Panel 11: Pandemische Dystopien in der Literatur des 21. Jahrhundert

Verena Habit, Martin Kriechbaum

Abstract

Pandemische Dystopien in der Literatur des 21. Jahrhundert

In diesem Kommentar möchte ich über das Panel 11, mit dem Thema „Pandemische Dystopien in der Literatur des 21. Jahrhundert“ schreiben. Die Vortragenden waren Doris Eibl, die über den Roman von Catherine Mavrikakis „Dystopie Oscar de Profundis“ sprach, Dunja Mohr, die sich mit der Prolepsis der Literatur auseinandersetze, Caroline Rosenthal, die den Roman „Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel besprach sowie Maria Piok, die Juli Zehs „Corpus Delicti“ zum Thema ihrer Präsentation machte.

Da ich selbst seit Jahren gerne dystopische Literatur lese, entschied ich mich für dieses Panel. Die Vortagenden befassten sich mit je einem Roman, der ihnen dazu diente, auf zentrale Aspekte und Thesen sowie auf Vergleiche zur herrschenden Corona-Pandemie aufmerksam zu machen. Die Vorträge wurden alle sehr fachsprachlich abgehalten, wodurch diese für mich und vielleicht auch andere Studierende schwer zu verfolgen waren. Ich bekam eigentlich erst in der anschließenden Diskussion mit Wolfang Meixner den erhofften Input. Im gesamten kamen die Vortagenden zum Schluss, dass die Pandemie in der dystopischen Literatur deshalb verstärkt vorkomme, weil wir bis jetzt im 21. Jahrhundert in einer Zeit ohne Pandemien lebten. Die Spanische Grippe wird in der Literatur fast vollkommen ausgeklammert, da diese fast immer von der Thematik des Ersten Weltkrieges überdeckt werde. Deshalb hätten es jene Pandemien in die Sparte der dystopischen Literatur „geschafft“, die dramatisch verlaufen sind oder solche, die im Stande sind, 99 Prozent der Weltbevölkerung auszulöschen. „Wir können es uns leisten“ so dramatische Bücher zu lesen, denn wie Caroline Rosenthal sagte, Menschen können Pandemien nicht durch Statistiken verstehen, sondern eben durch Literatur. Pandemische Literatur hat immer auch eine warnende Funktion, meinte Rosenthal, Menschen könnten so das Zukunftsszenario durchdenken und in den Büchern lesen, welche Folgen eine weltweite Pandemie für die Gesellschaft haben könne. Maria Piok sprach in ihrem Beitrag darüber, in welchem Kontext die pandemischen Dystopien gelesen werden sollten. Ihrer Meinung nach befasst sich die Pandemieliteratur auch mit einem „uralten Menschheitsthema“, nämlich der Auflehnung der Menschen gegen die Obrigkeit, welche in den jeweiligen Romanen thematisiert würde. Spannend finde ich die Tatsache, dass auch jetzt in den sozialen Medien die Auflehnung gegen die Maßnahmen und gegen die Regierungen zu einem sehr bestimmenden Thema geworden sind.

(Verena Habit)

Die Bedeutung pandemischer Dystopien der Literatur des 21. Jahrhundert für unsere Gegenwart

Die Dystopie ist eine fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung, die – bei aller Schwierigkeit einer klaren Grenzziehung durch die Hybridisierung der Gattungen in der Postmoderne – anders als die Utopie meist negativ ausgeht. Dieses Genre erfreut sich derzeit größter Beliebtheit: Wir leben im „Goldenen Zeitalter der dystopischen Fiktion“ (Lepore 2017) bzw. sind die Dystopien „fashionable“ (Robinson 2018) geworden. Sie sind fester Bestandteil des literarischen Mainstreams und können meist nicht düster genug ausfallen.

Die erste Vortragende Dunja Mohr (Erfurt), Anglistin und Kulturwissenschaftlerin, nennt etwa John Lanchester, Margaret Atwood, Ben Okri, Kazuo Ishiguro, Thomas King, Dave Eggers, Cormac McCarthy, Will Self und Suzanne Collins als bekannte AutorInnen dieses Genres. Während wir Pandemien in der Weltliteratur wie etwa die Schilderung der Pest in Giovanni Boccaccios Decamerone (1340–1350) oder Daniel Defoes A Journal of the Plague Year (1722) schon lange kennen, wird die Pandemie im 21. Jahrhundert bevorzugt als Krimi oder Dystopie (oder als Crossover) erzählt.

Liest man diese modernen pandemischen Dystopien (oder sieht dystopische Filme), bekommt man leicht den Eindruck, dass sie das vorweggenommen haben, was jetzt fester Bestandteil unseres Alltags geworden ist. Denn als häufige Bestandteile der Dystopie finden sich Szenarien der Gesundheitsüberwachung, Quarantäne, Isolation und Einsamkeit, geschlossene Grenzen und verwaiste Innenstädte, die Einschränkung von Bürgerrechten, die Bedrohung durch eine Pandemie und anderes mehr. Anhand von Saleema Nawaz’ Buch Songs for the End of the World, das im Jahre 2020 spielt, und Margaret Atwoods Trilogie MaddAddam (2003-2013) zeigte uns Dunja Mohr, wie wir in Dystopien unsere Gegenwart erkennen können und was die spekulative Literatur zu unserem Verständnis der Corona-Krise beitragen kann. Denn die Dystopie ist spekulativ und proleptisch: Die Denkanstöße zu realen Veränderungen dienen dazu, einer dystopischen Zukunft zu entkommen, wobei die fiktionale Zukunft bereits zur Realität geworden ist. So können die dystopischen Erzählmuster letztlich Umdenkprozesse ermöglichen.

Caroline Rosenthal, Professorin für Amerikanistik (Jena), fragte nach der Funktion postapokalyptischer Narrative für das Begreifen von Pandemien und gegenwärtigen Krisen. Dazu analysierte sie den Roman Das Licht der letzten Tage der Kanadierin Emily St. John Mandel. Besagter Roman führt uns in ein dystopisches Szenario nach der Pandemie. Nachdem 99 Prozent der Menschen an der Georgia Grippe gestorben sind, versuchen die Überlebenden, ihr Menschsein zu behaupten. Eine Schauspieltruppe rettet Shakespeare-Stücke in die Endzeit hinüber, Überlebende gründen das „museum of civilisation“, in dem sie Objekte sammeln, die ihre ursprüngliche Funktion längst eingebüßt haben, etwa Motorräder, Mobiltelefone, Computer und Kreditkarten. So werden wir Zeugen einer untergegangenen Hochkultur, die sinn- und identitätsstiftend für die neue Gemeinschaft wird. Am Schluss kehrt das Licht verschwommen zurück, als romantischer Gestus für die Hoffnung auf Zivilisation. Die Entzauberung der Welt nach Max Weber wird im Roman rückgängig gemacht, aber nicht die Rückkehr zur vormodernen Welt oder eine unkritische Technikgläubigkeit sind das Ziel. Die Narrative sollen uns vielmehr helfen, eine ethische Entscheidung zu treffen, was von unserer Kultur übrigbleiben soll.

Doris Eibl (Innsbruck), Romanistin, Kanadaistin und Kulturwissenschaftlerin, führt uns in der Dystopie Oscar de Profundis (2016) von Catherine Mavrikakis in die Ruinen der früheren Metropole Montréal. Die Nationalstaaten sind verschwunden, ein Weltstaat demontiert soziale Strukturen und hat das intellektuelle Leben zum Stillstand gebracht. Die Folgen des Klimawandels und einer Seuche lassen die Ungleichheit zwischen Arm und Reich stärker denn je hervortreten. Gezeigt wird, welche Spielräume Menschen in Extremsituationen haben und wodurch diese determiniert sind: Klasse, Rasse und Geschlecht. Denn eines ist deutlich, die Epidemie trifft nicht alle gleich. Als die Stadt unter Quarantäne gestellt wird, begegnen sich die beiden Welten von Arm und Reich kurz, eine Umkehr ist allerdings nicht mehr möglich. Zwar bietet das fiktive Katastrophenszenario keinen Ausweg mehr, aber wir können anhand der beiden Hauptfiguren, Oscar de Profundis und Cate Bérubé, zumindest kritisch auf unsere eigene Gegenwart blicken.

Das Modell einer radikalen Gesundheitsdiktatur, in der strenge Hygienevorschriften und ein medizinischer Kontrollwahn herrschen, zeigt uns Maria Piok (Innsbruck), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut Brenner-Archiv und im Literaturhaus am Inn, anhand von Juli Zehs Corpus Delicti. Ein Prozess (2009). Der menschliche Körper, der in der Literatur auch für Sinnlichkeit und Trieb steht, wird (im Anschluss an körpersoziologische Überlegungen, body turn) zum messbaren, kontrollierbaren und steuerbaren Objekt umgedeutet. Ihn und die körperlichen Ausdrucksformen versucht das System zu kontrollieren. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Sprache, im Roman und in der Corona-Krise: etwa das Wort „Gefährder“, das den einzelnen motivieren soll, aber auch Schuldzuweisung und Denunziantentum fördert. Es gilt die Pflicht zur Selbstoptimierung und Ertüchtigung. Jede Form von Selbstentfaltung wird hingegen kategorisch unterbunden. Insofern wird die Protagonistin, die sich körperlichen Empfindungen wie Schmerz und Liebe aussetzt, zur Gefahr. Zeh verlegt eine Hexenjagd in das moderne Staats- und Justizwesen, in dem der gesunde, jugendliche Körper zur einzigen Norm geworden ist. Die alte Weltreligion wurde abgelöst durch den Glauben an die Naturwissenschaften und das Messbare. Maria Piok erinnert uns hier schmerzlich an die Aktualität der in der Dystopie aufgeworfenen Fragen.

In allen Beiträgen wurde deutlich, dass die Dystopie zwar in einer fiktiven Zukunft angesiedelt ist, mittels Retrospektive aber immer auf unsere aktuell erlebte Gegenwart referenziert. Nicht zuletzt wird für mich anhand der vielfältigen Beispiele deutlich, dass es neben Fakten und Zahlen Narrative braucht, um den Menschen die Pandemie und ihre Auswirkungen begreifbar zu machen. Dazu gehören auch die Narrative der fiktionalen Literatur.

(Martin Kriechbaum)

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