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Elfriede Pöder schreibt in der fraz zur
Geschichte der Frauenliteratur

 

Unerhört

Unerhört meint sowohl empörend und irritierend als auch trotz gegebener Dringlichkeit oder gar Not nicht wahrgenommen, nicht erhört werden. Mit diesen beiden Bedeutungen spielt das Gedicht "Unerhört" von Annette von Droste-Hülshoff, einer Schriftstellerin der ersten Hälfte des 19. Jahhunderts. Dieses Gedicht hatte sie für die Publikation ihres ersten Gedichtbandes von 1838 vorgesehen, wo es aber - aus welchen Gründen auch immer - dann schlußendlich doch nicht aufscheint. Das Nicht-Erhörte, das den Hörenden so empört, ist in diesem Gedicht "Eine Mutter [...] die weint ihr einzig Söhnlein!" Versteht man den Titel dieses Beitrages als Frage "Wie verlief die Geschichte der Frauenliteratur?", dann lautet die "unerhörte" Antwort: Eine solche Geschichte wird erst seit der neuen Frauenbewegung tatsächlich geschrieben. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, führten Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert auch im Bereich der Literatur im wesentlichen eine "Schattenexistenz", die nicht zuletzt Ergebnis der gesetzlich festgelegten Unmündigkeit der Frau ist. Ihr Unmündigkeitsstatus kann bis auf viele Jahrhunderte zurück verfolgt werden und meint den Zugang zu Kapital ebenso wie den Zugang zu Bildung und Arbeit oder zu politischer Partizipation, der Frauen in den deutschprachigen Ländern Europas bis weit herauf ins 20. Jahrhundert verweigert worden ist.

Umso erstaunlicher ist es gerade deshalb, daß Frauen dennoch und nicht erst seit der Aufklärung auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen das literarische Leben mitgestalteten, etwa als Mäzeninnen oder Saloniers, als Rezensentinnen und Herausgeberinnen oder als Lektorinnen. Und selbstverständlich als Schriftstellerinnen im engeren Sinne. Diese vielfältige Mitgestaltung des literarischen Lebens und das keinesfalls nur auf Prosa eingeschränkte literarische Schaffen ist in Publikationen, die im Zuge der neuen Frauenbewegung entstanden sind, gut dokumentiert, also nicht mehr unerhört. Genannt seien hier nur blitzlichtartig die zwei Bände umfassende Literaturgeschichte "Deutsche Literatur von Frauen", herausgegeben von Gisela Brinker-Gabler, die 1988 erschien oder die von Renate Möhrmann gemeinsam mit Hiltrud Gnüg herausgegebene "Frauen Literatur Geschichte", die 1989 erschien und schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegegenwart dokumentiert. Sigrid Weigel hat mit "Die Stimme der Medusa", erschienen 1987, die Schreibweisen deutschsprachiger Gegenwartsautorinnen dokumentiert. 1998 ist die von den österreichischen Literaturwissenschaftlerinnen Christa Gürtler und Sidgrid Schmid-Bortenschlager gemeinsam herausgegebene Textsammlung "Eigensinn und Widerstand. Schrifstellerinnen der Habsburgmonarchie" erschienen; sie führen die Pionierarbeiten zu österreichischen Autorinnen in Publikationen der frühen 80er Jahre weiter. Die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Madelaine Marti ist in ihrer 1991 erschienenen Publikation "Hinterlegte Botschaften" der Darstellung lesbischer Frauengestalten seit dem 2. Weltkrieg nachgegangen.

Daß wir heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, zumindest potentiell so viel mehr über Frauen und Literatur als noch vor wenigen Jahrzehnten wissen, ist ein Resultat der feministisch orientierten Befragung der Geschichte, die mit der neuen Frauenbewegung einsetzt.

Mit der neuen Frauenbewegung und der Öffnung der Universitäten im Anschluß an die 68er Studentenbewegung einher geht auch die Herausbildung einer potentiell neuen Leserinnenschicht, an die sich Gegenwarts-Autorinnen mit ihren Texten wenden können. Das trifft beispielsweise auf die Texte der bekannten österreichischen Autorin Elfriede Jelinek zu, aber auch auf die Texte der aus der ehemaligen DDR stammenden Autorin Anne Duden. Beide Autorinnen entfalten immer wieder das Thema Macht, Gewalt, Sexualität, Körper, Natur und Ausbeutung und deren komplexe Zusammenhänge literarisch. Damit nehmen sie gleichzeitig auf theoretische Diskussionen, wie sie seit den 70er Jahren geführt werden, bezug und führen diese literarisch weiter. Die Schweizer Autorin Erica Pedretti antwortet mit ihrem Roman "Valerie oder das unerzogene Auge" auf die innerhalb der feministischen Literaturwissenschaft geführte Theoriediskussion über die Funktion der Frau und des Weiblichen für den Künstler, während wiederum die aus der ehemaligen DDR stammende Autorin Birgit Vanderbeke auf ironisch witzige Art die Frage des Kinderkriegens und -erziehens in ihrer Erzählung "Gut genug" in die Literatur einführt. Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz thematisiert die Lebensweise und Situation der alleinerziehenden Frau in ihrem Roman "Verführungen" und antwortet damit nicht zuletzt auf eine gesellschaftliche Entwicklung, in der die Frage der Neuformulierung des Geschlechter- und Generationenvertrags ansteht.

 

Fessellos und frei
Daß es Schriftstellerinnen gibt, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Daß sie kritisch und satirisch schreiben, Sprachreflexion in ihren Texten betreiben, die Geschichte neu erinnern und sich sowohl im science fiction Bereich als auch im Bereich der dective story mehr als souverän zu bewegen wissen, ist ebenso selbstverständlich.Was aber schrieben Frauen vor der unmittelbaren Gegenwart? Antworten ihre weiter zurückliegenden Texte kritisch auf historisch-politische Bedingungen oder bejahen sie diese? Gelingt es Schriftstellerinnen früherer Zeiten auch subversiv zu sein, vielleicht sogar ein Wollen, ein

Mehr, eine Sehnsucht gegenüber bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse zu gestalten, die in ihrer Unermeßlichkeit atemberaubend sind?
"O! ich möchte wie ein Vogel fliehen/Mit den hellen Wimpeln möchte ich ziehen/Weit, o weit wo noch kein Fußtritt schallte/Keines Menschen Stimme widerhallte/Noch kein Schiff durchschnitt die flüchtige Bahn" heißt es in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel "Unruhe" von Annette von Droste-Hülshoff. Annette von Droste Hülshoff wurde 1797 geboren und starb 1848. Sie lebte in einer Zeit, deren restriktiv restaurative (Geschlechter-) Politik hinlänglich bekannt ist. Das nicht zur Publikation freigegebene, sich im Nachlaß befindende Gedicht "Unruhe" entstand 1816, im Alter von 19 Jahren. Die letzte Strophe des Gedichts wird mit dem Vers eröffnet: "Fesseln will man uns am eignen Heerde!"

Jahre später schreibt Annette von Droste-Hülshoff das Gedicht "Der Abschied", das ihrer langjährigen Freundin Amalie Hassenpflug, die wiederum eine Zuarbeiterin der Gebrüder Grimm war, gewidmet ist. In diesem Gedicht beklagt sich das lyrische Ich über die "gefesselte" Situation der alleinstehenden Frau und auch hier wieder mit Rekurs auf den "Herd": "Von keines Herdes Pflicht gebunden/Meint Jeder nur, wir seien, grad/Für sein Bedürfnis nur erfunden,/Das hülfsbereite fünfte Rad./Was hilft es uns, daß frei wir stehen,/auf keines Menschen Hände sehen?/Man zeichnet dennoch uns den Pfad./

Daß zwischen diesem Gedicht, das 1845 entstand, und jenem aus dem Jahr 1816 sich ganz offensichtlich eine Veränderung vollzogen hat, liegt nicht nur daran, daß Annette von Droste-Hülshoff nicht geheiratet hat - also in diesem Sinne die Rede von einem Gefesselt-Werden am eignen Herde persönlich nicht mehr relevant sein konnte. Der autobiographische Hintergrund für dieses Gedicht ist die tatsächliche Trennung, die den beiden Freundinnen bevorstand, da sie sich um kranke Verwandte kümmern mußten. Die Fesseln, von denen hier gesprochen wird, sind jene des unbegrenzten Verfügens über die alleinstehende Frau, eine Lebensform, die potentielle Ungebundenheit verspricht, nicht zuletzt deshalb, weil sie Freiheit von ehelichen und mütterlichen Pflichten bedeutet. Das Gedicht "Der Abschied" wurde von Levin Schücking, der in der Literaturgeschichte als der Mentor Droste-Hülshoffs schlechthin gilt, umbenannt in "Auch ein Beruf". Unter diesem Titel wird es nach wie vor in unterschiedlichen Ausgaben angeführt. Daß dieser Titel einige Interpretinnen dazu verführt hat, von einem zwar kritisch ansetzenden, letztlich aber versöhnlichen Gedicht zu sprechen, muß nicht verwundern. Unerhört bleiben damit die innige Verbundenheit des weiblichen Ichs und des weiblichen Dus in diesem Gedicht und die mit der Trennung einhergehende Empörung, Wut und Trauer sowie der Versuch der tröstenden - im Unterschied zur versöhnenden - Geste des lyrischen Ichs. Beides, die Wut, Empörung und Trauer geteilter weiblicher Erfahrungen und das Atemberaubende einer Sehnsucht, die "kein Gedanke mehr an Maaß und Räume" kennt, wie es im Gedicht "Unruhe" heißt, sind Botschaften, deren Wa(h)r-Nehmen ein - wie es bei Annette von Droste-Hülshoff heißt - "Ziel, gesteckt für unsre Träume", "fessellos und frei" meint.

 

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