René Girard, Mimetische Theorie und Theologie

 

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Der folgende Text findet sich gedruckt in: Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag (BMT 1), Hg. Józef Niewiadomski u. Wolfgang Palaver, Innsbruck - Münster 1995 [ISBN: 3-85400-003-0], 7-13.

Inhalt:

Das Phänomen des Sündenbocks spielt bei der Erlösung eine wesentliche Rolle. Eine solche These vertritt Raymund Schwager in seinem Werk Brauchen wir einen Sündenbock? Was soll damit gesagt sein? Auf diese Frage geben uns die Evangelien eine klare Antwort. Sie sehen in Jesus ein grundlos verurteiltes Opfer. Die Ursache seiner Verurteilung ist allein in der gewaltsamen Ansteckung zu sehen; diese steuert den ihr verfallenen Anklägern falsche Gründe und falsche Anschuldigungen bei. Demnach geht es hier nicht um jenes Tier, das im biblischen Buch Levitikus (Lev 16) beschrieben wurde. Nicht das rituelle Opfer ist hier mit dem Begriff »Sündenbock« zu assoziieren, vielmehr muß die moderne, uns allen vertraute Bedeutung vorgezogen werden. Der Sündenbock ist selbst ein durch die mimetisch mobilisierte menschliche Gruppe überwältigtes Opfer.

Jesus selber kündigt an, daß sein Tod dem Tod des Gottesknechtes und dem der anderen Propheten gleichen wird, die in ­ der Passion durchaus ähnlichen ­ Ereignissen kollektiv ermordet oder auch verfolgt worden sind. Dasselbe sagt im Grunde auch Paulus, wenn auch in anderen Termini, indem er bekennt, Gott habe Jesus zum Träger unserer Sünden und zum Sünder par excellence gemacht.

Aus allen diesen Konvergenzen im biblischen Text zieht Schwager folgende Konsequenz: »Beim gewöhnlichen Sündenbockmechanismus geschieht die Übertragung nur teilweise. Die Gewalt wird deshalb nie grundsätzlich nach außen abgeleitet, sie kann stets von neuem aufbrechen. Alle Evangelien zeigen hingegen, daß die Botschaft Jesu von der unbegreiflichen Liebe Gottes und sein Anspruch, mit Gott eins zu sein, selbst bei den frommen und gebildeten Pharisäern den untergründigsten Groll und den verborgenen Willen zum Töten an den Tag gebracht haben. In der Allianz gegen ihn offenbaren sich die dunkelsten Mächte des menschlichen Herzens. Die kollektive Übertragung gewann deshalb einen ganz neuen Sinn. Sie war realer und universaler als bei den Zusammenrottungen gegen zufällige Sündenböcke. Alle gottfeindlichen Mächte verbanden sich gegen ihn und entluden ihren bösen Willen auf seinen Leib. So hat er die Sünden aller mit seinem Leib auf das Kreuz hinaufgetragen (1 Petr 2,24). Als Zwischenergebnis können wir festhalten, daß sich die Einsicht in den Sündenbockmechanismus in ausgezeichneter Weise zum tieferen Verständnis der neutestamentlichen Aussage eignet, Jesus als der Heilige sei zur Sünde und zum Fluch gemacht worden. Einer weitern Durchdringung der Erlösungslehre ist damit der Weg geöffnet.«(1)

Unter meinen eigenen Werken wäre das Buch, das aus einem Dialog mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort hervorging und den Titel Des choses cachées depuis la fondation du monde(2) trägt, jenes, das dem Werk von Schwager analog ist. Obwohl die Sprache und die Beispiele in beiden Büchern oft sehr unterschiedlich sind, gleichen sich beide Werke in mehreren Sachverhalten. Die Lehre ist durchgehend dieselbe, außer im Fall jenes Paragraphen, den ich gerade zitiert habe. Ich habe die Logik von Schwager damals zwar eingesehen, doch konnte ich sie unmöglich übernehmen. Sie führte zu einem Unbehagen bei mir, einem Gefühl, daß nun zerstreut zu sein scheint.

Seine Intuition war richtig. Um ihm nun Ehre zu erweisen, möchte ich jetzt rückblickend auf all jene Fragen eine Antwort zu geben versuchen, die mir selber damals meine eigenen Vorbehalte diktierten. Was hat mich also noch unlängst daran gehindert, in Jesus den »Sünden-bock«, der sich für die Menschen »opfert«, zu sehen? Was hielt mich davon ab, endlich jenen Schritt zu vollziehen, den Schwager sofort vollzog?

 

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