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Ein Prozess – Vier Sprachen
Die Pionier*innen des Simultandolmetschens in Nürnberg

Eine Ausstellung des Instituts für Translationswissenschaft (LFU) und des Berufsverbandes AIIC Österreich

Sie waren junge Menschen aus Frankreich, England, der Sowjetunion und den USA. Sie waren Revolutionär*innen, Aktivist*innen, Flüchtlinge und KZ-Überlebende. Sie leisteten Unglaubliches und wurden von den Geschichtsschreibenden dennoch vielfach übergangen oder schlicht vergessen. Die Simultandolmetscher*innen beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher leisteten an insgesamt 218 Verhandlungstagen Pionierarbeit auf ihrem Gebiet und ermöglichten die Kommunikation zwischen Richtern, Angeklagten und Zeug*innen.

Die vom Internationalen Verband der Konferenzdolmetscher*innen AIIC bereitgestellte Ausstellung „Ein Prozess – Vier Sprachen“ stellt diese Dolmetscher*innen des Nürnberger Prozesses, ihre Biografien und Leistungen in den Mittelpunkt und wird zum ersten Mal in Österreich gezeigt. Vom 07.11.2022 bis einschließlich 25.11.2022 können Interessierte in der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol in Innsbruck mehr über die Anfänge des Simultandolmetschens und darüber, wer diese Dolmetscher*innen waren, erfahren.

Die Ausstellung ist kostenfrei zugänglich, ebenso die Führungen durch die Ausstellung, die von Studierenden des Instituts für Translationswissenschaft in den Sprachen Deutsch, Englisch und Russisch angeboten werden.

Ergänzt wird die Ausstellung, bei der neben den Biografien der Dolmetscher*innen auch verschiedene Originalexponate aus der damaligen Zeit zu sehen sind, durch ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm mit Vorträgen, Filmabenden und Beiträgen der Berufsverbände (AIIC Österreich als Co-Organisator der Ausstellung und UNIVERSITAS Austria). Dabei geht es nicht nur um die Geschichte des Dolmetschens, sondern auch um Gegenwart und Zukunft dieses Berufes. Entsprechend werden die Vorträge im historischen Lesesaal von Studierenden des Instituts für Translationswissenschaft simultan gedolmetscht. 

Wer selbst einen Eindruck davon bekommen möchte, was es bedeutet, simultan zu dolmetschen, kann im Rahmen eines ‚Schnupper‘-Nachmittags auch selbst in der Dolmetschkabine Platz nehmen und bei einigen Übungen – schallisoliert allein in einer Kabine – ausprobieren, wie es sich anfühlt, gleichzeitig zuzuhören, mitzudenken und zu sprechen. Sie finden weitere Informationen zu den dafür vorgesehenen Terminen am 11. und 18. November in der Rubrik Nehmen Sie in der Kabine Platz.

Innsbruck als Ausstellungsort 

Am 20. November 1945 begann der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, und die Augen der Welt waren auf die NS-Kriegsverbrecher gerichtet, die ganz Europa hatten unterwerfen wollen und nun auf der Anklagebank saßen. Nur einen Tag später wurde, unbemerkt von jeglicher Presse und der allgemeinen Öffentlichkeit, rund 250 km südlich von Nürnberg beschlossen, ein „Institut für das Dolmetschwesen“ an der Universität Innsbruck zu errichten und damit der Überzeugung zu folgen, dass „die Ausbildung von ‚sprachlich besonders Begabten‘ zum Dolmetscher oder Übersetzer an einer Universität erfolgen sollte“ (Schmidt 1998: 15).

Das Innsbrucker Institut für Translationswissenschaft (INTRAWI) wird damit nach den Ausbildungsstätten in Heidelberg (1933), Genf (1941) und Wien (1943) gegründet und entsteht somit noch vor den Instituten in Graz (1946), Mainz/Germersheim (1947), Saarbrücken und Paris (1948). „Die Genehmigung zur Errichtung eines ‚Instituts für Dolmetscherausbildung‘ an der Universität Innsbruck wird vom damals zuständigen ‚Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten‘ rasch erteilt, mit 4. Dezember 1945 die Studien- und Prüfungsordnung erlassen“ (Schmidt 1998: 15 f.).

Wie auch die Nürnberger Prozesse stand die Gründung des INTRAWI für einen Aufbruch, einen Neuanfang in schwierigen Zeiten und für das Vertrauen darauf, dass die Welt nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs wieder zusammenwachsen würde. Die Gründer*innen waren überzeugt, dass Sprachmittler*innen Brücken bauen und zum Frieden beitragen können, indem sie Kommunikation und Verständigung über Sprach-, Landes- und Kulturgrenzen hinweg ermöglichen.

Dies ist auch heute noch, mehr als 75 Jahre später, der Kern unseres Selbstverständnisses als eines der traditionsreichsten Institute der Translationswissenschaft im deutschsprachigen Raum. Im Leitbild des Instituts heißt es: „Das INTRAWI [...] ist eines von drei universitären Instituten in Österreich, an denen Forschung und Lehre im Bereich des Übersetzens und Dolmetschens betrieben werden. Am INTRAWI kann Translationswissenschaft im Bachelor und im Master mit den Arbeitssprachen Deutsch als Fremdsprache, Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch sowie Spanisch studiert werden und auch die Möglichkeit einer Promotion ist im Rahmen des Doktoratsstudiums gegeben. Der wissenschaftliche Anspruch des Institutes ist es, unsere Disziplin durch zukunftsgewandte Forschung voranzubringen“.

Dennoch war der Neuanfang keineswegs ein einfacher. Österreich war ab 1938 offiziell an das „Deutsche Reich“ angeschlossen, in der dazu durchgeführten Volksbefragung unterstützten 98% der Innsbrucker*innen dieses Bestreben mit ihrer Stimme. Von 1942 bis 1945 waren außerdem dutzende Zwangsarbeiter*innen, politische Häftlinge und jüdische Mitbürger*innen im Gestapo-Lager im Innsbrucker Stadtteil Reichenau unter prekären Bedingungen inhaftiert. Doch so eng die Geschichte der Stadt mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden muss, so sehr ist sie auch vom Widerstand der Tiroler*innen gegen die Nationalsozialisten geprägt. Die Kooperation von Innsbrucker Widerstandskämpfer*innen mit den Mitgliedern der amerikanischen Geheimdienstoperation Greenup ermöglichte letztlich eine friedliche und unblutige Befreiung der Stadt durch die amerikanischen Truppen im April 1945. Eine ähnliche Ambivalenz verkörpert auch Erwin Lahousen, der im Zweiten Weltkrieg als Generalmajor Teil des nationalsozialistischen Systems, aber auch der einzige der Angeklagten war, der sich bereit erklärte, als Kronzeuge gegen die Hauptkriegsverbrecher auszusagen. Nach dem Verbüßen seiner Strafe in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zog er sich nach Innsbruck zurück, wo er im Jahr 1955 verstarb.

Schaut man auf die Vergangenheit, gibt es nicht nur eine Perspektive, Geschichte ist ambivalent. Allein deshalb muss sie in möglichst vielen Facetten thematisiert und zugänglich gemacht werden. Dafür ist Innsbruck ein geeigneter Ort: eine Stadt, in deren Vergangenheit Mitläufertum und Widerstand gleichermaßen eine Rolle spielen und in der die Auseinandersetzung mit der Geschichte bis heute andauert. Hier möchten wir den Blick mit der Ausstellung insbesondere auf diejenigen richten, die einen ganz wesentlichen Beitrag leisteten, um mit dem Nürnberger Prozess die Aufarbeitung der Schrecken des Nationalsozialismus beginnen und in ein neues Zeitalter aufbrechen zu können – die Dolmetscher*innen. Sie ermöglichten, dass Richter, Kläger, Angeklagte und Zeug*innen in ihrer jeweiligen Muttersprache miteinander sprechen konnten. Ihnen ist diese gemeinsam mit AIIC Österreich organisierte Ausstellung gewidmet – den Simultandolmetscher*innen, deren Einsatz und Pioniergeist bis heute beeindruckt und die uns in Zeiten zunehmender Technologisierung, die auch für den Dolmetschberuf einen Umbruch bedeuten, inspirieren und als Vorbild dienen können und sollten. 

 

Quellen:

Institut für Translationswissenschaft: https://www.uibk.ac.at/translation/forschung/

Pirker, Peter (2019): Codename Brooklyn. Jüdische Agenten im Feindesland. Die Operation Greenup 1945. Innsbruck: Tyrolia.

Pöchhacker, Franz (ed.) (2015): The Routledge Encyclopedia of Interpreting Studies. New York: Routledge.

Schaub, Harry Carl (2015): Abwehr-General Erwin Lahousen. Der erste Zeuge beim Nürnberger Prozess. Wien: Böhlau.

Schmidt, Annemarie (1998): „Geschichte des Instituts für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung der Universität Innsbruck“. In: Holzer, P. & Feyrer, C. (Hg.): Text, Sprache, Kultur: Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Instituts für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung der Universität Innsbruck. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 15-28.

  

 

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