Statement zum Film „Disposable Humanity“ von Dagmar Hänsel, Universität Bielefeld

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Opfer der Sterilisation im Rahmen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) waren nicht nur Anstaltsinsassen, sondern auch und in erster Linie Sonderschulkinder. Und Täter waren nicht nur Ärzte, sondern auch Sonderschullehrkräfte.

Während die „Euthanasie“ der Anstaltsinsassen, wenn auch spät, ins öffentliche Bewusstsein gerückt, Teil der kollektiven Erinnerungskultur und intensiver Aufklärungsarbeit geworden ist, zu der auch der gezeigte Film einen wichtigen Beitrag leistet, gilt das für die Sterilisation der Sonderschulkinder und für die Täterschaft der Sonderschullehrkräfte nicht.

Bis heute ist nicht bewusst, dass das GzVeN ein Kindersterilisationsgesetz und ein Sonderschulgesetz war. Das Gesetz sah die Sterilisation der Erbkranken bei Zustimmung der Erziehungsberechtigten mit Vollendung des 10. Lebensjahres und als Zwangssterilisation mit Vollendung des 14. Lebensjahres vor. Durch die Festschreibung des „angeborenen Schwachsinns“, der „erblichen Blindheit“ und der „erblichen Taubheit“ als Erbkrankheiten im Indikationenkatalog des Gesetzes wurden alle Kinder in den zu dieser Zeit bestehenden Sonderschulen als potentiell Erbkranke bestimmt und von der Sterilisation bedroht.

Hilfsschulkinder, die von der Hilfsschulpädagogik seit dem 19. Jahrhundert als „angeboren Schwachsinnige“ und damit als unheilbare Gehirnkranke und überwiegend Erbkranke bestimmt worden waren, stellten die Hauptgruppe der Opfer dar. Sie waren von der Sterilisation nicht nur innerhalb der verschiedenen Gruppen der Sonderschulkinder, sondern auch verglichen mit Anstaltsinsassen überproportional häufig betroffen. Die Hilfsschule wurde denn auch als Sterilisationsschule bezeichnet.

Die Sterilisation im Rahmen des GzVeN galt in erster Linie der „Ausmerze“ des „angeborenen Schwachsinns“, der nicht zufällig an der Spitze des Indikationenkatalogs stand, der auch im Film eingeblendet wurde. Durch den Zusatz „angeboren“ statt „erblich“ und durch die weite Bestimmung des Schwachsinns als Gefühls- und Willensstörung ließ sich der Kreis der Sterilisierten beliebig erweitern. Im Gesetzeskommentar wurde die besondere Notwendigkeit betont, Leichtschwachsinnige und damit Hilfsschulkinder zu sterilisieren. Zudem wurde dort der Anteil der Erbkranken unter Hilfsschulkindern mit zwei Drittel deutlich höher als unter Blinden und Tauben angesetzt. Als Beleg dafür wurde auch auf einschlägige Forschungen von Hilfsschullehrern verwiesen.

Da Anstaltsinsassen geschlechtergetrennt untergebracht waren, erübrigte sich ihre Sterilisation, es sei denn, sie wollten die Anstalt verlassen. Das wird auch im Film am Beispiel der Emilie Rau deutlich, die die Anstalt zur Feier der Silberhochzeit mit ihrem Mann nicht verlassen durfte, weil sie nicht sterilisiert war. An die Stelle der Sterilisation trat für Anstaltsinsassen die „Euthanasie“.

Die Gleichsetzung der Hilfsschulkinder mit „angeboren Schwachsinnigen“ im Sinne des GzVeN konterkarierte das Interesse der Hilfsschullehrerschaft, die Hilfsschule auszubauen, und beförderte ihre Ängste, die Hilfsschule könne als Erbkrankenschule abgeschafft werden. Die generelle Kategorisierung der Hilfsschulkinder als „angeboren Schwachsinnige“ wurde denn auch von der Sonderpädagogik in der NS-Zeit durch ihre neue Kategorisierung als „Hilfsschulbedürftige“ ersetzt. Diese Kategorisierung hatte der promovierte Hilfsschullehrer Karl Tornow eingeführt, der der bedeutendste Sonderpädagoge im Nationalsozialismus war, und mit seiner in zehntausend Exemplaren aufgelegten Broschüre „Denken Sie nur: Unser Fritz soll in die Hilfsschule!“ populär gemacht.

Die Sonderschullehrerschaft arbeitete mit dem Rassenpolitischen Amt der NSDAP (RPA), das Propaganda für die Sterilisation der Erbkranken und antisemitische Hetze betrieb, eng zusammen. In allen Propagandafilmen für das GzVeN, die das RPA gedreht hatte, wurden Erbkranke ausschließlich als Anstaltsinsassen dargestellt. Das gilt auch für den Film „Erbkrank“, aus dem im hier gezeigten Film die erschütterndsten Szenen gezeigt wurden. Nur Im Film „Die Sünden der Väter“, den das RPA 1935 als ersten Propagandafilme gedreht hatte, war kurz das Foto eines Hilfsschülers eingeblendet worden.

Der Film „Erbkrank“, in dem auch massiv antisemitische und rassistische Hetze betrieben wurde, war Sonderschullehrern, gleich nach seiner Fertigstellung und noch bevor er in die Kinos kam, gezeigt worden. Das war 1936 im Rahmen des rassenpolitischen Schulungslagers in Tasdorf bei Berlin geschehen, mit dem sich die Sonderschullehrerschaft erfolgreich für die Zusammenarbeit mit dem RPA andiente. Der Film wurde im Anschluss an den Besuch der psychiatrischen Anstalt in Berlin-Buch gezeigt. Die erschütternden Eindrücke dort, hieß es im Bericht eines Hilfsschullehrers, hätten erneut von der Notwendigkeit erbbiologischer Arbeit überzeugt. Die Zusammenarbeit mit dem RPA wurde im Folgejahr durch die Einrichtung eines Referats für Sonderschulfragen im RPA und durch die Berufung von Sonderschullehrern als nebenamtliche Mitarbeiter des RPA auf Dauer gestellt.

Der Leiter des RPA, Walter Gross, der den Film „Erbkrank“ mit einem Statement zur Rassenhygiene eingeleitet hatte, das im hier gezeigten Film eingeblendet wurde, sollte das Vorwort zu dem rassenhygienischen Sonderschulbuch „Erbe und Schicksal“ schreiben, das Karl Tornow und Herbert Weinert als Sonderschullehrer und Mitarbeiter des RPA verfasst hatten. Weinert war nach der NS-Zeit der bedeutendste Sprachheilpädagoge der DDR.

Die Sonderschullehrerschaft beanspruchte, durch Erziehung, sonderpädagogische Diagnostik und  Propaganda einen unverzichtbaren Beitrag zum GzVeN zu leisten, und bestimmte die Hilfsschule neu als Sammelbecken für erbkranken Nachwuchs.

Die Aufgabe der Erziehung, die die Sonderschullehrerschaft als ihren exklusiven Beitrag zum Gesetz reklamierte, sollte Sonderschulkinder zur Akzeptanz der Sterilisation von Erbkranken und mithin ihrer eigenen Sterilisation führen. Sonderschulkindern wurde suggeriert, sie müssten sich durch ihre Sterilisation für ihre teure Sondererziehung in der Sonderschule als dankbar erweisen und würden durch ihre freiwillige Bereitschaft zur Sterilisation zu Helden des deutschen Volkes werden.

Die sonderpädagogische Diagnostik sollte ermöglichen, die besonders schwer zu erkennenden und abzugrenzenden Fälle der Erbkranken zu identifizieren. Damit waren Hilfsschulkinder gemeint. Die sonderpädagogische Diagnostik beanspruchte, der ärztlichen Diagnostik des angeborenen Schwachsinns im Rahmen des GzVeN überlegen zu sein, weil sie sich nicht wie diese auf eine punktuelle Intelligenztestung beschränke, sondern den Gesamtzusammenhang der Persönlichkeit des Kindes und den Gesamtprozess seiner Entwicklung in der Sonderschule in den Blick nehme.

Die Unverzichtbarkeit der Sonderschullehrerschaft für die Propagandaaufgabe wurde mit ihrem langjährigen Kontakt und ihrem besonderen Vertrauensverhältnis zu Sonderschuleltern und mit ihrer besonderen didaktischen Kompetenz begründet, die sie Ärzten bei der Propagandaarbeit überlegen machen würde. Es war deshalb nur konsequent, dass die Sonderschullehrerschaft für sich einen Platz im Spruchkollegium des Erbgesundheitsgerichts einforderte, das über die Sterilisation entschied.

Die Sonderschullehrerschaft war aber nicht nur an der Sterilisation, sondern auch an der „Euthanasie“ von Sonderschulkindern beteiligt. Das geschah indirekt durch die Wertung von Kindern als Bildungsunfähige und gesellschaftlich Unbrauchbare, die die Hilfsschulpädagogik seit dem 19. Jahrhundert vorgenommen hatte. Mit dieser Wertung war nicht nur der Ausschluss der Kinder aus der Hilfsschule und aus der Schule und Bildung überhaupt verbunden, sondern wurde in letzter Konsequenz auch die „Euthanasie“ gerechtfertigt.

Die direkte Beteiligung an der „Euthanasie“ erfolgte durch Sonderschullehrkräfte, die in psychiatrischen Anstalten in Anstaltshilfsschulen tätig waren, wie es sie etwa in Brandenburg-Görden gab. Dort entschieden sie als pädagogische Fachleute darüber, ob Kinder fähig seien, zur Schule zu gehen. Das war für Kinder, wie im gezeigten Film dargestellt wurde, Entscheidungskriterium für die „Euthanasie“.

Die Sonderpädagogik zieht aus den rassenhygienischen Verbrechen im Nationalsozialismus, an denen die Sonderschullehrerschaft nicht unerheblich beteiligt war, bis heute moralischen Nutzen. Das geschieht dadurch, dass Sonderpädagoginnen und -pädagogen als Retter behinderten Lebens dargestellt und damit in nicht mehr steigerbarer Weise moralisch überhöht werden.

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