PANEL 5
Historische Konstruktionen des Selbst in privaten audio-/visuellen Dokumenten. Familienfilm, Amateurfilm und Home Video

Chair: Monika Bernold (Wien)

Donnerstag, 16. April 2020, 10:50–12:20, HS 2

Während sich der öffentliche Erinnerungsdiskurs, aber auch die zeithistorische Forschung an politischen Zäsuren orientiert, folgen private Erinnerungspraktiken einer anderen Logik. In Familienfilmen, Amateurfilmen und Home Videos stellen private Jubiläen, Geburtstage, Familienfeiern und Reisen die markanten Orientierungspunkte dar. Das Panel diskutiert zum einen, wie sich die politische Gegenwart in den audio-/visuellen Produktionen manifestiert und fragt danach, welche Relevanz sie für die Praxis des Aufnehmens ebenso wie für die spätere Rezeption hat. Zum anderen fokussiert es auf die Funktion privater Filme und Videos für die Konstruktion und Inszenierung des – immer auch historisch und räumlich verorteten – Selbst. Diesen Fragen wollen wir anhand der Analyse von Familienfilmen vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Verfolgung 1936–1943, von amateuristischen Reisefilmen aus dem sowjetischen Estland und von Geburtstagsvideos der 1980er- bis 2000er-Jahre nachgehen.

Soziale und ästhetische Praktiken der Selbstvergewisserung in Ellen Illichs Familienfilmen (1936–1943)

Michaela Scharf (Wien)

Aus einer jüdischen Familie stammend und durch die Ehe mit einem kroatischen Katholiken zunächst vor nationalsozialistischer Verfolgung geschützt, lebte Ellen Illich mit ihren drei Söhnen bis 1942 in Wien. Das Familienleben hielt sie auf 16mm-Film fest. Ellen Illichs private Filmpraxis kann nicht nur als eine spezifische Form der Erinnerungsproduktion verstanden werden, sondern auch als eine soziale und ästhetische Praxis der Selbstvergewisserung. Im Mittelpunkt der Filme steht neben den Festtagen der Kinder und dem glücklichen Familienleben in der Villa des Großvaters, die Selbstinszenierung als fürsorgende Mutter, aber auch als ambitionierte Filmamateurin. Der Anschluss 1938, durch den sich die Familie Illich inmitten einer Gesellschaft wiederfand, zu der sie nach nationalsozialistischer Lesart nicht länger gehören sollte, stellt innerhalb der Familienfilme keine maßgebliche Zäsur dar. In Anbetracht dessen rückt die Frage nach der Historisierung Ellen Illichs Filmpraxis sowie nach den soziokulturellen Funktionen in den Blick, die das Filmen sowohl vor als auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erfüllte.

Happily on the Road. Memory and Self in Soviet Estonian Home Movies and Amateur Films about Travelling

Liis Jõhvik (Tallinn)

Family day trips to the seaside or a zoo, visiting friends and relatives, taking a bus or a train with friends or colleagues to travel to another country or city: back in the Soviet era, many of the blissful holiday moments were captured with an 8-mm or 16-mm camera. Even though the practice of making home movies was affordable only to the privileged few, there are substantial collections of private films in Estonia. Much of the footage depicts travelling or being on the road. The camera recorded the present for future reminiscence – to reconstruct the past’s (happy) experience of the self and others. The films not only depict what was seen on the road, but also bring the imaginaries of the travellers to the surface. They also offer the viewer an ‘outside-in’ glimpse into themselves, providing proximity with the visited place and with the past. In my talk, I explore how the self is documented in Soviet Estonian home movies and amateur films. How is Soviet Estonia depicted in contrast to other places inside and outside of the Soviet Union? How does the ‘amateur’ eye reconstruct the sense of self and space? Ultimately, I am interested in how the home movie becomes a memory practice and how travelling is remembered in the films.

Sich selbst er/zählen. Geburtstagsvideos als auto/biografische Praxis

Renée Winter (Wien)

Geburtstage stellen im späten 20. Jahrhundert einen zentralen Bezugspunkt der Subjektkonstituierung, ihre Feiern eine ritualisierte Praxis der Inszenierung des Selbst dar. Geburtstagsfeiern bieten einen der zentralen Anlässe für das Filmen mit dem Camcorder von den 1980er- bis in die 2000er-Jahre. Insbesondere Jubiläen sind Gelegenheiten zur auto/biografischen Rückschau wie auch zur Produktion audio/visueller Medien, die einer zukünftigen Rückschau dienen sollen.

Anhand eines umfangreichen Home Video-Korpus der österreichischen Mediathek analysiere ich Geburtstagsvideos der 1980er- bis 2000er-Jahre im Hinblick auf ihre Medienspezifität und ihren historischen Kontext. Der Fokus liegt dabei auf der Frage nach den Funktionen der Videoaufnahmen zur Her- und Darstellung des – in historischen Machtkonstellationen verorteten – Selbst. Was setzen die Videos (nicht) ins Bild, wie wird nach dem Geburtstag weiter mit ihnen verfahren, welchen Stellenwert haben sie für eine (mediale) Erzählung des Selbst?

 

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