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Call for Papers

Die Historizität der Sinne stößt wieder verstärkt auf das Interesse der Geschichtswissenschaft. Bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren hatten sich Vertreter der Annales-Schule wie Alain Corbin mit dem Geruchs- und dem Hörsinn und deren breite Einbettung in die Kulturgeschichte des "langen 19. Jahrhunderts" beschäftigt.

Insbesondere die Sound Studies rückten zuletzt in das Zentrum des historischen Interesses. Dabei geht es um – positiv besetzte – Klänge und meist ex negativo definierte Geräusche, um Lärm, und: um Stille. Eine der Fragen, mit denen sich die Sound Studies beschäftigen (müssen), ist, wann etwa die Erforschung von Sound als Geschichtsquelle beginnt, zumal die Aufzeichnung von Geräuschen und Tönen auf Tonträgern erst gut hundert Jahre umfasst. In der Geschichtswissenschaft hat sich daher insbesondere die – zeithistorisch geprägte – Sound History bzw. die Aural History herausgebildet. Zudem wird die Erfahrungsgeschichte in der (V)Erarbeitung von medialen Tonspuren herangezogen. Häufig liegen dabei Sound und Stadt im Fokus des Forschungsinteresses, aber auch der Luftkrieg, Kriegsverbrecherprozesse oder der Fall der Berliner Mauer. Interdisziplinäre Überschneidungen – und ein Naheverhältnis – ergeben sich zwischen der Geschichts- und Musikwissenschaft sowie der Musikhistorik.

Der Geruchsinn schrieb sich unter anderem auf literarischer Ebene ein: So prägte und prägt der 1985 erschienene Roman "Das Parfum" des bayerischen Autors Patrick Süskind die Geruchsvorstellungen von der Neuzeit bis heute nachhaltig. Vor allem im angelsächsischen Sprachraum gab es in den letzten 15 Jahren intensive Forschungen zum Geruchssinn. Mark M. Smith betont die enge Verbindung des Menschen mit der Außenwelt über das Riechen: Leben bedeute atmen und atmen bedeute riechen. Es gebe keine natürlichen „Nasenlider“, mit denen man ähnlich Augenlidern die Welt aussperren könne, abgesehen in Fällen von Amnosien. Und doch oder vielleicht gerade deshalb sei es in der Betrachtung der Sinne zu einer Art Hierarchie gekommen. Der Geruchssinn sei über die Abwertung von starken Gerüchen als reine Sinnlichkeit als der niederste der Sinne angesehen worden. Das habe unbewusst auch Eingang in die wissenschaftliche Bearbeitung gefunden. Dazu kam die vereinfachende Gleichsetzung, dass es im Vergleich zur "Moderne" im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit überall gestunken habe. Diese Vorannahmen hinterfragt etwa Neville Morley mit Blick auf das stets gepriesene römische Wasserleitungssystem. Untersuchungen zum Geruchssinn nehmen unter anderem die Beschreibung von Kriegsereignissen oder Zuschreibungen zu Ländern in den Blick.

Eng mit dem Riechen ist der Sinn des Schmeckens, der Geschmackssinn, verbunden. Dies drückt sich im süddeutschen, österreichischen und schweizerischen Sprachraum auch sprachlich aus, indem das Wort schmecken mit "riechen" synonym gesetzt wird. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten; gustatorisch denkt man hingegen an die Aufnahme von Nahrungs-, Genuss- und Suchtmittel ("nez culotté"/"Koksauge"). Nicht überraschend wurde dieser Sinn vor allem im Kontext der Food Studies aufgegriffen. Über den kulinarischen Geschmack lassen sich etwa historische Gesellschaften mit ihren unterschiedlichen Klassen beschreiben. Verschiedene Kulturen wurden mit mannigfachen Geschmacksgewohnheiten assoziiert, besondere Ereignisse mit Essen verbunden, die sich so über den Geschmackssinn einprägten.

Der Tastsinn führt – ähnlich wie der Geschmackssinn – zugleich in die Diskussion von Nähe und Distanz ein. Was und wer konnte – in welchen Situationen – berührt werden? Wie wurden Berührungen beschrieben und wie gedeutet, womit assoziiert? Mehr als die anderen Sinne steht der Tastsinn mit Schmerzempfindungen, aber zugleich auch mit Erotik und Sexualität im Zusammenhang. Zugleich nimmt die Haut als taktiles Gewebe, als "Empfindungsorgan", die größte Sinnes(ober)fläche des menschlichen Körpers ein.

Die Frage nach dem Sehsinn macht zunächst das große Forschungsfeld der (Audio)Visual Culture auf, die sich intensiv mit Blickregimen beschäftigte. Spezifischer lässt sich die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und Deutung von Farben benennen, die in den letzten Jahren stärker in den Fokus trat. Anzuführen ist etwa die Tagung "Die Farben der Stadt" 2013 in Hamburg, in der nach den historischen Zuschreibungen von Farben zu Städten gefragt wurde oder die Auseinandersetzung mit dem Farbwissen und der Farbpraxis um 1800. Neben den (zeithistorischen) Experimenten zu "Farblichtmusiken" wurden Sinneseindrücke durch Drogen und Halluzinogene manipuliert. Sie führten Künstler/innen und Publikum in Kunst, Musik und Literatur an die "Grenzen des Fassbaren" (Synästhesie versus Polyaisthesis).

Die Sektion "Gespaltene Sinne. Sensorische Differenz im 20. Jahrhundert" von Bodo Mrozek und Jan Plamper am Deutschen Historikertag 2018 plädierte angesichts der Fülle von Studien zu einzelnen Sinnen für eine gemeinsame Betrachtung aller Sinne als Sensory Studies und führte dies an Beispielen des Hörens, Riechens und Sehens vor. Die Beiträge beschäftigten sich allerdings jedoch wieder weitgehend mit einem einzelnen Sinn, erst die Zusammenschau und Synthese brachte sie zusammen. Diese Überlegung war zudem nicht neu. Peter Burke beschrieb es zwar als "ehrgeizige Versuche" über "sämtliche Sinne" schreiben zu wollen, als „kühn“ tat er Simon Schamas 1999 erstmals publizierte sinnesumfassende Beschreibung der Stadt Amsterdam im 17. Jahrhundert ab. Aber er forderte genau dies ein. Mădălina Diaconu griff 2012 die Synästhesieforschung auf, die sich durch die Untersuchung von „gleichzeitigem Empfinden“ mehrerer, wenn auch meist nur zweier Sinne, definiert. Häufig handelt es sich dabei um das Hören und Sehen, wie etwa die Übersetzung von Klang in Farben. Die Erforschung von Phänomenen der Synästhesie in der Psychologie und Neurologie zielt auf Fragen einer spezifischen tatsächlich gemeinsamen Wahrnehmung dieser Sinne, nicht um eine Addition, ein Nebeneinander. Genau dieser Fokus ist für geschichtswissenschaftliche Arbeiten lohnenswert, indem er zum einen das Bewusstsein für Wahrnehmungsbeschreibungen verschiedenster Art in Selbstzeugnissen schärft und zum anderen davor bewahrt, Sinneswahrnehmungen getrennt zu betrachten. In einem umfassenden – sechsbändigen – Sammelwerk haben Jerry P. Toner, Constance Classen und Anne C. Vila 2014 eine Histoire totale der Sinne gewagt. In allen Zeitabschnitten von der Antike bis zur neuesten Zeit werden die Sinne im Kontext des Soziallebens, des städtischen Erlebens, am Marktplatz, in Bezug auf Religion, Philosophie und Wissenschaft, insbesondere hinsichtlich Medizin ebenso wie in Literatur, Kunst und Medien untersucht. Die Unterscheidung zwischen History of the Senses, die meist einzelne Sinne behandelt, und Sensory History, die nicht nur einen Sinn, sondern zugleich die kulturelle Konstruktion und historisch spezifische Funktion im Zusammenspiel der gesamten Sinne untersucht, beginnt sich also aufzulösen.

Mit dem Audiovisuellen eng verbunden ist wiederum auch der Hörsinn. Dem (gehörten) Schall inhärent ist Räumlichkeit – ohne Raum/Körper gibt es ihn nicht, ebenso wenig den (Wohl)Klang, das Echo. Die Soundscape-Forschung, etwa im Umfeld der Medizin, nimmt den "kognitiven Kontext und die Perzeption von Raum" in den Fokus und befragt Patient/innen "zu ihren Bewertungen von Musik, Lärm und Geräuschen". Musik spielt im Klangraum und in der Sinneswahrnehmung selbst für Gehörlose eine große Rolle. Darüber kommt auch der Terminus der Barrierefreiheit, das barrierefreie Hören – im Raum –, ins Spiel. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht scheint eine der wichtigsten Fragen jene danach zu sein, wie wir Geschichte hör(t)en. – Das Hören von ausländischen Sendern war während der NS-Zeit strengstens verboten, dennoch fanden Menschen Räume/Orte der Stille/Verstecke, um den "Feind" zu hören.

Hier setzt der geplante Workshop an – mit der konkreten Fokussierung auf Raum. Er greift die Idee von einer Untersuchung der Sinne in bestimmten Räumen auf, versteht diese Räume allerdings nicht als vordefinierte Containerräume, wie eine Stadt oder einen Marktplatz, sondern es geht spezifisch darum, wie Raum durch die Sinne konstruiert wird. In Anlehnung an Martina Löw wird danach gefragt, welche Rolle die Sinne sowohl bei der "relationalen (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern" (Spacing) als auch bei der Syntheseleistung spielen, durch die Menschen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse Güter und Menschen zu Räumen zusammenfassen. Die Basisfunktion der Sinne stellt die Übermittlung von Informationen dar, sie sind daher als Kommunikations- und Vermittlungsfunktion unabdingbar. Mittels Sinne werden Räume konstruiert und darin zugleich die Orientierung ermöglicht.

Geplant sind daher Beiträge, die untersuchen, wie Menschen über das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten Raum beschrieben, ihn also durch die Wahrnehmung konstruierten, mit Wissensbeständen verknüpften und sich darin bewegten. Dabei spielen sowohl Farben und Symbole wie auch die Klassifizierung von Geräuschen und Gerüchen eine Rolle. Ungewöhnliches oder Gewohntes fiel ins Auge und wurde durch die Benennung beschreibend als Raummarkierung platziert. Wie weit trug der Schall – der Stimme, der Klänge und Geräusche? Welchen Raum beschrieb das Echo? Insbesondere mit Farben versehene Symbole, wie Wappen oder Grenzsteine, steckten Raum ab. Die Ausgestaltung von Raum mittels Farben war zum einen geschlechtsspezifisch geprägt, zum anderen dienten Farben auch zur Markierung von gesellschaftlicher Hierarchie. Geräusche und Klänge beschrieben durch ihre zunehmende oder abnehmende Intensität den Umfang eines Raumes. Geruch beschwor erinnerte Räume, die sich über die aktuelle Raumwahrnehmung legten.

Besonderer Fokus soll auf das Zusammenspiel mehrerer Sinne gelegt werden. Häufig handelt es sich bei solchen Beschreibungen um Ausnahmesituationen, wie etwa den Beginn einer Revolution, das Erleben einer angstbesetzten oder ungewöhnlichen Situation, doch lassen sich auch "Alltagssituationen" auf diese Fragen hin untersuchen, wenn etwa alltägliche Geräusche oder monotone Szenerien beschrieben wurden.

Folgende Fragen dienen als Anregungen für Beiträge:

- Wie und wo wurden Sinneswahrnehmungen räumlich verortet? Inwiefern beschrieben und steckten sie einen Raum ab?
- In welcher Kombination und Zeitabfolge wurden Sinneseindrücke beschrieben?
- Welche Sinnesqualitäten wurden bestimmten Raumkonfigurationen zugeschrieben? Ist von stillen und lauten Orten, hellen und dunklen Räumen, geruchsintensiven Plätzen die Rede?
- Welche Rolle spielten die in Quellen erwähnten Sinneswahrnehmungen für die Orientierung des Individuums? Welches Wissen gerierten sie und welche Konsequenzen ergaben sich daraus – inwiefern bestimmten sie die Wege der Individuen?
- Inwiefern wurden durch die Sinne unterschiedliche Räume für die Geschlechter und verschiedene soziale Gruppen wie auch unterschiedliche Kulturen entworfen und zugleich wahrgenommen?

Der Workshop "Sinnesräume" findet am 24. und 25. September 2020 in Innsbruck statt. Die Publikation ausgewählter Beiträge in der OeZG (Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften) ist vorgesehen.

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