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Die mimetische Theorie und das Opfer Christi

Was bedeutet der mimetischen Theorie das Opfer in den archaischen Religionen? Es stellt den Versuch dar, all die versöhnenden Effekte der einmütigen Gewalt durch die Substitution eines Ersatzopfers an Stelle des ursprünglichen Sündenbocks wieder zu erneuern.

Und was kann das Opfer Christi bedeuten? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, am Ursprung anzusetzen. Dieser liegt aber dort, wo Jesus den Menschen seinen Weg präsentiert, wie sie der Gewalt entkommen können. Er lädt sie ein, den mimetischen Rivalitäten ein schlagartiges Ende zu bereiten. Konfrontiert mit den wirklichen oder auch scheinbar exzessiven Ansprüchen seitens unserer Mitmenschen, sollen wir nicht mit Gegenforderungen reagieren, sondern mit Verzicht. Man soll dem potentiellen Rivalen das Streitobjekt lassen und die gewaltsame Eskalation, die geradewegs zu den Sündenböcken führt, im Keim ersticken.

Das ist die einzige Regel des Reiches Gottes. Jesus bleibt ihr bis zum Ende treu und dies in einer Welt, die sich um jenes nicht kümmert. Er erlebt sich als einer gegen alle. Die von ihm denunzierte menschliche Gewalt wendet sich gegen ihn. Sein Wort legt aber nach und nach die verborgene Wahrheit menschlicher Kulturen über die Gründungs- und Ordnungsfunktion der Sündenböcke offen. Die konsequente Ausführung seiner Sendung liefert Christus einem Tod aus, den er keineswegs begehrt, dem er sich aber auch nicht entziehen kann, ohne gleich unter das Gesetz dieser Welt und unter die Logik der Sündenböcke zu fallen.

Zwischen dem so definierten Opfer Christi und den archaischen Opfern besteht demnach ein so großer Unterschied, daß er kaum noch größer gedacht werden könnte. Um sich vor ihrer eigenen Gewalt zu schützen, richten die Menschen diese gegen Unschuldige. Christus macht genau das Gegenteil. Er leistet keinen Widerstand. Nicht um das sakrifizielle Spiel zu spielen, liefert er sich als Opfer aus. Er tut dies, um dem Spiel ein Ende zu bereiten. Die Art und Weise seiner Handlung kann durch die mimetische Theorie verständlich gemacht werden. Indem er durch den öffentlichen Charakter seines Todes die Macht der Opfer bloßlegt, lockert er deren Umklammerung; längerfristig neutralisiert er den Mechanismus, dessen Effektivität geradezu das Geheimnis verlangt.

Dem Radikalismus einer Gegenüberstellung zwischen dem archaischen Opfer und dem, was man als Opfer Christi bezeichnet, kann die mimetische Theorie voll Rechnung tragen. Die moderne Kultur biegt diese Gegenüberstellung zurecht. Um sie nicht deutlich zum Vorschein kommen zu lassen, insisitiert sie beispielsweise hartnäckig darauf, das Opfer in den Begriffen der Gabe, der Opfergabe an die Gottheit zu definieren. Ein solcher, etwas heuchlerischer Zugang erlaubt dann eine systematische Ausklammerung der Gewalt. Diese wird zu einem komisch anmutenden, kreativ und bewußt inszenierten Vorgang reduziert, der bloß »das Geschenk« arrangieren soll. Das Opfer sei dann jenes Geschenk, das an einen Empfänger, die Gottheit, die immer abwesend bleibt, von den Gebern ­ aber nicht durch ihre eigene Hand ­ übergeben werde.

Um einem solch sterilen Formalismus zu entgehen, muß man zum biblischen Realismus zurückkehren, in erster Linie zum Bericht über das Urteil Salomos (1 Kön 3,16­28). Meine eigene Reflexion über das Thema des Opfers schöpfte seit eh und je ihre Inspiration aus diesem unerschöpflichen Text. Nachdem zahlreiche Andeutungen über Kinderopfer in der Bibel zu finden sind, sehe ich nicht ein, warum man es sich verbieten müßte, in einem solchen Text, dessen Genialität sich erst aus einer solchen Perspektive offenbaren würde, auch einen Text zu diesem Thema zu sehen.

Um zwei Prostituierte, die um das kleine Kind in Streit geraten sind, miteinander zu versöhnen, schlägt Salomo die Entzweiung des Kindes mit einem Schwert und die Verteilung der beiden Hälften an die Frauen vor. Indem sie das Kind an ihre Rivalin abtritt, setzt die gute Prostituierte der mimetischen Rivalität ein Ende. Das tut sie aber nicht mittels jenes blutigen Opfers, das von Salomo vorgeschlagen wurde und welches die Rivalin bereits akzeptiert hatte, sondern durch die Liebe. Sie verzichtet auf das Objekt der Rivalität. Sie macht genau das, was Christus empfiehlt; ja sie steigert das Ausmaß des Verzichtes auf heroische Weise, weil sie auf das verzichtet, was für eine Mutter das Kostbarste ist, auf ihr eigenes Kind. So wie Christus stirbt, damit die Menschheit aus den blutigen Opfern heraussteigen kann, so opfert auch die gute Prostituierte ihre eigene Mütterlichkeit, damit das Kind lebt.(3)

Ich nahm aber an dem Begriff »Opfer« Anstoß, weil er zur Beschreibung beider Zusammenhänge genommen werden konnte und damit dazu verhalf, den Unterschied zu nivellieren und den enormen Abgrund, der die gute Prostituierte von der bösen trennt, zu verringern. Aus diesem Grund habe ich lange Zeit den Begriff Opfer nur für eine Lösung reserviert. Für jenen Typus von Opfer, den Salomo vorschlug, und dem die Geste der zweiten Frau für immer die Bedrohung weggenommen hat.

Um diese Entscheidung zu rechtfertigen, habe ich mich auf die prophetische Opferkritik, die auch Jesus in den Evangelien aufgreift, berufen. Ich sprach von einem nicht-sakrifiziellen Christentum, das gerade in der Konfrontation mit all jenen Doktrinen, die die menschliche Gewalt verstecken, als authentisch zu qualifizieren sei: den Religionen, den Philosophien und anderen Denkarten, die deswegen immer auch implizit oder explizit der christlichen Offenbarung gegenüber fremd bleiben.

Indem ich so sprach, wollte ich keineswegs gegen die rechtgläubigen theologischen Positionen, die ich übrigens sehr schlecht kannte, polemisieren. Eigentlich wollte ich nur jene Zweideutigkeit ausräumen, die sich unverändert bei den Nichtchristen und in unseren Tagen auch bei den Christen selber hält, wenn sie den ambivalenten Begriff des Opfers verwenden.

Diese Sorge bleibt weiterhin legitim, doch soll man sie nicht verabsolutieren. Um beide Typen der Religion ­ die mythische und die christliche ­ zu unterscheiden, suchte ich eine Differenz, die auch symbolisch darstellbar, sowie einen Sachverhalt, der so gut wie möglich sichtbar und greifbar sein sollte. Ich hatte zweimal unrecht. Zum einen, weil ­ wie ich dies gerade geschildert habe ­ die von mir so gewünschte radikale Trennung keineswegs absolut notwendig ist, zum anderen, weil, der Rückgriff auf das gleiche Wort zur Bezeichnung von zwei verschiedenen Typen des Opfers ­ mag er auf der oberflächlichen Ebene so verwirrend sein ­ doch etwas essentielles aussagt: Das ist die paradoxale Einheit alles Religiösen in der gesamten menschlichen Geschichte.

Den positiven Wert des Opferbegriffes wiederzuerkennen, gerade weil er die beiden von uns definierten Extreme anzielt, bedeutet demnach keineswegs, die Distanz zwischen diesen Extremen auf eine gewaltsame Art und Weise zu verringern. Ein solches Wiedererkennen ist keine Vermischung im Sinne eines bloßen Amalgamierens, die z. B. mittels irgendeines »Taschenspielerkunststücks« im Rückgriff auf den Begriff des sakrifiziellen Opfers erfolgen könnte. Man soll voll bewußt den unergründlichen Abgrund wahrnehmen, der zwischen den beiden Extremen besteht. Die mimetische Theorie kann sich bei diesem Unternehmen als hilfreich erweisen. Je mehr aber die beiden Extreme voneinander getrennt werden, desto mehr wird deren Verbindung durch ein und dasselbe Wort auf ein wirkliches »Jenseits« dieser Gegenüberstellung hinweisen.

Das Urteil des Salomo legt dieses »Jenseits« nahe. Man kann diesem Text die Minimierung des Abstandes zwischen den zwei Arten des Opfer nicht vorwerfen; indessen: indem man all das sieht, was sie voneinander unterscheidet, muß man sie aneinander heranrücken. Wir selber sagen, daß die zweite Frau, die Rivalität für ihr eigenes Kind opfert, während die erste die Opferung des Kindes zugunsten der Rivalität akzeptiert.

Der Text hat uns zu sagen, daß man unmöglich auf das Opfer im ersten Sinne des Wortes, welches eine Opferung der anderen und die Gewalt gegen den anderen beinhaltet, verzichten kann, ohne ein Risiko auf sich zu nehmen. Es ist das Risiko des Opfers im zweiten Sinne des Wortes, welches das Opfer Christi, der für seine Freunde stirbt, meint. Der Rückgriff auf das gleiche Wort macht schlagartig den Illusionen des neutralen ­ der Gewalt völlig fremden ­ Bodens ein Ende. Ein solcher nicht-sakrifizieller Beobachtungsposten, den die Weisen und die Gelehrten für sich permanent in Anspruch nehmen könnten, um sich die Wahrheit mit geringeren Nebenkosten zu verschaffen, vielleicht auch um die »Wissenschaften vom Menschen zu christianisieren«, wie dies François Lagarde so schön sagt(4), bleibt eine Illusion.

Gott selber wendet das Schema des Sündenbocks wieder an, diesmal allerdings auf seine eigenen Kosten, um es umzustürzen. Diese Tragödie spielt sich keineswegs ohne Ironie ab. Deren Konnotationen sind so zahlreich, daß uns die meisten von ihnen entgehen. Die Ironie kommt zum Teil aus der Homologie beider Opfervorgänge, aus den seltsamen spiegelbildlichen Wirkungen zwischen der Gewalt des einen und des anderen Extrems. Es ist jedoch eine Liebe im Spiel, die unser Begreifs- und Ausdrucksvermögen übersteigt.

Die göttliche Indienstnahme des Sündenbockmechanismus besiegelt die Einheit menschlicher Religiosität, die man sich als einen schleichenden und schrecklichen Weg weg vom ersten hin zum zweiten Opfertypus denken kann. Es ist jedoch ein Weg, der jenseits von Christus unerreichbar ist. Zwischen der Gewalt menschlicher Ursprünge und dem Schema christlicher Erlösung besteht eine Symmetrie, die im Zwischenstadium der jüdisch-christlichen Entsakralisierung noch nicht sichtbar ist. Sinnbildlich gesprochen, könnte man darin eine Rückkehr zu den archaischen Religionen, die durch die Perspektive der desakralisierenden Zwischenstadien mächtig erschüttert wurden, sehen. Es ist aber kein Rückfall zum Archaismus der sakralisierten Sündenböcke. Wenn beide sich gleichen, so nur deswegen, weil die Gewalt die Liebe Christi nachahmt, nicht aber umgekehrt. Wenn sich die Dinge aber so verhalten, dann muß ein weiterer Aspekt extra hervorgehoben werden. Die göttliche Intervention erfolgt ­ wie dies auch Ted Peters(5) schon sagte ­ auf eine äußerst feinfühlige Art und Weise. Ohne jemals die Freiheit des Menschen in Frage zu stellen, ohne daß die Offenbarung als Zwang erscheint, wird der Mensch durch Christus zur göttlichen Wahrheit geleitet.

Anstatt zu einem sakralisierten Sündenbock unter vielen zu werden, ist Christus zu demSündenbock geworden. Er entsakralisiert die vor ihm gekommenen und verhindert die Sakralisierung jener, die nach ihm folgen sollten. Indem er diese Rolle spielt, offenbart er zugleich den wahren Gott, der er selbst ist, und den Menschen, wie er wirklich ist, der lange Zeit dem gigantischen, aber unausweichlichen Irrtum verfallen war, der darin besteht, Gott in die rein menschliche Gewalt einzubeziehen. Christus, sein Vater und der Paraklet sind demnach der einzige wahre Gott, der der johanneischen Definition »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,8), entspricht.

Es gibt zwei Arten von Gottheiten, die radikal einander gegenüberstehen und trotzdem formal einander ähnlich sind. Die archaische resultiert direkt aus der Wirksamkeit der Sündenböcke, die christliche paradoxerweise aus deren Unwirksamkeit, aus der Destruktion falscher Götter.

Den lokalen, irdischen, zeitlichen und ungerechten Sündenböcken der irdischen Religion muß ­ wie Schwager sagt ­ der vollkommene Sündenbock, der zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott ist, gegenübergestellt werden. All den unvollkommenen Opfern, deren Wirksamkeit eine zeitliche und limitierte bleibt, stellt sich das vollkommene Opfer, das all den anderen ein Ende macht, entgegen.

In Des Choses cachées gibt es einige Ideen, die in diese, von mir nun angezeigte Richtung gehen, doch andere ­ vor allem die Kritik des Hebräerbriefes ­ stehen dieser Logik entgegen. Rückblickend erkenne ich hier ein gewisses Zögern und sehe auch den Mangel ein. Dies erlaubt mir heute, im Gegensatz dazu, den entscheidenderen Vorstoß von Schwager zu würdigen.

Aus dem Französischen übersetzt von Józef Niewiadomski.



1. Raymund Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock. Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. München 1978, 214f.

2. René Girard, Les choses chachées depuis la fondation du monde. Paris 1978.

3. René Girard, Sacrifice in Levensons's Work. In: Dialog 34 (Winter 1994) 61f.

4. François Lagarde, René Girard ou la Christianisation des sciences humaines. New York 1994.

5. Ted Peters, Isaac, Jesus und Divine Sacrifice. In: Dialog 34 (Winter 1994) 52­56.

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