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1.2 Die transzendentaltheologische Anthropologie Karl Rahners als Herausforderung für die Theorie René Girards

Rahner anerkennt zunächst die vielfältigen Abhängigkeiten, in welche die menschliche Existenz verstrickt ist,(2) als Gegenstand regionaler Anthropologien, die nicht ohne Recht versuchen, den Menschen von diesen Bedingtheiten her möglichst umfassend zu erklären. Aber gerade in der Erfahrung seiner Abhängigkeit realisiert der Mensch nach Rahner ein reflexives Selbstverhältnis, das auf eine tieferliegende Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegenüber den ihn bestimmenden Strukturen hinweist. So erfährt er sich gerade in seinen Bedingtheiten als Person, das heißt als sich selbst besitzendes Subjekt in einem wissenden und freien Bezogensein auf das Ganze. Diese Subjekthaftigkeit des Menschen ist für Rahner untrennbar von seiner Transzendenz, d. h. seiner Ausrichtung auf das Ganze des Seins und auf Gott, welche er in jedem Akt von Erkenntnis und Freiheit realisiert. So gelangt Rahner zu einer sehr weitgehenden Annahme menschlicher Eigenständigkeit, die allerdings nur mißverständlich als Autonomie bezeichnet werden kann, da sie sich nicht selbst setzt, sondern durch die Gottesbeziehung des Menschen konstituiert ist. Wenn Rahner in seiner Theologie der Freiheit für den Menschen eine »totale Selbstverfügung des Subjekts auf Endgültigkeit hin«(3) annimmt, so müssen sowohl die Transzendentalität als auch die theologische Begründung dieser Aussage beachtet werden: die Freiheit ist eine menschliche Grundbestimmung, die faktisch sehr wohl verschüttet sein kann, aber angenommen werden muß, damit man den Menschen als verantwortlichen Ansprechpartner Gottes verstehen kann, damit also überhaupt Theologie möglich ist.(4)

Ist das oben skizzierte Menschenbild Girards mit Rahners transzendentaltheologischer Anthropologie vereinbar? Vordergründig scheinen sich Rahners Betonung subjektiver Freiheit und Girards Insistieren auf der mimetischen Fremdbestimmtheit des Menschen schärfstens zu widersprechen. Berücksichtigt man aber die transzendentale Eigenart von Rahners Anthropologie, dann bleibt die Möglichkeit offen, daß sich beide Entwürfe nicht direkt ausschließen, sondern in ihrer Gegensätzlichkeit unterschiedliche Ebenen des Menschlichen thematisieren. Von Rahner her kann die Theorie Girards zunächst als »regionale Anthropologie« akzeptiert werden. Die Tendenz Girards, von seinem Ansatz her eine universale Theorie des Menschen zu etablieren, muß sich aber Rahners transzendentaler Frage stellen, ­ nicht zur Preisgabe, sondern zur Präzisierung dieser Tendenz. Wenn der Mensch nicht nur in seinem Verhalten, sondern auch in seinem Selbstbewußtsein wesensmäßig durch die Begierde anderer Menschen fremdbestimmt ist, wie kann er dann diese Abhängigkeit erkennen oder gar überwinden?(5) Der Umstand, daß es Girards kritische Theorie überhaupt gibt, zeigt bereits, daß sich das menschliche Wesen in den interpersonalen und gesellschaftlichen mimetischen Abhängigkeiten nicht erschöpft. Daß diese Einsichten nach Girard nur durch den nicht-bloß-menschlichen Offenbarungsimpuls Jesu Christi ermöglicht wurden (wie im folgenden noch auszuführen sein wird), setzt dieses Argument nicht außer Kraft. Denn die Menschen mußten dann wenigstens in der Lage sein, diese Offenbarung zu verstehen, was wiederum nur durch deren wesensmäßige Transzendenz über die mimetischen Abhängigkeitsverhältnisse hinaus möglich ist.

Was ändert sich an der Anthropologie Girards, wenn man diese transzendentalen Argumente berücksichtigt? Zunächst muß Girards Theorie nicht revidiert werden, weil sie zwar eine umfassende Erklärungshypothese für unterschiedlichste Phänomene des Menschlichen geben will, aber keine Ontologie des Menschen zu bieten beansprucht.(6) Allerdings läßt ihre Tendenz zu einer umfassenden Deutung des Menschen eine Relativierung als »regionale Anthropologie« auch nicht einfach zu. So stellt sich die Frage, ob Girards Grundansatz, nach dem der Mensch zentral durch Begierde und Nachahmung geprägt ist, auch im Sinne einer transzendentalen Wesensbestimmung des Menschen begriffen und somit in eine Wesensanthropologie ausgeweitet werden kann.

Ein solcher Schritt ist mit der Annahme möglich, daß das fundamentale Begehren, welches dem Menschen Orientierung gibt, sich nicht zuerst in rivalisierender Weise an anderen Menschen orientiert, sondern ursprünglicher auf den unbegrenzten Gott ausgerichtet ist.(7)Der Mensch wird hiernach fundamental als Wesen der Gottessehnsucht beschrieben, ­ ähnlich, wie es schon Augustinus in seinem berühmten Gebet tat: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir«. Erst wo die Menschen sich auf sündige Weise von Gott ab- und den Dingen zuwenden, derart, daß diese Dinge nicht mehr in Transparenz auf Gott hin, sondern in Konkurrenz zu ihm verstanden werden, beginnen die Kreisläufe mimetischer Rivalität. Solange der Mensch sich begehrend an unbegrenzten Gegenständen orientiert (an Gott selbst oder an Menschen oder Gegenständen als auf Gott hin transparenten Symbolen), wirkt die Nachahmung dieser Begierde nicht entzweiend, sondern in einem wahren Sinn (d. h. ohne die Ausgrenzung von Opfern) friedenstiftend.

Eine solche Interpretation der Theorie Girards wird von Raymund Schwager vertreten.(8)Girard führt sie nicht aus, weil sein Interesse nicht primär philosophisch-theologisch ausgerichtet ist. Ganz im Sinne dieser Interpretation ist aber seine Annahme, daß die mimetische Begierde nicht ausschließlich rivalisierend und gewaltprovozierend wirken muß, sondern auch umgekehrt als »gute Mimesis« zu einer Selbstfindung und Gemeinschaftsbildung beitragen kann, die nicht durch den Ausschluß von Sündenböcken erkauft wird.(9)

Innerhalb dieses theologisch erweiterten Ansatzes kann Girards konfliktive mimetische Anthropologie als eine angemessene Beschreibung sündiger Existenz begriffen werden. Wo einzelne Menschen der exklusiven Begierde nach begrenzten Gegenständen (Götzen) verfallen, üben sie zugleich einen schwer widerstehlichen Sog der Ansteckung auf andere Menschen aus. So wird eine universale Verseuchung der Menschheit durch die konfliktive Mimesis und ihre von Girard beschriebenen gewaltsamen und gewaltverschleiernden Konsequenzen denkbar, ohne daß damit eine böse Naturveranlagung des Menschen angenommen werden muß. Eine solche Annahme der Universalität von Sünde, ohne daß solche Sünde zu einer notwendigen Naturanlage des Menschen erklärt wird (womit die Rede von Sünde sinnlos würde), ist aber die entscheidende, spannungsvolle Vorgabe für eine Theologie der Erbsünde. Es liegt von daher nahe, die Theorie Girards theologisch primär im Lichte einer Erbsündentheologie zu rezipieren.(10)

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