PANEL 12
Verhandlungen von Intimität, Begehren, Freundschaft. Sexualitäts- und beziehungsgeschichtliche Perspektiven zum 20. Jahrhundert

Chair: Heidrun Zettelbauer (Graz)

Donnerstag, 16. April 2020, 14:10–15:40, U1

Die Erforschung von Homosexualitäten hat in den letzten Jahren, nicht zuletzt anlässlich von Jubiläen zu Strafrechtsreformen oder der Stonewall Riots, in geschichtswissenschaftlichen Kontexten mehr Aufmerksamkeit erhalten. Wie aber lassen sich jenseits solcher Erinnerungsanlässe Beziehungen historisch fassen, die sich normativen Setzungen entzogen oder in denen alternative Entwürfe entwickelt wurden? Wie lässt sich in der Erforschung dieser Beziehungen die Diskrepanz zwischen historischen und aktuellen Begriffen und Konzepten überbrücken? Das Panel macht Vorschläge für eine Historiografie von Beziehungen und diskutiert mögliche Antworten auf die genannten Fragen 1.) entlang von Praktiken des Intimen in Frauenbewegungen um 1900, 2.) anhand der Frage nach „weiblicher Beziehungsfähigkeit“ im Briefwechsel zwischen Lou Andreas-Salomé und Ellen Key und 3.) anhand der Biografie der Politikerin Rosa Jochmann und der Un/Sichtbarkeit ihrer Beziehung zu Cäcilie Helten im Kontext der Zweiten Republik.

Praktiken des Intimen. Zur Historisierung und Theoretisierung von Frauenbewegungsnetzwerken um 1900

Elisa Heinrich (Wien)

Europäische Frauenbewegungen bildeten einen bedeutenden politischen Faktor in einer Reihe von gesellschaftlich umkämpften Feldern um 1900. Die Grundlage für das Funktionieren der politischen Netzwerke innerhalb der Bewegungen bildeten die engen Beziehungen, die Aktivistinnen in professioneller, politischer und intimer Weise miteinander verbanden. In der Frauenbewegungsforschung wurden diese Beziehungen häufig schablonenhaft als platonische Freundschaften oder als lesbische Verhältnisse unter dem Deckmantel bürgerlicher Sittlichkeit thematisiert. Mit einem Konzept von „Intimität“ soll im Rahmen des Vortrags ein Tool vorgeschlagen werden, das nicht nur die Analyse dieser Beziehungen jenseits der genannten Schablonen erlaubt. Die in Frauenbewegungen praktizierten Beziehungsmodelle als „Praktiken des Intimen“ zu fassen, macht diese darüber hinaus als umkämpftes Terrain zwischen Selbstverortung in homosozialen Netzwerken und zunehmender sexualwissenschaftlicher Diskursivierung sichtbar.

Mütterlichkeit der Erotik, Erotik der Mütterlichkeit. Lou Andreas-Salomé und Ellen Key

Anna Leyrer (Basel)

Die amerikanische Historikerin Lillian Faderman stand in den späten 1970er-Jahren vor dem Problem, dass sich viele der historischen Frauenbeziehungen, die sie untersuchte, nur schwer fassen ließen. Weder konnte sie die Beziehungen als sexuell beschreiben, noch konnte sie ihre Quellen als gefühlsduselige Übertreibungen von Intimität und Nähe zurückweisen. In diesem un-beschriebenen Raum enger, intimer Beziehungen zwischen Frauen jenseits und vor einer lesbischen Sexualität möchte ich die Beziehung der Intellektuellen und Autorinnen Lou Andreas-Salomé (1861–1937) und Ellen Key (1849–1926) situieren. Ihren Antworten auf die Frage, was „weibliche Beziehungsfähigkeit“ und Beziehungen zwischen Frauen ausmacht, gehe ich anhand ihrer Briefe, aber auch der essayistischen Arbeiten nach. Dabei möchte ich über Faderman hinaus Mütterlichkeit als Beziehungsbegriff neu beleuchten.

Zwischen Zuschreibung, Selbstbezeichnung und Unsichtbarmachung: Biografien und Beziehungen

Veronika Duma (Frankfurt am Main)

Im Mittelpunkt des Vortrags steht die Biografie der sozialdemokratischen Zeitzeugin und Überlebenden des Konzentrationslagers Ravensbrück Rosa Jochmann, deren Beziehung mit der deutschen Kommunistin Cäcilie Helten bisher wenig thematisiert wurde. Die Lebensgemeinschaft der beiden Frauen war nicht nur im politischen Milieu der Arbeiter_innenbewegung situiert, es handelte sich auch um die Beziehung einer Sozialistin zu einer Kommunistin in der Zeit des Kalten Krieges. Im Blick auf diese Lebensgemeinschaft verknüpfen sich Fragen nach politischen Verhältnissen in der Zweiten Republik, in der sich auch die heteronormative Kleinfamilie als Idealbild gesellschaftlicher Lebensformen weiter verfestigte, mit solchen nach der Historiografie von Beziehungsformen. Zur Diskussion gestellt werden soll unter anderem, wie jener Modus der Darstellung durchbrochen werden kann, demzufolge nicht-heteronormative Beziehungen als „abweichend“ und damit als erklärungsbedürftig gewertet werden.

 

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