Erst hier, dann da. Von mobilen Büchern, geraubten Beständen und deutsch-sächsisch-österreichischen „Beziehungen“

Nadine Kulbe, Jana Kocourek

Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) ist eine der größten wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands. Sie geht auf eine 1556 gegründete kurfürstliche Bibliothek zurück, die seit Ende des 18. Jahrhunderts als öffentliche Bibliothek für größere Nutzer:innenkreise zugänglich wurde. Die seit 1917 als Sächsische Landesbibliothek firmierende Einrichtung erlitt im Zuge des Zweiten Weltkriegs große Bestandsverluste – was gleichermaßen für die Bibliothek der Technischen Hochschule/Universität Dresden gilt, der zweiten Gründungseinrichtung der heutigen SLUB. Nach der Wiedereröffnung beider Bibliotheken nach Kriegsende wurde der Bestandsausbau u.a. mit sog. herrenlosen Beständen vorangetrieben, wofür das Bibliothekssystem der DDR sogar eine eigene Einrichtung in Form der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände ins Leben rief. Auf diesem Wege wurden immer wieder auch solche Bücher verteilt, die nach heutigem Wissen als NS-Raubgut bewertet werden müssen.

Seit 2009 werden Bestände der SLUB im Rahmen von Drittmittelprojekten systematisch auf Zugänge aus verschiedenen Unrechtskontexten untersucht. Zunächst standen solche aus den sog. Schlossbergungen im Fokus, seit 2011 wird intensiv nach NS-Raubgut gesucht. Der Vortrag beleuchtet zunächst die Rahmenbedingungen der Suche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in Deutschland. Dies betrifft einerseits (nicht vorhandene) gesetzliche Regelungen, andererseits das System der Drittmittelförderung, die immer noch die meisten der aktuell durchgeführten Projekte zur Provenienzforschung ermöglicht. Nach einem kurzen Überblick über die Provenienzforschung an sächsischen – wissenschaftlichen und öffentlichen – Bibliotheken liegt der Fokus auf einem aktuell an der SLUB durchgeführten NS-Raubgut-Projekt, das erstmalig die Bestände der ehem. Universitätsbibliothek Dresden untersucht. Im laufenden Projekt kann nur ein Teil davon untersucht werden: nämlich ca. 80.000 Bände an den dezentralen Standorten der juristischen und medizinischen Zweigbibliotheken in Dresden sowie der forstwissenschaftlichen Zweigbibliothek in Tharandt, außerdem Bände der ehem. Zweigbibliotheken Physik, Chemie, Mathematik, Sport, Marxismus-Leninismus und Architektur. Neben der systematischen Überprüfung von seit 1933 akzessionierten Beständen und der Identifizierung von NS-verfolgungsbedingt belasteten Provenienzen sind für das Projekt auch bibliotheksgeschichtliche Kontexte der einzelnen Teilbibliotheken interessant. Denn auffällig sind Unterschiede in der Genese der Bestände und der darin gefundenen Provenienzen: In der erst nach 1990 gegründete Zweigbibliothek Rechtswissenschaften finden sich viele Aussonderungen aus westdeutschen Bibliotheken und von Gerichten, was auf eine Art Aufbauhilfe für ostdeutsche Bibliotheken schließen lässt. In der Zweigbibliothek Medizin wiederum finden sich viele Provenienzen, die auf bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Vorgängerinstitutionen des Universitätsklinikums schließen lassen. In der forstwissenschaftlichen Zweigbibliothek in Tharandt wiederum gibt es in größerem Umfang Bände, die ehem. Professoren als Geschenk übereignet haben.

Noch ein zweier Punkt ist in der Gesamtschau aller bisher an der SLUB durchgeführten NS-Raubgut-Projekte auffällig: die hohe Zahl identifizierter österreichischer Provenienzen. Dazu zählen z.B. Bibliotheken mehrerer Arbeiterkammern, Juristen wie Heinrich Klang und Walther Pollak, der Schriftsteller Raoul Fernand Jellinek-Mercedes sowie die Großloge von Wien. Zum Abschluss des Vortrags können am Beispiel österreichischer Provenienzen historische Erklärungen für die bisweilen hohe Mobilität geraubter Bücher präsentiert und auf die große Bedeutung von Transparenz und Zusammenarbeit bei der Provenienzforschung eingegangen werden.

 

Kurzbiografie

Nadine Kulbe | wiss. Mitarbeiterin bei NS-Raubgut-Projekten: 2012–2015 LBZ/PLB Speyer, seit 2017 SLUB Dresden; seit 2017 auch wiss. Mitarb. am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, zuletzt im Projekt „Bildsehen / Bildhandeln. Die Freiberger Fotofreunde als community of visual practice“.

Jana Kocourek | Leiterin der Abteilung Handschriften, Alte Drucke und Landeskunde der SLUB in Dresden

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