PREV UP NEXT



1.1 Die empirisch-kritisch orientierte Anthropologie René Girards(1)

Das Studium von Texten, in denen sich die Erfahrungen und Beobachtungen bedeutender Literaten über die Koexistenz von Menschen niederschlugen, führte den Literaturwissenschaftler René Girard zur Einsicht, daß jeder Mensch zutiefst »mimetisch« oder durch »Mimesis« geprägt ist, das heißt durch ein Zusammenspiel von Nachahmung und Begierde, die sich wechselseitig bedingen: Sein fundamentales Begehren ist nämlich weder einfach durch Naturanlagen (Triebe) festgelegt, noch entspringt es der souveränen Wahl seines freien Willens; es ist aber auch nicht einfach vom objektiven Wert der angestrebten Gegenstände bestimmt, sondern orientiert sich spontan an den Äußerungen des Begehrens anderer Menschen. Objekte der Begierde ­ ob es sich nun um materielle Gegenstände, um ideelle Güter wie Ehre und Ansehen oder um Menschen handelt, deren Anerkennung man bekommen möchte ­ gewinnen ihre Attraktivität vor allem durch das Interesse, welches sie bei anderen Menschen auslösen.

Durch diesen Zusammenhang besteht die ständige Gefahr, daß sich die Glieder einer Gemeinschaft in einem Prozeß wechselseitig verstärkter Nachahmung auf dieselben Objekte der Begierde fixieren und dadurch in Rivalität zueinander geraten. Wo Menschen in einer gegenseitigen Nachahmung ihrer Begierden sich gegeneinander polarisieren, erwächst die verhängnisvolle Erfahrung, daß sie dem gesuchten und doch ungekannten Ziel ihrer Sehnsucht gerade dann am nächsten kommen, wenn sie auf den Widerstand von Rivalen stoßen. Das Ziel der Begierde fällt so zusammen mit der Überwindung oder Beseitigung von Gegnern.

Was bis jetzt als Interaktionsgeschehen zwischen einzelnen Personen beschrieben wurde, spielt sich in einer einigermaßen geschlossenen Gesellschaft auf verhängnisvolle Weise zwischen all ihren Gliedern ab. Die rivalisierende Fixierung auf einen Gegner wirkt auf andere mindestens genauso attraktiv wie die begehrende Ausrichtung auf irgendein primäres Objekt der Begierde. Die Unfrieden schaffende Rivalität hat so die Tendenz, sich auf den gesamten Gesellschaftsverband auszubreiten und diesen zu gefährden.

In modernen Gesellschaften werden diese Bedrohungen im allgemeinen durch ein funktionierendes Exekutiv- und Gerichtssystem in Grenzen gehalten. Wenn man beobachtet, welch zerstörerische Gewaltexzesse dort auftreten, wo diese regulativen Strukturen versagen, erhebt sich die Frage, wie primitive, vorstaatliche Gesellschaften ohne zentrales Gerichtssystem mit dieser Bedrohung zurechtkamen. Hier bieten Girards Annahmen von Sündenbockmechanismus und Gründungsmord ein genetisches Erklärungsmodell: Im sozialen Verband führt die gärende Gewalttätigkeit zu kleineren und größeren begrenzten Gewaltausbrüchen; eine eindrucksvolle Attacke reizt zur spontanen mimetischen Nachahmung, und so kann sich gegen ein nachhaltig getroffenes Opfer eine zunehmend größer und damit attraktiver werdende Masse sammeln. Wo der gesamte Gesellschaftsverband von einer solchen Polarisierung erfaßt wird und sein Opfer gemeinsam ausstößt, schlägt der allgemeine Unfriede in eine neue Einigkeit der Gesellschaft gegen dieses Opfer um.

Für ein richtiges Verständnis dieses Sündenbockmechanismus muß die Außenperspektive, in der das Geschehen hier beschrieben wurde, von der Sicht der Beteiligten unterschieden werden. Für diese erscheint die Aggression gegen das Opfer als wohlbegründet, und dies in umso höherem Maße, als alle anderen in die Ablehnung einstimmen. Gleichzeitig führt dieser Akt einhelliger Verdammung zu einer neuen Einmütigkeit. Ist das Opfer ausgestoßen, erscheint es so zugleich als Ausbund aller Bosheit und als Ursprungsort eines neuen Friedens.

In diesem unter höchstem Druck geschehenden und zu äußerster Raserei sich steigernden Geschehen sieht Girard den Grund, daß Opfer sakralisiert werden, indem sie als nicht-mehr-menschliche Größen in die kollektive Erinnerung des Gesellschaftsverbandes eingehen, als zugleich fluch- und segensbringende Gottheit, oder ­ wie Rudolf Otto das Heilige charakterisierte ­ als zugleich furchterregendes und faszinierendes Geheimnis.

Indem er diesen Grundansatz konsequent weiterverfolgt, rekonstruiert Girard, wie sich um dieses gewalttätige Kerngeschehen Riten und Mythen bilden konnten. Er bietet damit für eine Reihe von paradox anmutenden Phänomenen der Ethnologie ein einheitliches Erklärungsmodell. Girard beschränkt sein Modell aber nicht auf den Bereich der Ethnologie. Auf derselben Grundlage entwickelt er weitere Deutungshypothesen zum Ursprung der Menschheit und ihrer Kulturen und Institutionen, vom Anlaßereignis für die Sprachwerdung bei der Hominisation bis zur Entstehung von Zentralgewalten im sakralen Königtum. Die weitreichende Erklärungskraft dieser Theorie für wichtige Elemente am Ursprung menschlicher Zivilisation legt zudem die Annahme nahe, daß auch die komplexeren Strukturen höherer Kulturen von friedenserhaltenden und -wiederherstellenden Mechanismen verschleierter Gewalt geprägt sind.

Girards Theorie sieht den Menschen also von Anfang an als gemeinschaftliche und gesellschaftliche Existenz, die damit zutiefst in gewaltsame Strukturen hineinverwoben ist. Seine Anthropologie ist von einer fundamentalen Skepsis gegen eine ursprüngliche Autonomie des menschlichen Subjekts geprägt. Daß der Mensch seine Ziele in souveräner Weise kennt und bestimmt, gilt ihr als eine Illusion, deren Annahme und Vorspiegelung die Menschen nur noch weiter in die Fänge mimetischer Abhängigkeiten treibt.

PREV UP NEXT

Nach oben scrollen