Digitalisierung – Erzählen von einer Zäsur

21. – 23. Jänner 2021, Universität Innsbruck (Virtuell)

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Abstracts

Brandstetter, Nicole:
Künstliche Intelligenz in der Literatur: Narrative zwischen motivgeschichtlichem Wandel und Ästhetisierung

Was ist Künstliche Intelligenz? Eine definitorische Antwort auf diese Frage ist bis heute nicht eindeutig zu geben. Die Literatur liefert mit dem bis in die Antike zurückreichenden literarischen Topos des künstlichen Geschöpfes bis hin zur Repräsentation des Roboters als Inbegriff der figürlichen Künstlichen Intelligenz dazu ihren Diskussionsbeitrag und spiegelt so bis heute die entsprechenden gesellschaftlichen und philosophischen Debatten zu Ethik und Moral wider. Stellt sich Ian McEwan mit seinem Roman Machines Like Me (2019) in die motivgeschichtliche Asimov’sche Tradition der Mensch-Maschine-Interaktion mit Überlegungen zu Unterschieden zwischen Mensch und Maschine sowie zu Macht- und Kontrollstrukturen, so geht Jochen Beyse in Fremd wie das Licht in den Träumen der Menschen (2017) der Frage nach, ob Roboter erzählen und somit kreativ sein können. Der Roman repräsentiert die ästhetische Überwindung der Mensch-Maschine-Dichotomie, indem verschiedene Erzählstränge von und durch einen geflohenen Haushaltsroboter miteinander verwoben werden.

In den letzten Jahren jedoch fand ein motivgeschichtlicher Wandel bezüglich Künstlicher Intelligenz und deren Narrative statt. Statt menschengleicher Roboter wird Künstliche Intelligenz in Form von Anwendungen erzählt, die subtil und doch omnipräsent unsere Gesellschaft, unsere Interaktion sowie unsere Wahrnehmung verändern. Bereits 2013 illustrierte Dave Eggers Roman The Circle, wie datensammelnde Konzerne Einfluss auf Politik und Gesellschaft nehmen können. Autorinnen wie Juli Zeh, Julia von Lucadou, Sibylle Berg oder Ali Smith verarbeiten jedoch nicht nur motivgeschichtlich, sondern auch ästhetisch die disruptiven gesellschaftlichen Implikationen von Künstlicher Intelligenz. Mit geradezu protokollarischer Schlichtheit erzählt Juli Zeh in ihrem Roman Leere Herzen (2017), wie das Geschäft mit Selbstmordattentätern mithilfe eines Algorithmus im Sinne des Effizienzgedankens in einer enthumanisierten Gesellschaft optimiert wird. Julia von Lucadou wiederum erschafft in Die Hochhausspringerin (2018) einen Überwachungsstaat, der als Fortführung von Orwells Universum interpretiert werden kann. Die Literarisierung von Marketing- und Motivationssprache fungiert hier als Ästhetisierung der Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung. Sibylle Berg zeichnet in GRM Brainfuck (2019) ein von Monstrositäten und Gewalt geprägtes Porträt einer Gesellschaft, die sich der derzeitigen Logik des technologischen Fortschritts folgend zu einem daten- und KI-basierten, totalitären Überwachungsstaat entwickelt hat. Stakkatogleich, disruptiv und apokalyptisch in Ästhetik und Sprache wird die Hoffnungslosigkeit und Spaltung dieser Gesellschaft narrativ verarbeitet. In Ali Smiths Roman Spring (2019) ist Künstliche Intelligenz schließlich nur noch als Subtext fassbar. Lediglich in collagenhaften, schreienden textuellen Zwischenrufen wird das ganze Ausmaß gesellschaftlicher sowie politischer Implikationen fassbar.

Diese Romane zeigen auf verstörende Art, wie kaum zu kontrollierende Folgen der Digitalisierung, wie Überwachung, Brexit, fake news und Populismus, Gesellschaften an den Rand des Abgrunds führen, während unser tatsächlicher gesellschaftlicher Diskurs um Künstliche Intelligenz und Digitalisierung sich vor allem auf Automatisierungsprozesse in der Arbeitswelt oder Anwendungsfelder wie autonomes Fahren zu konzentrieren scheint. Die entworfenen Gesellschaftsbilder dienen nicht als mahnende Utopien einer zeitlich wie technologisch weit entfernten Zukunft, sondern als Spiegel der heutigen Verquickung von Wirtschaft und Politik durch Digitalisierung.

 


Ernst, Thomas:
Netzliteraturwissenschaft: Digitale Aufklärung und Netzkritik

Zwar suggeriert die Rede von einer ‚postdigitalen Gesellschaft‘, dass theoretisch allen ein souveräner Zugriff auf digitale Medien möglich wäre; in der Praxis leben wir jedoch weiterhin in einer Gesellschaft der digitalen Ungleichheit, der Hate Speech und der mangelnden Datensouveränität. Auch vom Buchdruck bis zur breiteren gesellschaftlichen Alphabetisierung hat es lange gedauert, der aktuelle Stand lässt sich eher als einer der Transformation aus einer digitalisierten in eine digitale Gesellschaft bezeichnen, in dem dann die Potenziale Digitaler und Sozialer Medien von allen und gerecht genutzt würden.

Wie jedoch erzählen Sachbücher, Romanen und die Netzliteratur von dieser Transformationsphase und ihren Problemen? Der Vortrag will am Beispiel ausgewählter Sachbüchern (u.a. Metz/Seeßlen 2011, Wagner 2017), Romanen (u.a. Berg 2019) und der Netzliteratur (u.a. @NeinQuarterly) nachspüren, wie diese die Möglichkeit einer ‚digitalen Aufklärung‘erzählen und welche Elemente der Netzkritik sie nutzen. Dabei interessiert insbesondere, ob es genreüberschreitende Entwürfe einer ‚digitalen Aufklärung‘ und einer ‚Netzkritik‘ gibt, sowie die Frage, wie die Geschichten zur digitalen Aufklärung bzw. zur Netzkritik erzählt werden. 


Gentilin, Olivietta:
Das literarische Potenzial des Algorithmus: Reflexionen über die Eröffnung neuer Perspektiven für die Literatur und die Literaturwissenschaft

Der Medienumbruch hat die Literatur und die Literaturwissenschaft stark verändert und Entwicklungen in Gang gesetzt, die noch am Anfang stehen und über die neu reflektiert werden muss. Im Bereich der Literatur entstehen neue literarische Formen, die Gattungsgrenzen verwischen und konsequenterweise werden für sie alternative Bezeichnungen gesucht. Die Vielfalt literarischer Kommunikationsformen sowie die Verfügbarkeit von großen Textmengen haben im Bereich der Literaturwissenschaft eine Erweiterung des Methodenspektrums zur Folge. Der vorliegende Beitrag setzt sich zunächst mit der Hauptfrage auseinander, ob es sich bei solchen Umwandlungen um eine Zäsur mit dem tradierten Modell der literarischen Kommunikation oder eher um „Zwischenstationen“ handelt, die zu einer neuen Definierung und Umstrukturierung aller Kunstformen einschließlich der literarischen führen können. Die Argumentation lehnt sich an Stephen Ramsays Reading Machines an. Ramsay führt den Begriff Potential Literature ein und unterstützt somit die These der Multiperspektivität. Seine Kritik am Missbrauch des Algorithmus in der Literatur eröffnet die Perspektive einer Verbindung von Wissenschaft und Ästhetik und zeigt mithilfe literarischer Beispiele, dass die von Computern generierten Texte poetische und narrative Elemente aufweisen können. Potential Literature erweist sich somit als alternative Textualität und der Algorithmus als Mittel der Enthüllung ungewöhnlicher Formen des Poetischen und des Narrativen. Ein derartiger Gebrauch von Sprache und Form beeinflusst sowohl die Art literarischer Kommunikation als auch die Methode für die Analyse dieser Kommunikation.

Ausgehend von der bereits illustrierten theoretischen Basis wird dieser Beitrag in einem zweiten Teil folgenden Fragen nachgehen: Mit welchen spezifischen Mitteln reagiert Literatur auf das veränderte Szenario? Genauer: Welche Ansprüche auf Deutung stellt digitale Literatur? Diese Fragen werden anhand von Beispielen aus der digitalen Literatur behandelt. Beispielweise wird dieser Beitrag sich auf Werke wie Alphabetical Africa von Walter Abish oder auf Klötgens Kriminalroman Spätwinterhitze sowie auf Gedichtgeneratoren wie Poetron beziehen. Hier gilt es in Anlehnung an Peter Gendolla zu zeigen, dass diese Literatur nicht nur über den Sinn ihrer Sätze, sondern vor allem auch über das Verfahren ihrer Produktion reflektiert. Das literarische Potenzial realisiert sich dann, wenn sowohl die Texte als auch die Prozesse ihrer Verarbeitung durch digitale Medien erfahrbar werden.


Hiebler, Heinz:
Zur Medienkulturgeschichte des Digitalen und zu einer aktuellen Spielart des Erzählens im digitalen Zeitalter

Aus dem Blickwinkel der Medienkulturgeschichte lassen sich die Anfänge der Digitalisierung (von lat. »digitus«, Finger) bis auf die Ursprünge der Sprach- und Schrift-Entwicklung zurückverfolgen. Die Literatur als Buchstabenkunst operiert demnach immer schon mit einem mehrwertigen digitalen Code. Im Zeitalter dieser primären (alphanumerischen) Digitalität ist das Verhältnis von sinnlicher Erfahrung (Aisthesis) und buchstäblicher Beschreibung (Diskurs) von den Spannungen zwischen analoger Alltagserfahrung und deren (schrift)sprachlicher Verarbeitung geprägt, wie es am eindrücklichsten in Kants transzendentaler Ästhetik (als Verknüpfung von Anschauung und Begriff) oder dem zauberhaften Vermögen der Einbildungskraft (als Grundlage der Digital-analog-Wandlung von Buchstaben in Bilder und Sounds) zum Ausdruck kommt. Im Kontext der sekundären (computerbasierten binären) Digitalität verändern sich durch die universelle binäre Codierung von Schrift, Bild und Ton nicht nur die medienkulturhistorischen Rahmenbedingungen der Verhältnisse von Aisthetischem und Diskursivem, Analogem und Digitalem. Der primär-digitale Geltungsbereich der Literatur wird durch neue digitale Produktions- und Rezeptionsmöglichkeiten (sowohl im Print- als auch im E-Book-Bereich) auf ein neues Level gehoben. Wie sich Muster einer sekundären Digitalität in die Darstellungsformen, Wirklichkeitsmodelle und Narrative zeitgenössischer Literatur einschreiben, soll am aktuellen Beispiel von J.J. Abrams'/Doug Dorsts Roman S (2013) veranschaulicht werden.


Kreuzmair, Elias & Pflock, Magdalena:
What’s happening? Zeitkonzepte in Digitalisierungsdiskurs und Gegenwartsliteratur

Seit Mitte der 2000er Jahre erscheinen im Umfeld der Kultur- und Medienwissenschaften auffallend viele Texte, die Veränderungen in der Auffassung von Zeit konstatieren und diese Verschiebung kausal mit dem Phänomen ‚Digitalisierung‘ in Verbindung bringen. Im Modus einer Zeit- bzw. Gegenwartsdiagnostik, die sich als hybride Wissensform zwischen fachwissenschaftlichen und allgemeinen Diskursen bewegt, wird dabei Gegenwart als dominante Zeitform und dominantes ‚Thema’ ins Zentrum gerückt. Schon eine knappe Auflistung der relevanten Schlagworte zeigt, dass die zum Teil deutlich divergierenden Ansätze gleichwohl einen Zusammenhang bilden, der bislang nicht untersucht worden ist: „breite Gegenwart“ (Gumbrecht 2010), „infinite digital now“ (Gibson 2013), „present shock“ (Rushkoff 2014), „extreme present“ (Basar/Coupland/Obrist 2015), „postcontemporary“ (Avanessian 2016), „Gegenwartsvernichtung“ (Simanowski 2016), „transitory present“ (Groys 2016), „permanente Gegenwart“ (Stalder 2016), „absolute Gegenwart“ (Quent 2016), „endlose Gegenwart“ (Springerin 2016). Auffallend ist, dass diese Texte zwar selbst häufig mit literarischen Verfahren arbeiten, die als solche zu untersuchen sind, das Feld der Gegenwartsliteratur für ihre Zeitdiagnosen aber weitgehend ausblenden und Beispiele eher aus dem Bereich audiovisueller Medien oder anderer Formen der Netzkommunikation wählen. Die Ausblendung von Gegenwartsliteratur aus dem Diskurs der Zeitdiagnostik ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Ausgeblendet werden nicht nur das zeitdiagnostische Potenzial der Gegenwartsliteratur, sondern auch die vielfältigen Formen der Zeitreflexion, der Problematisierung der Zeitwahrnehmung und die Arbeit am Begriff der Gegenwart, die auch und gerade auf der Ebene literarischer Verfahren zu beobachten sind. Ob Facebook, Twitter oder Instagram Publikationsort, Thema oder Strukturelement von Texten sind, sie verändern die Art und Weise, wie ein Text gemacht, wie und was erzählt – und wie Gegenwart gedacht wird. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Kopplung von digitalen sozialen Medien und neuen Gegenwartsbegriffen in zeitdiagnostischen Texten der letzten Jahre. Der Vortrag skizziert vor diesem Hintergrund zum einen einige Element des zeitdiagnostischen Gegenwartsdiskurses und nimmt zum anderen literarische Texte in den Blick, die mit Schreibweisen aus Social Media experimentieren, etwa von Sibylle Berg, Sarah Berger oder Berit Glanz.              


Liedel, Felix:
Haben die Maschinen gewonnen?  Narrative virtueller Realitäten zwischen Weltersetzung und Wunderland

Ziel dieses Vortrags ist es, Variationen in der medialen Erzählung über virtuelle Realitäten herauszuarbeiten. Dies kann als ein Indikator dafür verstanden werden, wie Medien, insbesondere unter dem Eindruck zunehmender Digitalisierung, über mediale Wirklichkeiten nachdenken.         
Virtuelle Realitäten gehören zu den großen Mythen der Mediengeschichte: Schon lange bevor ihre technische Realisierbarkeit auch nur in Reichweite war, gab es – literarische, künstlerische und philosophische – Ideen der kompletten Vertauschbarkeit von scheinbar „realer“ und „virtueller“ Wirklichkeit mit dem Ziel einer „vollständigen Immersion“ (Bittarello 2008).

Selbst bei einem enger gefassten Begriff der technologisch erzeugten Weltersetzung ist die Idee virtueller Realität schon fast 100 Jahre alt. Die Kurzgeschichte „Pygmalion's Spectales“ von Stanley G. Weinbaum (Weinbaum 1935) beschreibt erstmals das vollständige Eintauchen in eine technologisch-medial generierte Wirklichkeit, die von der Realität nicht mehr unterscheidbar ist. Bis in das dritte Jahrtausend wurde dieses Motiv in verschiedenen medialen Texten weiter verarbeitet – besonders populär in der „Matrix“-Trilogie der Wachowski-Geschwister (USA 1999).          
In diesem Narrativ steht hinter der Idee der virtuellen Realität immer ein erkenntnistheoretischer Gedanke, der sich an Platon's Höhlengleichnis anlehnt: „Woran erkennen wir eigentlich, dass wir uns in der Realität und nicht in einer Traumwelt befinden?“ 
In den 80er Jahren kommt es daneben zu einer eher an medial-rezeptionsorientieren Praktiken orientierten Variation dieses Motivs: Die virtuelle Realität „Cyberspace“ aus William Gibson's „Neuromancer“ (Gibson 1984) wird in der Folge als quasi-Synonym für das Internet benutzt. In der Fiktion wird die VR zeitgleich zunehmend als parallel existente mediale Welt begriffen, die nach Belieben betreten oder wieder verlassen werden kann. Dies findet sich in „Star Trek: The Next Generation“ (USA 1987 – 1994) mit dem Holodeck (Schröter 2018) und jüngst radikalisiert in Ernest Cliens Roman „Ready Player One“ (Cline 2011, verfilmt von Steven Spielberg 2018) wieder.     
In diesem gibt es für die Menschen kaum noch einen Grund, mehr als notwendig Zeit in der nicht-virtuellen Realität zu verbringen. Während „The Matrix“ die Erkenntnis der Realität (sei sie noch so furchtbar) als ultimatives Ziel stilisiert, haben in „Ready Player One“ die Maschinen gewonnen: Im Wissen, dass die virtuelle Welt der realen Welt überlegen ist, begeben sich die Menschen freiwillig in die Abhängigkeit der medial vermittelten Scheinwelt, die sich im Kern kaum noch auf die Realität bezieht, sondern nur noch auf andere mediale Zeichensysteme (Vgl. Baudrillard 1981).


Missomelius, Petra:
Die Datenbank-Erzählung als eine Form digitaler Narration

Medienumbrüche implizieren kulturelle Transformationen, welche ebenso Formen des Erzählens affizieren. Kulturelle Strukturen, Formate, Standards, Interaktions‐ und Kommunikationsformen werden in der Nutzung des neuen Mediums einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess unterzogen.

Das auditive, visuelle, audiovisuell „vermischte“ Mashup als paradigmatische Form digitaler Medienkultur bezeichnet „etwas Vermischen“, „Unterschiedliches miteinander verbinden“, indem heterogene Elemente etwas (scheinbar) Neues hervorbringen. Die Datenbank-Erzählung (Manovich 2001) verbindet disperse Materialien aus globalen Datenbankreservoirs, was weit über das hinaus geht, was vor dem Digitalen in der Medienwissenschaft mit dem Zapping der TV-Kultur diskutiert wurde.

Nun entwickeln sich anhand von Plattformen wie Instagram und Tiktok für Social Media bezeichnende Nutzungsdynamiken, deren narrative Struktur an Hashtags und Challenges ausgerichtet sind. Signifikant für die Datenbank-Erzählung, die in diesen Phänomenen zum Ausdruck kommt, erscheinen auf technologischer Ebene der Zugriffsaspekt sowie der generative Aspekt, welcher auf der parameter- und programmgesteuerten Verarbeitung basiert und im Spiel mit dem Binären kulminiert, ohne dass die dabei entstehenden datenkapitalistischen und überwachungstechnologischen Spuren zutage treten. Der Vortrag fokussiert die Dynamiken, welche für die gegenseitigen Bezugnahmen dieser Kurz-Erzählformen, aber auch für das Binäre kennzeichnend sind. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Stellenwert dieser medialen Formen angesichts verschiedener Interpretationen des Narrativs „Digitaler Wandel“.


Nohr, Rolf N.:
„Eine sich selbst verformenden Gußform“. Arbeit und die Herausbildung einer Rationalität spielerischen Handelns

Eine „große Erzählung“ der Moderne ist die Arbeit. Sie formt und stratifiziert das Subjekt und die Gesellschaft, ermöglicht Sinnstiftung und evoziert eigene Rationalitäten. Mit dem Fortschreiten von Moderne und Medien entkörperlicht sich Arbeit latent und wird Teil der Sphäre des Symbolischen. Im Zeichenhaften aber amalgamiert die Dimension der Arbeit mit der Kulturtechnik des Spiels. Das Ergebnis ist eine Art der Hybridisierung, die sowohl Spiel wie Arbeit transformiert. Im Ergebnis dieser kulturellen Transformation entsteht eine „Rationalität spielerischen Handelns“ die sich ihrerseits zu einer „großen Erzählung“ auszuwachsen scheint: mit gamification, playbor, serious gaming, operations research oder mathematischer Spieltheorien können Schlagwörter benannt werden, an denen entlang dieser Verschiebung skizziert werden kann.


Othold, Tim:
Der Massen neue Kleider – Geschichten über subjektlose Menschenmengen und ihre digitale Zähmung

Demokratie ist ein Massenphänomen – so ließe sich nicht nur gegenwärtig die Hoffnung protestierender Bürger- und Arbeitermassen und zugleich die Befürchtung mancher ihnen gegenüberstehender Eliten auf den Punkt bringen. Und doch: Nur wenige Jahre vor Massenprotesten in Hong Kong, in Seoul, vor der Occupy-Bewegung, dem Arabischen Frühling und vor Lügen und ‚alternativen Fakten‘ über die Besuchermengen bei Amtseinführungen von US-Präsidenten, wurde das angebliche Ende ebensolcher Massen betrauert. Die unübersichtlich gedrängten Körper und schiere physische und soziale Massierung von modernen Arbeiterbewegungen und Protestmärschen des 19. und 20. Jahrhunderts sei asynchronen und solipsistischen Formen von Partizipation gewichen und von medial aufbereiteten, inszenierten Massen ersetzt, beklagen etwa Jeffrey Schnapp und Matthew Tiews in einem Buch über Crowds (2006). Mit einer gewissen Nostalgie schließen sie die historische Klammer, die Gustave Le Bon, ‚Vater‘ der Massenpsychologie, mehr als ein Jahrhundert vorher öffnete, als er das damals kommende Zeitalter zum „Zeitalter der Massen“ erklärte.

Während die zweifelsohne weder inszenierten noch solipsistischen Massenbewegungen der letzten Jahre der Diagnose von Schapp und Tiews das Gegenteil beweisen, bleibt ihr Eindruck des Endes eines Zeitalters kein Einzelfall. Auch andere Autoren kommentieren das Ende zumindest bestimmter Formen von Massenbewegungen. Verantwortlich für den vermeintlichen Bruch zwischen alten und neuen Massen – zwischen „den ‚dummen Massen‘ der Moderne“ und „den ‚intelligenten Schwärmen‘ des digitalen Zeitalters“ – werden neue Medientechnik und -praxis gemacht. Die Digitalisierung erlaube, die ‚Madness of Crowds‘ in eine ‚Wisdom of Crowds‘ zu verwandeln. Mein Paper soll nachzeichnen, wie die Massen durch ihre Digitalisierung angeblich von einer negativen zu einer positiven Größe verkehrt werden, wie das Narrativ von Massen dabei weiter- und auch umgeschrieben wird und welche Logiken (z.B. der Ansteckung und Dichte) dabei in den Vorstellungen digitaler Medien wirksam werden.


Sahner, Simon:
An allen Orten zugleich: Glokales Erleben und Digitalisierung in der Literatur

In dem 2005 erschienen Essay The Rise of Glocality. New Senses of Place and Identity in the Global Village beschreibt der Mediensoziologie Joshua Meyrowitz unsere Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umgebung im digitalen Zeitalter als glokal. Obwohl wir grundsätzlich physisch an einen Ort gebunden seien, würden wir uns selbst so sehr wie noch nie zuvor als eingebunden in ein Netz aus Informationen und Kulturen erfahren, die räumlich weit von uns entfernt stattfinden. Mit Hilfe von digitaler Kommunikation und Wissensvermittlung sei auf unsere lokale Erfahrung eine „interconnected global matrix“ gelegt worden.

Diese Art uns selbst nicht mehr nur in Verbindung mit dem wahrzunehmen, was uns direkt umgibt, sondern auch mit Menschen und Orten, die physisch abwesend sind, nimmt konstant zu. Das hat direkte Auswirkungen darauf, wie wir erzählen. Berit Glanz’ Roman Pixeltänzer (2019) nutzt die Allverfügbarkeit von Informationen und Kommunikation, die Handlung spielt sich lokal in der direkten Umgebung der Erzählerin statt, gleichzeitig erstreckt sie sich bis in die USA und die Tiefen des Internets. Juan S. Guses Miami Punk (2019) hingegen erweitert die Räume der Fiktion um die virtuellen Welten des Taktik-Shooter-Spiels Counter Strike und zeigt damit, dass selbst das glokale Erleben, das Meyrowitz beschreibt, nicht vor virtuellen Welten halt macht. Der Vortrag plant an diesen und/oder vergleichbaren Beispielen aufzuzeigen, wie sich unser digitaler Alltag in nicht lediglich inhaltlich und thematisch, sondern auch strukturell in Erzählungen zeigt.

 


 Strobel, Jochen:
Agency im Zeitalter der Digitalisierung?

„Ich digitalisier(t)e“ bezeichnet nicht mehr als eine schlecht bezahlte handwerkliche Tätigkeit, „er war ein Digitalisierer“ verweist mehr auf eine Einstellung denn auf Handeln. Die Digitalisierung stellt sich als Prozess oder als epochales Makro-Ereignis dar, das einen (individuellen) Akteur nicht kennt. Ist im Narrativ der Digitalisierung eigentlich Agency vorgesehen? Werden Figuren entworfen, die mehr als nur entindividualisierte Schnittstelle eines Geschehens sind, die wenigstens Spuren von Willensfreiheit, eines voranzutreibenden Anliegens und einer persönlichen Entwicklung aufweisen (und damit als mentale Modelle des Lesers Wiedererkennungseffekte zu erzeugen vermögen)? Oft muss als Kollektivsubjekt des Geschehens entweder die Digitalisierung selbst herhalten oder es sind personifizierte, anthropomorphisierte (und damit dämonisierte) Algorithmen, die ‚handeln‘ und etwas bewirken, namentlich Kontrolle des einmal mehr entmachteten Subjekts.

Mindestens drei Fortschreibungstypen einer Funktionalisierung des Akteurs in den Narrativen von der Digitalisierung sind gegenwärtig erkennbar: Erstens eine z. B. von systemtheoretischem Determinismus angetriebene Marginalisierung des Akteurs schlechthin zugunsten einer Dichotomie zwischen dem Leben als bloßer ‚Benutzeroberfläche‘ und den deren Parameter beobachtenden, im Hintergrund arbeitenden Maschinen, die bei Armin Nassehi in eine kuriose Identifikation von Digitalisierung und soziologischer Beobachtung der Gesellschaft mündet; (Vgl. Nasehi 2019) zweitens die schlichte Umstellung gängiger Rollen von Aktivität auf Passivität, z. B. Michael Betancourts vermeintliche Aufwertung von Autorschaft in seiner Kritik des digitalen Kapitalismus;(Vgl. Bentancourt  2018) drittens (und allein in diesen Szenarien finden sich Konzepte von Agency) eine geschichtsphilosophisch bis chiliastisch interessierte Zukunftserzählung mit einer Verzweigung zwischen Dystopie und Utopie, gewendet als Aufforderung, eine Entscheidung zu treffen zwischen passivem Verharren und einem Aktivismus von Weltrettungsausmaßen. (Vgl. Simanowski  2018)

 

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