Befund des Monats

September 2021

„Atlantis im Zemmgrund“ – die versunkene Granathütte am Rossrücken

Die Rekonstruktion der Granatgewinnung und -verarbeitung im Hochgebirge der Zillertaler Alpen stellt eine ganz besondere Herausforderung für die Forschung dar. Es gilt nicht nur die Beobachtungen im Gelände mit historischen Überlieferungen abzugleichen sondern auch die Dynamik der Gletscherbewegungen im 19. Jahrhundert in die Deutung von archäologischen Strukturen mit einzubeziehen. Hieraus lassen sich spektakuläre Geschichten entwickeln.

Eine Aufzeichnung von Andreas Kreidl (geb. 1862) aus dem Jahr 1941 gibt die Erzählungen seines Vaters Andreas Kreidl (geb. 1814) wieder, der von einer „versunkenen Granathütte“ am Rossrücken berichtet. Jahre lang suchte Walter Ungerank als bester Kenner der Region erfolglos nach diesem geheimnisvollen Ort:

... Der Rossrücken (Alpe samt Kahlgebirge) liegt zwischen dem Horn-Kees einerseits und dem Waxegg-Kees anderseits. Diese zwei Gletscher bildeten früher eine einzige Gletscherzunge, die sich weit in die Waxeggeralpe vorschob. Noch in den 30ger Jahren mußten die Arbeiter in Waxegg in den Gletscher Stufen hauen, um dann über den Gletscher in den Roßrücken zu gelangen. Wo die Gletscher zusammenfließen bzw. wo sie sich trennten, bildete die Roßrückalpe eine dreieckige Mulde. Hier bauten sich die Granatarbeiter eine Hütte, die erste Granatenhütte. Aber wie staunten sie: als sie im Frühjahr 1840 über den Gletscher hinüber kamen und die Arbeit beginnen wollten, war die Mulde in einen See verwandelt und von der Hütte keine Spur mehr. Doch aus dem klaren Gletscherwasser glänzte sie herauf, wie ein versunkenes Schloß. Das Wasser floß allmählich ab, und die Hütte wurde weiter hinauf gebaut ... 1

 

Abb. 1

Abb. 1: Dokumentation des Befundes „versunkene Granathütte“ (im Vordergrund) am Fuß des Rossrückens (2021)2

Abb. 2

Abb. 2: Lage der ersten Granathütte (1, vor 1840) und der neuen Granathütte (2, nach 1840) im Zwickel zwischen den Seitenmoränen von 1850 von Waxeggkees (gelb) und Hornkees (rot)3

 

Bei der archäologischen Prospektion im näheren Umfeld der bekannten „Granatmühle“ am Berliner Höhenweg konnte dieser Ort nun lokalisiert werden. Eine durch Viehtritt aufgeschlossene Halde der Granataufbereitung gab den entscheidenden Hinweis. Am oberen Ende der Halde ließ eine stark überwachsene Steinreihe die Grundmauern eines Gebäudes erahnen (Abb. 1). Die teilweise Freilegung erbrachte eine bis zu fünflagig erhaltene Mauerstruktur und damit den Nachweis eines ehemaligen Gebäudes im Zwickel zwischen den mächtigen Seitenmoränen des Hornkees und des Waxeggkees aus der Zeit des Gletscherhochstandes von 1850 (Abb. 2). Damals vereinten sich die beiden Gletscher am nördlichen Fuß des Rossrückens und formten in ihrem Rückraum ein eisfreies Dreieck (Abb. 3). Hinter den sich auftürmenden Eismassen staute sich Schmelzwasser und ließ die hier errichtete erste Granathütte in einem See versinken. An der Basis der freigelegten Mauerstruktur zeigte sich eine dünne Sedimentschicht aus hellem feinsandigem bis tonigem Material (Abb. 4), die als Ablagerung eines Schmelzwasser-Sees gedeutet werden kann und den spektakulären Befund bestätigt. Eine archäologische Ausgrabung im Sommer 2022 soll weitere Details ans Licht bringen.

 

Abb. 3

Abb. 3: Zusammenfluss von Hornkees und Waxeggkees 1850 (Gletscherhochstand), mit Lage der ersten Granathütte (1, erbaut vor 1840)4

Abb. 4

Abb. 4: Die freigelegte Mauerstruktur der versunkenen Granathütte mit Sedimentresten eines ehemaligen Schmelzwasser-Sees an der Basis5


Gert Goldenberg, Bianca Zerobin, Walter Ungerank & Peter Pindur

Fortsetzung folgt!


Quellen:

1Kreidl A. (1941): Granatengewinnung im Rossrücken. Handgeschriebener Bericht von Andreas Kreidl, Zell am Ziller, 1. September 1941 (Kopie des Originaldokuments im Privatarchiv Ungerank)

2Foto: Goldenberg

3Foto/Grafik: Goldenberg

4Schwendinger, G. & Pindur, P. (2015): Die Entwicklung der Gletscher im Zemmgrund, Zillertaler Alpen (Österreich), seit dem Hochstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zeitschrift für Gletscherkunde, Band 47/48 (2013/14), Innsbruck 2015, 63-90.

5Foto: Goldenberg

 
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