PANEL 17
Migrationserfahrungen zwischen Auswanderung und Rückkehr: Strategien, methodische Probleme und Potentiale der Forschung

Chair: Kerstin von Lingen (Wien), Kurzkommentar: Philipp Strobl (Hildesheim)

Freitag, 17. April 2020, 09:00–10:30, HS 2

Der Zweite Weltkrieg hatte europaweit eine Wanderungsbewegung in Gang gesetzt. Auf ihrem Vormarsch befreiten die Alliierten ZwangsarbeiterInnen und InsassInnen von Konzentrationslagern, die nach 1945 darauf warteten, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Dazu kamen Millionen von ZivilistInnen, die vor Kriegshandlungen geflüchtet waren. Internationale Organisationen wie die UNRRA und die IRO nahmen sich der sogenannten DPs (Displaced Persons) an, und versuchten, die Rückkehr oder die Neuansiedlung in einem Drittstaat zu organisieren. Hierbei lassen sich Phasen des „Resettlements“ erkennen: Stand 1945 noch die Heimkehr im Vordergrund, so änderten viele Opfer des NS ihre Meinung, als sie die verwüstete Heimat wiedersahen, erneuten Antisemitismus erleben mussten oder Gewissheit erhielten, dass keiner ihrer Familienangehörigen überlebt hatte; viele stellten daraufhin erst einen Antrag zur Ausreise nach Übersee.

Neben der organisierten Migration, Auswanderung und Rückführung der Opfer des NS-Regimes versuchten jedoch auch NutznießerInnen und FunktionärInnen des Regimes, sich im Ausland ein neues Leben aufzubauen und sich drohender Strafverfolgung zu entziehen; als der Verfolgungsdruck nachließ, kehrten viele ganz offen nach Deutschland oder Österreich zurück.

Bei allen Unterschieden der Motivationslage, folgen beide unterschiedlichen Gruppierungen dennoch erkennbaren Mustern in ihrer Resettlement-Strategie, die beleuchtet werden. Die zugänglichen Quellen (z. B. Massendaten internationaler Organisationen) werfen zudem ähnliche methodische Probleme auf, die dieses Panel ebenfalls diskutiert.

Motive des Heimkehrens und der Heimholung. Ungarische jüdische Überlebende im Spannungsfeld zwischen persönlicher Entscheidung und staatlicher Politik

Regina Fritz (Bern)

Nach der Befreiung der NS-Konzentrationslager standen die Überlebenden vor der Frage, ob sie heimkehren oder emigrieren sollten. Laut den Zahlen des Jüdischen Weltkongresses kehrten bis Dezember 1945 60.000 Juden in das ungarische Kernland zurück. Die größte Zahl der Deportierten wartete nicht auf die staatlich organisierte Heimholung, sondern machte sich auf eigene Faust auf den Weg in die Heimat.

An Hand schriftlicher Quellen der ungarischen Regierung und mündlicher Quellen von Überlebenden fragt der Vortrag nicht nur nach den persönlichen Motiven, die die Überlebenden zur Heimkehr bewogen, sondern nimmt auch die Politik, die hinter den ungarischen Repatriierungsbemühungen stand, in den Blick. Mit welchen Schwierigkeiten hatten die staatlichen und nicht-staatlichen Heimholungsmaßnahmen zu kämpfen? Wie wirkten sich die damaligen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen auf die Repatriierung aus? Und wie schätzten die Überlebenden diese Bemühungen retrospektiv ein?

Entwurzelt. Displaced Persons aus Wien auf dem Weg in eine neue Heimat

Richard Germann (Wien)

Millionen ihrer Heimat entwurzelter Menschen strandeten nach Kriegsende 1945 als so genannte Displaced Persons (DPs) in ganz Europa. Als Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft wurden sie aus ihrem ursprünglichen Heimatkontext herausgerissen und als Zwangsarbeiter oder KZ-Insassen in die deutsche Kriegswirtschafts- und rassische Vernichtungsmaschinerie hineingepresst. Für die Überlebenden stellte sich nach der Befreiung die Frage, ob sie in ihre alte Heimat zurückkehren oder dieser endgültig den Rücken kehren sollten. Dabei erhielten sie Unterstützung von internationalen Organisationen wie UNRRA und IRO.

In diesem Vortrag stehen in Wien geborene DPs im Mittelpunkt, die in unterschiedlichen Lagern in Österreich und Deutschland ihre Anträge stellten. Durch Auswertung von Quellen unterschiedlicher Institutionen wird der Versuch unternommen, exemplarisch geographische Stationen von gewaltinduzierter Migration nachzuzeichnen und Motivlagen von Wiener DPs für eine dauerhafte Ansiedelung in einem neuen Land (Resettlement: z. B. Amerika, Palästina) zu ergründen.

Armin Dadieu: Gauhauptmann, Raketenforscher für Perón und Rückkehrer

Linda Erker (Wien)

1946 stand sein Name auf der zweiten Kriegsverbrecherliste, zwei Jahre später gelang es dem ehemaligen Gauhauptmann der Steiermark, unter falschem Namen per Schiff nach Argentinien zu flüchten, wo er für Juan Perón unter anderem Raketentreibstoffe entwickelte. Mitte der 1950er-Jahre war Armin Dadieus Zeit zur Rückkehr gekommen, er stellte in Österreich ein Gnadengesuch, denn er sah sich als politischer Flüchtling. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, und Dadieu konnte in Stuttgart seine wissenschaftliche Karriere als Chemiker fortsetzen. Als er 1978 starb, war er amnestiert, integriert und mit Ehrungen dekoriert.

Der Vortrag skizziert auf Basis des unveröffentlichten Privatnachlasses von Dadieu dessen Nachkriegsbiografie – stellvertretend für eine Gruppe von NS-Wissenschaftern, die sich nach 1945 der justiziellen Ahnung entziehen und in Lateinamerika wissenschaftlich wieder Fuß fassen konnten. Gefragt werden soll dabei nach den Charakteristika ihrer Flucht wie auch nach den Umständen ihrer Heimkehr.

 

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