Bibliothekarische Provenienzforschung. Zum Stand und den Perspektiven einer spezialisierten Aus- und Weiterbildung für die Bibliotheksarbeit

Uwe Hartmann

Als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Ersten Hannoverschen Symposiums „Jüdischer Buchbesitz als Beutegut“ zum Abschluss der Tagung am 14. November 2002 den „Hannoverschen Appell“ verabschiedeten, gingen sie von der Annahme aus, dass sich „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Bibliotheksgut (…) in noch unbekanntem Umfang in deutschen Bibliotheken“ befinden würde. Sie verwiesen auf die „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ (Gemeinsame Erklärung) vom 9. Dezember 1999 und hoben hervor, dass somit auch

die deutschen Bibliotheken aufgefordert seien, nach „Raubgut in ihren Beständen zu suchen, hierüber zu berichten und die Bücher an die rechtmäßigen Erben zurückzugeben“.

Der „Hannoversche Appell“ richtete sich in erster Linie an die Verantwortlichen des deutschen Bibliothekswesens, „die Suche nach Raubgut in unseren Bibliotheken“ zu unterstützen und die „Unterhaltsträger von der kulturpolitischen Bedeutung der Ermittlung von Raubgut jüdischer Provenienz und den Möglichkeiten der Restitution“ zu überzeugen. Die „bibliothekarischen Ausbildungsstätten“ wurden „dringend aufgefordert, die Bibliotheksgeschichte, insbesondere auch die Zeit des Nationalsozialismus, in ihre Curricula aufzunehmen“. Vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden Entwicklung des Wandels der Ausbildungsprofile vom traditionellen Bibliothekswesen mit den Schwerpunkten des Sammelns und der Bereitstellung von Büchern und Drucken hin zur Informationslogistik und zum Informationsmanagement digitaler Medien wurden bereits damals Befürchtungen geäußert, dass die nächste Generation von Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeitern sowohl im Ergebnis ihrer Ausbildung als auch durch die realen Bedingungen ihrer alltäglichen Arbeit nicht in der Lage sein würden, eine Sammlungs-, Provenienz- und Raubgutforschung leisten zu können.

Zwanzig Jahre später hat die Mutmaßung zum Umfang des NS-Raubguts in deutschen Bibliotheken ebenso klarere Konturen bekommen wie die Aufarbeitung der Rolle der Bibliotheken als Nutznießer der Entziehung von Kulturgut aus dem Besitz der von den Nationalsozialisten Verfolgten vorangeschritten ist. Welche Möglichkeiten jedoch haben Berufsanfänger wie erfahrene Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, um sich systematische Kenntnisse und praktische Fähigkeiten anzueignen, um diese kultur- wie erinnerungspolitische so wichtigen Aufgaben erfüllen zu können?

Mit diesem Vortrag soll ein Überblick über die bestehenden Aus- und Weiterbildungsangebote in Deutschland gegeben sowie über die bislang gesammelten Erfahrungen berichtet werden.

Kurzbiografie

Dr. Uwe Hartmann

Leiter des Fachbereichs Kulturgutverluste im 20. Jahrhundert in Europa (von 2015 bis 2021 Fachbereich Provenienzforschung) am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg.

Zuvor seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg und von 2008 bis 2014 Leiter der Arbeitsstelle für Provenienzforschung am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin - Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Studium der Kunstwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin von 1982 bis 1987 und anschließend Forschungsstudent am Bereich Kunstwissenschaft und wissenschaftlicher Assistent am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität.

Lehrbeauftragter am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität sowie Dozent an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel und an der Museumsakademie MUSEALOG.

 

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