Der "kleine" Otto Bauer

Otto Bauer, der hier nicht mit seinem Namensvetter, dem sozialdemokratischen Politiker und Austromarxisten Dr. Otto Bauer (1881-1938) zu verwechseln ist, wurde am 16. April 1897 als Sohn einer Arbeiterfamilie in Wien‑Ottakring geboren. Als Jugendlicher war er im „Verband der christlichen Jugend Österreichs“ tätig, wo er mit Anton Orel (1881-1959) und seine, an Karl Freiherr von Vogelsang (1818‑1890) orientierten sozialpolitischen Reformideen, in Berührung kam. Gemeinsam mit gleichgesinnten Freunden und einem Kreis aus der Leserschaft der katholisch-kritischen Zeitschrift „Ruf zur Wende“, gründete Otto Bauer im Jahre 1926 den BRS. Aufgrund der neuen Richtlinien der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die am Parteitag zu Linz im November desselben Jahres verabschiedet wurden (Linzer Programm), konnte der BRS bereits im Jänner 1927 als parteiinterne Kulturorganisation seine Tätigkeiten aufnehmen.

Die religiösen Sozialisten verstanden sich als interkonfessionelle und interreligiöse Gruppierung, dessen Hauptanliegen die Befreiung des Proletariats im Geiste der Reich-Gottes-Botschaft war. Von dieser Gesinnung heraus wurde der Arbeiterbewegung eine epochale Rolle zugeschrieben: »Wir haben im Sozialismus ein verweltlichtes christliches Erbe wiedererkannt. Konnte er für uns auch niemals das Reich bedeuten, so spürten wir in ihm Kräfte des Reiches wirksam (Otto Bauer, Das Wiener Gespräch, S. 3, Archivmaterial)«. Besonders erwähnenswert ist ihr vermittelndes Engagement zwischen den damals rivalisierenden politischen Gruppierungen der Sozialdemokraten und der Christlichsozialen Partei sowie ihre kritische Position gegenüber der Verstrickung der katholischen Kirche in politischen Angelegenheiten.

Als allmählich die politische Situation in Österreich zu eskalieren drohte und infolge des Bürgerkrieges im Februar 1934 die Sozialdemokratie aufgehoben und verboten wurde, engagierte sich der „kleine“ Otto Bauer fortan unter den Decknamen „Herbst“ und „Weis“ im Untergrund in der illegalen Partei der Revolutionären Sozialisten Österreichs. Wenige Wochen nach der Annexion Österreichs an das Deutsche Reich flüchtete Bauer mit seiner Familie am Abend des 7. April 1938 ins Exil. Die ersten Exilsjahre verbrachte die Familie Bauer in Zürich, bis sie schließlich 1940 in den Vereinigten Staaten emigrierte und von diesem Zeitpunkt an ihre alte Heimat Österreich nur mehr urlaubsbedingt aufsuchten. Otto Bauer verstarb 1986 während eines Kuraufenthaltes in den Osttiroler Bergen.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde Otto Bauer immer wieder von seinen Freunden und ehemaligen Weggefährten zur Rückkehr nach Österreich aufgefordert, um dort die Tätigkeiten des Bundes wieder aufzunehmen. Abgesehen davon, dass inzwischen die Familie Bauer in den Vereinigten Staaten heimisch wurde, erachtete Bauer die Wiederbegründung des BRS in Österreich als nicht mehr zeitgerecht. Zu sehr hatte sich die Welt nach der „großen Katastrophe“ des Zweiten Weltkrieges und nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki verändert: selbst der Sozialismus erweise sich im Angesicht dieser neuen verschärften Weltlage als ein gescheitertes und diesem Grund revisionsbedürftiges Projekt. Zeitgleich mit seiner Flucht ins Exil, vollzieht Otto Bauer eine weltanschauliche Wende die ihn nachhaltig, vor allem aber im Hinblick auf die Niederschrift seiner Spätschriften, prägen wird: Er distanziert sich teilweise von seinen religiös-sozialistischen Anschauungen und Positionen und vertieft sich vermehrt in einem christlich motivierten apokalyptischen Denken, wodurch er den Gang der Geschichte und der Welt zu deuten versucht. Ausgehend von dieser weltanschaulichen Wende, lassen sich Otto Bauers Schriften in zwei Schaffensperioden gliedern. Die erste Periode erstreckt sich zeitgleich mit seinen Tätigkeiten innerhalb des Bundes religiöser Sozialisten, also von 1926 bis 1934 bzw. 1938, die zweite Periode hingegen von 1938 bis zu seinem Tod.

Zwischen 1927 und 1934 entstanden zahlreiche Artikel, die Bauer in der Zeitschrift der religiösen Sozialisten Österreichs, dem „Menschheits-kämpfer“ veröffentlichte. Der „Menschheits-kämpfer“ erschien zuerst monatlich, dann zweiwöchentlich, und wurde von Otto Bauer fast im Alleingang herausgebracht.

Anhand dieser Schriften ist es möglich, die Geschichte und Anliegen des BRS in Österreich zu verfolgen und zu rekonstruieren, von dem ersten öffentlichen Auftritt des Bundes 1927, über die ersten inhaltlichen Richtlinien anlässlich der Pfingsttagung 1930 in Berndorf, bis hin zur Diskussion der Sozialenzyklika Quadragesimo anno (1931), der steigernden Verquickung von Kirche und Politik und schließlich dem Aufkommen faschistischer und nationalsozialistischer Tendenzen in Österreich.

menscheitskaempfer

Ausschnitt aus dem Titelbaltt des "Menschheitskämpfer", Zeitschrift des Bundes religiöser Sozialisten Österreichs.

Besonders interessant erweist sich Otto Bauers letzter, im Sinne des religiösen Sozialismus 1938 gemeinsam mit dem Schweizer religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz (1868-1945) verfasste Text „Ein neuer Himmel, eine neue Erde: Ein christlich-sozialer Aufruf“. Diese Schrift ist die letzte offizielle Stellungnahme der internationalen Bewegung des religiösen Sozialismus vor Ausbruch des Krieges.

Während seiner Exilszeit und Emigration, verfasste Bauer ein bis dato unveröffentlichtes Buchmanuskript, sowie zahlreiche kleinere Schriften zu theologischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Themen. Diese Schriften waren an seine Freunde und ehemalige Mitstreiter im BRS bestimmt. Otto Bauer und seine Familie pflegten eine innige freundschaftliche Beziehung zur Familie Ragaz, namentlich Leonhard und seiner Frau, die berühmte Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin Clara Ragaz-Nadig (1874-1957): Bis zu Ragazens Tod im Jahre 1945 tauschten sich die beiden Freunde ihre Gedanken, Visionen und gegenseitige Kritiken in zahlreiche Briefe aus. Weitere wichtige Gesprächspartner Otto Bauers waren Robert Friedmann (1891-1970), ehemaliger religiöser Sozialist und bedeutender Forscher der Geschichte und Theologie der Täuferbewegung, sowie Joseph Buttinger (1906-1992) und seine Ehefrau Muriel Morris Gardiner (1901-1985). Letztere verhalfen zahlreichen Exilanten aus Österreich zur Flucht vor dem Naziregime. Joseph Buttinger errichtete in Manhattan, New York City, eine sozialpolitische Studienbibliothek ein, die so genannte Buttinger-Library, in der Otto Bauer jahrelang als Bibliothekar und Archivar arbeitete.

Marco Russo

 


Nach oben scrollen