Historische und Pädagogische Anthropologie

Die Historische Anthropologie erforscht die kulturelle Gestaltung existenzieller Bereiche menschlichen Seins in ihrem historischen Wandlungsprozess. Sie knüpft u.a. an Fragestellungen der Mentalitäts- und Alltagsgeschichte an, ist keine eigene Disziplin und ihre Forschungen werden innerhalb einzelner Fachwissenschaften betrieben. Dabei spielt die Erziehungswissenschaft eine besondere Rolle, weil Erziehung und Bildung sich an impliziten Menschenbildern orientieren, denen unausweichlich anthropologische Annahmen zugrunde liegen. Die Forschungen der Historischen Anthropologie betonen die radikale Historizität und Kulturalität von Gegenstand und Untersuchung, sind transdisziplinär angelegt, machen eine Methodenvielfalt erforderlich und gehen von einer prinzipiellen Offenheit der Geschichte aus, die immer auch auf die Gegenwart bezogen wird. 

Die Entstehung der Anthropologie verbindet sich zunächst mit dem Aufstieg der naturwissenschaftlichen Medizin in der Renaissance. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierte sie sich u.a. auf (hirn-)anatomische Forschungen, aus denen ein biologistisches Menschenbild abgeleitet wurde. Diese Anthropologie war schließlich von der psychiatrischen Entartungslehre und der sich mit ihr verbindenden Darwinschen Selektionstheorie sowie von Rassentheorien des 19. Jahrhunderts durchdrungen.

Literatur 

  • Bergmann, Anna (2009): Morel, Benedict Augustin (1809-1873). In: Personenlexikon der Sexualforschung, hrsg. von Volkmar Sigusch und Günter Grau. Campus: Frankfurt/New York.
  • Bergmann, Anna (1992): Die verhütete Sexualität. Die Anfänge der modernen Geburtenkontrolle. Rasch & Röhring: Hamburg 1992, Aufbau Taschenbuch Verlag: Berlin 1998.
  • Bergmann, Anna/Czarnowski, Gabriele/Ehmann, Annegret (1989): Menschen als Objekte humangenetischer Forschung und Politik im 20. Jahrhundert: Die Geschichte des Kaiser Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem (1927-1945). In: Götz Aly/Christian Pross (Hg.): Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918-1945. Edition Hentrich: Berlin.

Die Vorstellung eines von Natur aus gegebenen und unveränderlichen Menschseins hielt sich trotz der seit Ende des 18. Jahrhunderts vorgenommen Unterscheidung in physiologische und pragmatische Anthropologie mit Betonung des historisch-kulturellen Charakters im Zusammenhang mit der Zivilisierung und Kultivierung der Menschheit hartnäckig. Erst durch einen Paradigmenwechsel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückt die Rätselhaftigkeit, Komplexität und Sozialität des menschlichen Lebens und auch seine Gefährdung vermehrt ins Zentrum.

Literatur 

  • Lohwasser, Diana (2020): Die quantifizierte Sorge um das Selbst oder Die Sorge um das quantifizierte Selbst? In: Dietrich, Cornelie/Uhlendorf, Niels/Beiler, Frank/Sanders, Olaf (Hg.): Anthropologien der Sorge im Pädagogischen. Weinheim: Beltz Juventa, S. 290-296.
  • Peskoller, Helga (2020): Von der Sorge ums Überleben zum Überleben der Sorge. Am Beispiel Höhenbergsteigen und Weltumsegeln. In: Dietrich, Cornelie/Uhlendorf, Niels/Beiler, Frank/Sanders, Olaf (Hg.): Anthropologien der Sorge im Pädagogischen. Weinheim: Beltz –
  • Peskoller, Helga (2018): Leistung, im Dienst der Lust? In: Schulheft 171, 43. Jg. Lust, die ignorierte Dimension der Pädagogik. Studien Verlag Innsbruck, S. 81-96.
  • Peskoller, Helga (2019): Konkret, gegenwärtig. Im Ernstfall, wenn Raum Zeit wird. In: Lohfeld, Wiebke (Hg.): Spannung Raum Bildung. Reflexionen in anthropologischer und phänomenologischer Perspektive. Weinheim: Beltz Juventa, S. 130-139.
  • Peskoller, Helga (2018): Biber, Pferd und Steinbock: Denkwürdige Begegnungen mit merkwürdigen Tieren. In: Bilstein, Johannes/Westphal, Kristin (Hg.): Tiere – Pädagogisch-anthropologische Reflexionen. Springer VS: Wiesbaden, S. 339-348.
  • Peskoller, Helga (2009): Außer Gewohnheit. Subjektive Ent- und Absicherung in extremen Lebenslagen. In: Wolf, A. Maria/Rathmayr, Bernhard/Peskoller, Helga (Hg.): Konglomerationen – Produktion von Sicherheiten im Alltag. Theorien und Forschungsskizzen. transcript: Bielefeld, S. 199-219.
  • Peskoller, Helga (2008): überlebt. In: Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 1, Heft 2, S. 195 – 209.
  • Peskoller, Helga (2007): Zustände des Untätigseins. In: Paragrana - Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie Band 16, Heft, S. 113-125.
  • Peskoller, Helga (2007): Augenblicke unmöglicher Freiheit. Eine Nachschreibung am Beispiel Eiger-B.A.S.E. In: Peskoller, Helga/Ralser, Michaela/Wolf, A. Maria (Hg.): Texturen von Freiheit. innsbruck university press: Innsbruck, S. 53-77.

Mit dieser Verschiebung der Perspektive geht ein Bedeutungsverlust normativer Anthropologien einher und dadurch konnte in den letzten Jahrzehnten ein dynamisches, offen sich entwickelndes Forschungsfeld konstituiert werden, das auf eine Gesamtdeutung des Menschen zugunsten der Einbeziehung heterogener Aspekte verzichtet. In diesem Zusammenhang liegen eine Reihe von Untersuchungen der Pädagogischen Anthropologie als Arbeitsfeld der Allgemeinen Erziehungswissenschaft vor. 

Literatur 

  • Peskoller, Helga (2020): Mammut, Solo, Kommerz. Zur Technikgeschichte des Expeditionsbergsteigens am Beispiel Everest. In: Bilstein, Johannes/Winzen, Matthias (Hg.): Pädagogische Anthropologie der Technik. Praktiken, Gegenstände und Lebensformen. Springer VS: Wiesbaden, S. 139-160.
  • Peskoller, Helga (2019): Camp. In: Berghardt, Daniel/Zirfas, Jörg (Hg.): Pädagogische Heterotopien. Von A bis Z. Beltz Juventa: Weinheim/Basel, S. 44-58.
  • Peskoller, Helga (2016): Haltbar, leicht und dicht verpackt. Zur Geschichte des Bergproviants. In: Althans, Birgit/Bilstein, Johannes (Hg.): Essen – Bildung – Konsum. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven. Springer VS: Wiesbaden, S. 209-224.
  • Peskoller, Helga (2014): Körperlicher Raum. In: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Springer VS: Wiesbaden 2014, S. 395-401.
  • Peskoller, Helga (2013): Erfahrung. In: Bilstein, Johannes/Peskoller, Helga (Hg.): Erfahrung – Erfahrungen. Springer VS: Wiesbaden, S. 51-78.
  • Peskoller, Helga (2008): Geburt – eine kommentierte Fallgeschichte. In: Wulf, Christoph/Hänisch, Anja/Brumlik, Micha (Hg.): Das Imaginäre der Geburt. Praktiken, Narrationen und Bilder. Fink: München, S. 241-249.
  • Peskoller, Helga (2005): Der Sprung. In: Bilstein, Johannes/Winzen, Matthias/Wulf, Christoph (Hg.): Spiel, Spiele, Spielen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen. Beltz Wissenschaft: Weinheim/Basel/Berlin, S. 209-216.
  • Peskoller, Helga (2004): Abstieg und Rückkehr. Das Animalische religiöser Erfahrung als Blickgeschehen. In: Liebau, Eckart/Macha, Hildegard/Wulf, Christoph (Hg.): Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen. Beltz: Weinheim/Basel, S. 370-381.
  • Peskoller, Helga (1999): Raumverdichtung durch Vertikalität. In: Liebau, Eckart/ Miller-Kipp, Gisela/ Wulf, Christoph (Hg.): Metamorphosen des Raums. Erziehungswissenschaftliche Studien zur Chronotopologie. Beltz: Weinheim/Basel, S. 275-280.
  • Peskoller, Helga (1999): 17 Stunden. Eine Studie zur Qualität von Zeit. In: Liebau, Eckart / Miller-Kipp, Gisela/Wulf, Christoph (Hg.): Transformationen der Zeit. Erziehungswissenschaftliche Studien zur Chronotopologie. Beltz: Weinheim/Basel, S. 310-325.
  • Peskoller, Helga (1998): „...unfassbar und doch wirklich“ – Grundzüge eines anderen Wissens von Menschen. In: Berg´99, München/Wien, S. 241-248).

Pädagogische Anthropologie und Historische Anthropologie greifen ineinander (vgl. Publikationen), sodass man von einer historisch-pädagogischen Anthropologie sprechen kann, die von einem geschichtlich entstandenen, wechselseitigen Verhältnis zwischen Pädagogik und Anthropologie ausgeht: Erziehungs- und Bildungsvorstellungen sind immer schon an anthropologische Konzepte gebunden und anthropologische Vorstellungen müssen auf durch Erziehung, Bildung und Sozialisation bewirkte Entwicklungen bezogen werden. Einen zentralen Schwerpunkt bildet dabei die Kindheit in ihrem historischen Wandel sowie das Wechselverhältnis von sozialen Konstruktionen der Kindheit und realen Kindheitserfahrungen. Diese Beziehungsebenen werden in ihrer Abhängigkeit von Transformationsprozessen der Mutterschaft und Vaterschaft, gesellschaftspolitischen Vorstellungen sowie von ökonomischen Entwicklungen seit der Vormoderne bis zur Gegenwart untersucht. 

Literatur 

  • Bergmann, Anna: Eine andere Geschichte der Kindheit, Aufbau Verlag: Berlin 2012.

Einen weiteren Forschungsbereich bildet die Leiblichkeit und der Körper unter dem Aspekt seiner unterschiedlichen kulturellen Codierungen und Akzentuierungen. Wobei es sich bei dem zugrunde gelegten Begriff vom Körper um einen corpus absconditus handelt, der nur kontextbezogen gedacht werden kann. Aufgrund seiner und der Komplexität der mit ihm verbundenen Prozesse von Abstraktion und Verbildlichung entzieht sich der menschliche Körper im letzten einer vollständigen Erkenntnis. Dadurch gewinnt die Frage nach der Darstellung und des performativen Charakters von sozialen und kulturellen Handlungen oder auch des praktischen Wissens exponierter Körper an Bedeutung. 

Literatur 

  • Peskoller, Helga (2021): Sind Bergsteiger glücklichere Menschen? In: Burghardt, Daniel/Krebs, Moritz/Noack Napoles, Juliane (Hg.): Weiterdenken – Perspektiven pädagogischer Anthropologie. Festschrift für Jörg Zirfas. Beltz Juventa: Weinheim/Basel S. 56-69.
  • Peskoller, Helga (2020): A game against delusion. In: Baitello, Norval Jr.: Norval Baitello 70. Centro Interdisciplinar de Semiotica da Cultura e da Mídi. Sao Paulo, S. 208 – 217.
  • Peskoller, Helga (2018): Natur, Raum, Körper. Zur Transformation von Wissen. In: Engel, Birgit/Peskoller, Helga/Westphal, Birgit/Böhme, Katja/Kosica, Simone (Hg.): räumen – Raumwissen in Natur, Kunst, Architektur und Bildung. Beltz Juventa: Weinheim/Basel, S. 18-37.
  • Peskoller, Helga (2012): zu Fuß. In: Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 22 (2012); dies. (2007): Biwak. Zustände des Untätigseins. In: Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. „Fuß“. Band 16, Heft 1, 113 – 125.
  • Peskoller, Helga (2004): Anatomie der Nüchternheit. In: Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 13, Heft 2, S. 70-80.
  • Peskoller, Helga (2002): Risikotyp Genick brechen. Schwierigkeitsgrad X-. in: du – Die Zeitschrift der Kultur. Angstlust. Heft 70, S. 7-9.
  • Peskoller, Helga (2001): extrem. Böhlau: Wien; dies. (2000): 1 cm - Zur Grenze der Beweglichkeit. In: Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 9, Heft 1, S.107-116.
  • Peskoller, Helga (1999): Körper bilden. In: Bertsch, Christoph/Reichart, Judith/Sandbichler, Heidi (Hg.): Differenz. Ausstellungskatalog, Innsbruck, S. 51-61.
  • Peskoller, Helga (1998): 8000. Ein Bericht aus großer Höhe. in: Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 7, Heft 2, S. 228-240).

Mit der Einführung des ethnographischen Blicks auf Kultur und Geschichte erhalten die anthropologischen Forschungen z.B. über das Verhältnis von „dem Fremden“ und „dem Eigenen“, von Alterität und kultureller Diversität eine neue Qualität. Dieses Spannungsfeld kann am Beispiel des Berges exemplifiziert werden. Er bietet die Perspektive eines Erlebens, das paradox und daher schwer übersetzbar ist. Der Materialität des Berges begegnet man bestenfalls als embodied mind und dieses starke Konzept menschlicher Präsenz gründet in der Selbstverschwendung. Dabei handelt es sich um eine antiökonomische Haltung, die – angesichts der realen Gegenwart eines Berges und zur eigenen Sicherheit – erst noch mit einer Ökonomie der Zurücknahme zu verbinden wäre, wenn es um die Rekonstruktion des Verhältnisses von Natur und Kultur geht. 

Literatur 

  • Peskoller, Helga (2020): Homo periculosus sui. Dargestellt am Beispiel Natur. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. „Den Menschen neu denken“. Band 29, Heft 1, S. 166-176.
  • Peskoller, Helga (2019): Stürzen. In: Krebs, Moritz/Noack Napoles, Juliane (Hg): Bewegungen denken – Pädagogisch-anthropologische Skizzen. Beltz Juventa: Weinheim/Basel S. 93-108.
  • Peskoller, Helga (2015): Berge, Menschen, Meere. Ent- und Absicherung im Durchzug der Elemente. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. „Unsicherheit“. Band 24, Heft 1, S. 39-50.
  • Peskoller, Helga (2010): Freizeit als Leistung. Am Beispiel von Klettern, Wandern, Reisen und der Fitnessmaschine. In: Böhme, Gernot (Hg.): Kritik der Leistungsgesellschaft. Aisthesis: Bielefeld/Basel, S. 85-106.
  • Peskoller, Helga (2003): Wider die Vernunft. In: Liebau, Eckart/ Peskoller, Helga/ Wulf, Christoph (Hg.): Natur. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven. Beltz: Weinheim, S. 51 – 56.
  • Peskoller, Helga (2002): Sport: Rausch, Thrill und Jungbrunnen. In: praev.doc. Berichte des Österreichischen Bildungsforums für fördernde und präventive Jugendarbeit. Heft 1, S 7-10.
  • Peskoller, Helga (2001): Bergeinsamkeit. Vom Wunsch zur Angst des Scheiterns. in: Katschnig-Fasch, Elisabeth/Huber, Cécile/Niegelhell, Anita/Schaller-Steidl, Roberta (Hg.): Einsamkeiten. Orte. Verhältnisse. Erfahrungen. Figuren. Turia + Kant: Wien S. 29-52.
  • Peskoller, Helga (2001): extrem. Böhlau: Wien/Köln/Weimar 2001.
  • Peskoller, Helga (1999): BergDenken. Eine Kulturgeschichte der Höhe. Eichbauer: Wien,3. Aufl.
  • Peskoller, Helga (1991): stay hungry. Zur Disziplinierung des Körpers beim Sportklettern, Video.

Zudem bildet der Medikalisierungsprozess des Leiblichen ein zentrales Themenfeld, das die Normierung des Körpers, der Sexualität, der Geburt, des Sterbens und des Todes durch die moderne Medizin als normative Disziplin behandelt. Das komplexe Beziehungssystem von magischen Vorstellungswelten, Religion und Naturwissenschaft sind auch in der Moderne für die kulturelle Gestaltung dieser Bereiche handlungsanleitend. 

Literatur 

  • Baureithel, Ulrike/Bergmann, Anna: Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende. Klett Cotta Verlag: Stuttgart 1999, 2001.
  • Bergmann, Anna (2004): Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod. Aufbau Verlag: Berlin.
  • Bergmann, Anna (2010): Der zerlegte Körper im Spannungsfeld von Säkularisierung und Magie: Animistische Vorstellungen in der Kulturgeschichte der Transplantationsmedizin. In: Schramm, Hilmar/Schwarte, Ludger/Lazardzig, Jan [Hg.]: Spuren der Avantgarde. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Bd. 5: Theatrum Anatomicum. Verlag Walter de Gruyter, S. 285-312.
  • Bergmann, Anna (2011): Der Tanz aus dem Körper. Tanztrance in Zeiten der Verlassenheit, in: notizen zu alltagskultur und volkskunde: Leib-Eigenschaft 1.


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