) die Fokussierung auf Grundlagenforschung ohne strikte thematische Vorgaben und 3) das Bekenntnis zu kompromissloser Exzellenz. Ähnliche Erfolgsgeschichten gelten auch für andere Einrichtungen, die ihrerseits MPG-analogen Prinzipien folgten, wie z. B. das "Laboratory for Molecular Biology in Cambridge", oder früher die AT&T Bell Laboratories oder die NIHs in den USA.

Obwohl neugiergetriebene Forschung den Ausgangspunkt von allen Innovationen darstellt, hat sie zusehends einen schweren Stand in der Öffentlichkeit, ist sie doch zeitaufwändig, gelegentlich teuer, und besteht ihr primäres Ziel – zumindest zunächst einmal – darin, eine Sache einfach verstehen zu wollen. Eine solche Motivation der zahlenden Öffentlichkeit, den Medien, dem Gesetzgeber in den Parlamenten oder einer Ministerialbürokratie verständlich zu machen, dies ist in der Regel ziemlich schwierig, und deshalb ist Grundlagenforschung verwundbar geworden. Es herrscht stattdessen – und zunehmend - einfach die Haltung vor, den Wert von Forschung nach ihrer Nützlichkeit zu bemessen oder davon abhängig zu machen, ob sie ein gesellschaftliches Problem adressiert, oder ob sie in der Lage ist, in vorhersehbarer Zeit ein marktfähiges Produkt zu liefern, usw. Diese und andere, oft politisch motivierten Eingriffe haben beispielsweise führende britische Wissenschaftler zur Gründung eines "Council for the Defense of British Universities" veranlasst, in der Hoffnung, wieder ein Ethos und eine intellektuelle Atmosphäre zu etablieren, die beide einmal maßgeblich zum Rang dieser bedeutenden Institutionen beigetragen hatten.

Wir sollten ferner – um einen ganz anderen Gesichtspunkt zu beleuchten - bedenken, dass die Reglementierung von Grundlagenforschung letztlich auch das gesamte ökonomische Netzwerk menschlicher Aktivitäten gefährdet.

Denn, machen wir uns nichts vor: Wir wissen doch (oder sollten es wissen), wie miserabel unser Leben aussähe, wenn es alle die Dinge nicht gäbe, die wir als selbstverständlich ansehen, die aber ihren Ursprung in der Grundlagenforschung haben: Kein GPS ohne Einsteins esoterische, unter praktischen Gesichtspunkten komplett irrelevante Theorie der Allgemeinen Relativität. Oder, es waren Zufallsexperimente, die zur Entdeckung der Röntgenstrahlung führten. Vergessen wir nicht, dass die Entschlüsselung der DNA-Struktur durch Watson und Crick, eine neugiergetriebene gedankliche Übung par excellence, die gesamten Lebenswissenschaften des 20. Jahrhunderts revolutioniert hat, dass Alexander Flemings beharrliches Studium einer langweiligen Bakterienkultur letztlich zur Entdeckung des Penicillins führte, oder der LASER, ohne den wir uns eine Welt gar nicht mehr vorstellen können, zunächst als etwas ohne jegliche praktische Anwendung angesehen wurde. Die Liste ist nahezu endlos, und einer meiner Favoriten in ihr geht zurück bis in das Jahr 1927, als der junge, etwas autistisch wirkende, exzentrische Cambridge-Mathematiker Paul Dirac die Existenz von Anti-Materie, speziell das Positron, postulierte. Vier Jahre später gelang der experimentelle Nachweis dieses kurzlebigen Elementarteilchens, und heute gibt es wohl kaum ein Hospital, in dem PET (Positronen-Emissions-Tomographie) zur Früherkennung von Krebs nicht angewendet wird. Ja – die Liste ist beeindruckend lang, und das vielleicht schönste Beispiel hängt mit Michael Faradays Arbeiten zum Geheimnis von Magnetismus und Elektrizität zusammen. Ohne Faradays Interesse am Elektromagnetismus – eine Sache, die seine Zeitgenossen als die amüsante Spielerei eines Eigenbrötlers ansahen -, säßen wir alle immer noch buchstäblich im Dunkeln.

Als Faraday vom Britischen Premierminister, William Gladstone, gefragt wurde, wozu denn diese, schließlich aus öffentlichen Mitteln geförderte Spielerei tauge oder gut sei, soll Faraday kühl geantwortet haben: "One day, Sir, you may tax it". Gladstone lebte nicht lange genug, um zu erleben, welch rasanten Aufstieg die Elektroindustrie in der Welt nahm und welchen Wohlstand sie der Gesellschaft schenkte. Es gibt verlässliche jüngere Schätzungen der Weltbank, dass ganz generell "the return on investments in research" enorm ist – er liegt zwischen 30 – 60 %! Ein Beispiel aus der Chemie: Knapp 20 % der gesamten Weltökonomie kann direkt oder indirekt auf chemische Katalyse zurückgeführt werden, auf jene zunächst rein akademische Übung, die übrigens von Goethe in seinen "Wahlverwandtschaften" ebenfalls adressiert wurde, nämlich: Wie werden in Molekülen Bindungen geknüpft und gebrochen. Oder: Erwin Schrödinger, der große Sohn Österreichs, hat 1926 eine mathematische Gleichung formuliert, die die Wellennatur des Elektrons beschreibt. Mathematik und Theoretische Physik pur! Heutzutage wissen wir, dass ungefähr 25 % der gesamten Weltökonomie auf den Anwendungen der Quantenmechanik beruht.

Also – und dafür gäbe es auch schöne, überzeugende Beispiele aus jenem Institut Ihrer Universität, dessen 50. Geburtstag wir heute feiern – also: es gibt gar keinen Zweifel, dass Grundlagenforschung die entscheidende Initialzündung für Innovation darstellt, wovon schließlich die gesamte Gesellschaft profitiert. Diese Haltung drückt sich auch deutlich in der Förderphilosophie des Weizmann Institute of Science in Israel aus – eines der wohl bedeutendsten Laboratorien der Welt und einem Zentrum für die industrielle Nutzung der Ergebnisse von Grundlagenforschung. Dort heißt es: "What awaits us scientists in these unknown territories and places, one may ask. No one has the answer to this question. But one thing is certain: the journey in pursuit of curiosity will lead us to a better future".

Und deshalb ist Grundlagenforschung als ein öffentliches Gut zu behandeln; sie muss, was ihre Alimentierung angeht, als eine im öffentlichen Interesse liegende Angelegenheit betrachtet werden, ihre Förderung darf zunächst nicht ökonomischen Regeln und einer raschen Profitmaximierung unter politisch opportunen Gesichtspunkten unterliegen. Aus diesen Gründen halte ich es auch für einen verhängnisvollen Irrweg, wenn in einigen Ländern die staatliche Wissenschaftsförderung in Unterabteilungen der Wirtschaftsministerien angesiedelt worden ist. Kluge Forschungsförderung darf nicht als eine Subvention, sondern muss als eine Investition in die Zukunft verstanden werden.

Von dem Innovationsforscher Erich Staudt stammt der Satz: "Innovation im Konsens ist Nonsens", und er hielt ferner fest an der Idee, dass es immer nur Einzelne oder Minderheiten sind, die wirklich Neues wagen, die Risiken eingehen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom; wer aber zur Quelle gelangen will, muss gegen den Strom schwimmen – und dies bringt mich zum letzten Punkt meiner kleinen Festrede: Fördere verstärkt den wissenschaftlichen Nachwuchs, denn es ist der Enthusiasmus junger Menschen, ihre große Offenheit gegenüber Neuem, ihre Furchtlosigkeit, die Zukunft zu gestalten, die sie von den Altvorderen unterscheidet.

Aber: tun wir an den Universitäten wirklich genug für den Nachwuchs? Ist es nicht hirnrissig, ihre Tauglichkeit für eine akademische Laufbahn vorwiegend an bibliometrischen Daten festzumachen oder bei Berufungen, den Betrag von Drittmitteln, die sie eingeworben haben, zu einem Kriterium zu machen? Geben wir uns wirklich genügend Mühe, vor allem ihre Kreativität und Originalität zu erkennen und dann die Fähigsten von ihnen dann ausreichend zu fördern?

Wir müssen uns ferner fragen, ob die derzeit an vielen Stellen praktizierten Methoden, wie man Talente sucht oder ihnen tenure verleiht, überhaupt sinnvoll sind, und ob diese Instrumente tauglich wären, heutzutage einen jungen Maxwell, Emil Fischer, Einstein, einen Otto Hahn, Feodor Lynen, Heisenberg, Boltzmann, einen Woodward, Wolfgang Pauli, einen Erwin Schrödinger oder Karl Ziegler für eine akademische Karriere zu interessieren – oder: Würde der zweifache Nobelpreisträger für Chemie, Fred Sänger, in der heutigen Welt der Wissenschaft mit ihrem Überfluss an kontrollierender Administration auf der einen und mit nur einer Handvoll eigener Veröffentlichungen auf der anderen Seite akademisch überhaupt überleben? Ich denke, wir müssen den universitären Umgang mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs komplett überdenken und sollten dies im Kontext der Frage nach dem Sinn und der Aufgabe von Universitäten tun. Universitäten sollten und müssen mehr sein als bloß berufsbefähigende Anstalten.

Nach meiner eigenen Erfahrung und auch der von mir geführten AvH gilt jedenfalls: Exzellenz in der Forschung gedeiht am besten, wenn man den Menschen Freiräume schenkt, wenn man akzeptiert, dass Grundlagenforschung, wie das Schreiben einer Oper, zunächst einmal eine kulturelle Angelegenheit ist, allerdings mit dem Potential, der Gesellschaft langfristig ökonomisch enorm zu nützen. Ferner, dass man gut beraten ist, dem Prinzip, Personen zu vertrauen, größeres Gewicht beimisst als einem System, das auf übertriebener Kontrolle und auf Misstrauen basiert. Manche dieser Ideen findet man in einem Artikel, den der Wissenschaftsberater von F. D. Roosevelt, Vannevar Bush, nach Ende des Zweiten Weltkriegs verfasste und der zur Gründung der so erfolgreichen US NSF führte, und die dann ihrerseits die US-Wundermaschine eines beispiellosen wirtschaftlichen Erfolgs der USA in den 1950er und 1960er Jahren ermöglichte. Es heißt in der Denkschrift: "Scientific progress on a broad front results from the free interplay of intellectuals, working on subjects of their own choice, in the manner dictated by their curiosity for exploration of the unknown".

Wie wahr, auch noch nach 70 Jahren!



Meine Damen und Herren:

Herzlichen Dank für Ihr Zuhören und gute Wünsche für die Zukunft des Instituts für Ionenphysik und Angewandte Physik Ihrer Universität, auf das Sie allen Grund haben, stolz sein zu dürfen.



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