IFO 2022

Keynotes

Innsbruck + Nordkette

Keynote 1: Vielen Leuten sagen, was uns wichtig ist

Jugendbeirat für den Tiroler Monitoring-Ausschuss zur Umsetzung der UN-BRK

 

Der Tiroler Monitoringausschuss überwacht die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in Tirol. Um auch die Erfahrungen und Perspektiven von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen einzubeziehen, gibt es seit Februar 2019 den Jugendbeirat für den Tiroler Monitoringausschuss. An den monatlichen Treffen in einem Jugendzentrum nehmen zwischen 10 und 14 Jugendliche teil. Die Treffen werden von einer mit den Menschenrechten von Kindern mit Behinderungen vertrauten Unterstützerin vorbereitet und moderiert. Während der Lockdowns fanden Treffen auch online statt. (1)

Jugendbeirat für den Tiroler Monitoringausschuss zur Einhaltung der UN-BRK

Oft berichten die Jugendlichen bei den Treffen über Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen: „Viele von uns sind wegen ihrer Behinderung schon ausgelacht, verspottet oder ausgeschlossen worden. Wenn jemand langsam spricht, sind andere Menschen oft ungeduldig. Bei unseren Treffen versuchen wir Geduld zu haben, auch wenn jemand nicht so gut sprechen kann. Niemand soll ausgeschlossen werden! Wir wollen in der Freizeit selbst entscheiden, was wir machen, und überall dabei sein können! Oft gibt es aber Barrieren oder es gibt keine Unterstützung dafür.“ (2)

Besonders wichtig ist den Jugendlichen, „dass wir bei Veranstaltungen sprechen können. Am Tollsten sind die öffentlichen Sitzungen vom Tiroler Monitoringausschuss im Landhaus, weil wir dort vor vielen Leuten reden und ihnen sagen können, was uns wichtig ist.“ (3) In diesem Sinn werden Aktivist:innen des Jugendbeirats auch bei der IFO 2022 an der Universität Innsbruck ihre Stimme erheben.


(1) Nähere Informationen zum Jugendbeirat für den Tiroler Monitoringausschuss: https://www.tirol.gv.at/gesellschaft-soziales/gleichbehandlung-antidiskriminierung/tiroler-monitoringausschuss/jugendbeirat/

(2) Jugendliche aus dem Jugendbeirat, zit. nach Flieger, Petra (2020). Niemand soll ausgeschlossen werden! Der Jugendbeirat für den Tiroler Monitoringausschuss. In: Zum Beispiel 4/2020. Thema: Junge Aktivist:innen, die die Welt verändern möchten, die aktiv werden und für ihre Rechte aufstehen, 20.

(3) Ibid.


Keynote 2: Zurück zu den Wurzeln inklusiver Forschung: Regionale und internationale Verortungen von Widerständigkeiten, Errungenschaften und Solidaritäten. Ein Dialog der Generationen 

Prof. Dr. Volker Schönwiese/Dr. Josefine Wagner (Universität Innsbruck)

 

Inklusionsforschung bedeutet Widerstand. Sie erforscht Wege und Möglichkeiten, die Binarität von gesund und krank, abweichend und konform, dazugehörig und fremd zu durchbrechen, mit dem Ziel soziale Räume für das gesamte Spektrum menschlicher Existenz zugänglich zu machen.

In Tirol eröffnet sich zwischen Hall und Reutte, auf einer Distanz von 130 Kilometern, die gesamte Bandbreite gesellschaftlicher Erfahrungen behinderter Menschen im zentraleuropäischen Raum des 20. Jahrhunderts. Wir leben dabei gleichsam zwischen den Erinnerungssräumen der Nazi-Pflege- und Heilanstalt in Hall wie in den Entwicklungsräumen der Gemeinde Reutte, in der seit den 1980er Jahren ein anderes Zusammenleben und Lernen von Menschen möglich wurde, durch das Engagement von Eltern, Schuldirektionen und Behörden.

Ausgangspunkt unseres Dialogs der Generationen kann unter aktuellen Bedingungen des Drucks in Richtung „Retrotopia“ und vielfältiger neuer Spaltungen ein Blick zurück auf die Begründungen und Aufbrüche in Theorie und Praxis der schon historischen Inklusionsbewegung sein. „Nur wenn der Lehrer Mündigkeit erfahren hat, kann er auch im Klassenzimmer Situationen schaffen, die wiederum Mündigkeit zulassen“, schrieb Karl Köppel der „Vater der österreichischen Integrationsbewegung“ seitens der Lehrer_innenbildung (seit den 1970ern). Ihm waren drei Leitbegriffe zentral - Ganzheitlichkeit, Ökologie, Mündigkeit.

Kann ein Rückblick auf Konzepte wie z.B. Dialog, kritisch-(re-)konstruktive Bildung, Pädagogik der Vielfalt, dialogische Validierung, Identität, usw. Räume für die Analyse der aktuellen Entwicklungen, Befindlichkeiten, Mentalitäten und die Systemlogik inklusiver Schule in Theorie und Praxis ermöglichen? Wie können inklusive Räume individuell und auf gesellschaftliche Bedingungen hin reflexiv ausgelotet und verändert werden? Aktivistisch kann gefragt werden, warum und für wen forschen wir überhaupt?

In ethnographischer Tradition des Perspektivwechsels von strange to familiar and back again möchten wir den Dialog regional und international ansetzen und beleuchten, wie Gemeinschaften geschaffen werden, in denen Akzeptanz und Teilhabe gelebt und immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden.

Prof. Dr. Volker SchönwieseDr. Josefine Wagner


Volker Schönwiese, a.o. Univ- Prof. i.R. Dr., hat von 1980 bis 2013 an der Universität Innsbruck den Lehr-und Forschungsbereich Inklusive Pädagogik und Disability Studies aufgebaut; zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Inklusion und Disability Studies, Projekte zur Disability History, wie „Das Bildnis eines behinderten Mannes aus dem 16. Jahrhundert“ (http://bidok.uibk.ac.at/projekte/bildnis/index.html ) und „Geschichte der Behindertenbewegung in Österreich“ (http://bidok.uibk.ac.at/projekte/behindertenbewegung); Gründer der digitalen Bibliothek BIDOK (http://bidok.uibk.ac.at/) zu Fragen der Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Seit den 1970er-Jahren Teil der Gründungsgeneration der Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich.


Josefine Wagner forscht und lehrt am Arbeitsbereich der Inklusiven Pädagogik des Instituts für LehrerInnenbildung und Schulforschung der Universität Innsbruck. Als Bildungsethnographin beschreibt sie wie die schulische Inklusion in Polen, Österreich und Deutschland in Schulkulturen verhandelt, zurückgewiesen oder ausgestaltet wird und verortet ihre Beschreibungen in historischen, politischen und regionalen Traditionen. Josefine Wagner ist Preisträgerin des Concha Delgado Gaitan Presidential Fellow Awards der American Anthropological Association (2019), Visiting Scholar des United States Holocaust Memorial Museums (2020) und ehemalige Sekundaschullehrerin (2014-2016).

Aktuelle Publikationen:

Wagner, J. (2023). Schools for Whom? Struggling for Inclusion in Disabling Societies. (forthcoming book project)

Wagner, J. (2022): Ada, Ada, Ada and Ada: Transforming Learner Identities through Social Practice. Anthropology and Education Quarterly (in review).

Wagner, J. (2021): Flags, Crucifix, and Language Regimes: Space-Marking in Three Central European Primary Schools. Journal of Social Science Education 20 (4). https://doi.org/10.11576/jsse-4517.

Wagner, J. (2019). “Weakness of the Soul:” The Special Education Tradition at the Intersection of Eugenic Discourses, Race Hygiene and Education Policies. Conatus (Special Issue: Bioethics and the Holocaust), 4:2, 83-104. http://dx.doi.org/10.12681/cjp.21073


Keynote 3: Refiguration. Aktuelle Probleme und Theorien der Raumsoziologie

Prof. Dr. Martina Löw (Technische Universität Berlin)

 

Das Verhältnis der Menschen zu ihren Räumen hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Sowohl durch politische als auch durch technische Entwicklungen haben sich die Orientierung gebenden Raumbilder vervielfältigt. Das führt zu einer deutlich gestiegenen Komplexität des Alltags und zu einem grundlegenden Wandel der Gesellschaft.

Martina Löw wird in ihrem Vortrag anhand neuester raumsoziologischer Theorien aktuelle Probleme des sozialen und räumlichen Wandels analysieren. Sie wird die These entfalten, dass es in den letzten Jahrzehnten zu einer Pluralisierung von Raumfiguren gekommen ist. Da jede Raumfigur an eine eigene Handlungslogik gebunden ist, kommt es nicht nur zu Handlungsproblemen, sondern auch zu gegensätzlichen Inklusionsmöglichkeiten. Am Themenfeld der Räume untersucht Martina Löw aktuelle Machtfelder und Konfliktformen in Gesellschaften weltweit.

Prof. Dr. Martina Löw


Martina Löw ist Professorin für Soziologie an der TU Berlin. Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Stadt-, Planungs- und Architektursoziologie sowie Raumtheorie. Von 2011 bis 2013 war sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Derzeit ist sie Sprecherin des DFG-Sonderforschungsbereichs „Re-Figuration von Räumen“. Martina Löw ist Mitglied des Steering Committee der Berlin University Alliance und dort verantwortlich für das Forschungsförderprogramm Social Cohesion.

Aktuelle Publikationen:

Löw, Martina: Vom Raum aus die Stadt denken. Bielefeld: transcript 2018.

Löw, M., Saymann, V., Schwerer, J., Wolf, H. (Hg.): Am Ende der Globalisierung. Über die Refiguration von Räumen. Bielefeld: transcript 2021.

Bernroider, Lucie; Knoblauch, Hubert; Löw, Martina: Der Sonderforschungsbereich (SFB) 1265 „Re-Figuration von Räumen“ – Einblicke in einen Forschungsverbund zur interdisziplinären Raumforschung. In: sozialraum.de(13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/der-sonderforschungsbereich-sfb-1265-re-figuration-von-raeumen.php.


Keynote 4: Post/Pandemisches Leben. Über Fragilität und Verantwortung.

Prof. Dr. María do Mar Castro Varela (Alice Salomon Hochschule Berlin/Universität Wien)

Unser soziales Leben ist ein fragiles Gebilde, unsere Körper sind zart und porös, unser moralisches Urteilsvermögen zuweilen unglaublich schwach. Die Pandemie, die unser Leben so lange schon bestimmt, wirkte wie ein Brennglas. Soziale Ungleichheiten traten noch stärker zum Vorschein als dies bereits in sogenannten ‚normalen Zeiten‘ der Fall ist. Gleichsam wurden unsere ethischen Reflexe einem Stresstest ausgesetzt. In post/pandemischen Zeiten wird es darum gehen, eine Politik der Stärke und der Ignoranz, die die eigene Fragilität nicht wahrhaben will und deswegen ausgrenzend argumentiert sowie gewalttätig agiert, zu überdenken. Ein post/pandemisches Leben verweist auf die Notwendigkeit, mörderische Assemblagen nicht nur zu analysieren, sondern in diese zu intervenieren. Inklusion beispielsweise ist nicht in erster Linie eine strategisch-organisatorische, aber insbesondere eine ethische Frage. Im Vortrag werden Grundzüge einer Theorie der Fragilität entfaltet, die argumentiert, dass es notwendig ist sich von einer Politik der Stärke zu distanzieren und die Abhängigkeit vom anderen zu akzeptieren.

Prof. Dr. María do Mar Castro Varela


Castro Varela, María do Mar (Prof. Dr.), Diplom-Psychologin, Diplom-Pädagogin und promovierte Politikwissenschaftlerin, ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die Gender und Queer Studies, die Postkoloniale Theorie, die Kritische Migrationsforschung, die Kritischen Bildungswissenschaften, Trauma Studien und Verschwörungsnarrative. Zurzeit hat sie die Sir Peter Ustinov Gastprofessur am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien inne. Unter anderem war sie in 2015/16 Senior Fellow am Institut für die Wissenschaft des Menschen (IWM) in Wien. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe „Radiating Globality“ unter Leitung von Gayatri C. Spivak (Columbia University), Gründerin und Mitglied des bildungsLab*, Principal Investigator der Forschungsprojekte CILIA-LGBTIQ+ (NORFACE) und DigitalerHass (IFAF) und Vorsitzende des Berliner Instituts für kontrapunktische Gesellschaftsanalysen (BIKA e.V.).


Keynote 5: Territorien des Terrors, Achsen des Ableismus und Inseln der Inklusion – Sondierungen zum Zusammenspiel von Schule, Raum und Fähigkeit

Prof. Dr. Tobias Buchner (PH Oberösterreich)


Im Vortrag werden zunächst die Relationen zwischen Raum, dis*ability und (inklusiver) Bildung entfaltet. Schule wird dabei als Ensemble von relationalen Räumen gedacht, in denen Kinder zu Schüler*innen gemacht und in einer spezifischen Art und Weise befähigt werden sollen. So sind Schüler*innen dazu angehalten, sich die in ihrer Epoche relevant gesetzten Fähigkeiten sowie Wissensformen anzueignen – um gleichzeitig entlang der Performanz dieser Aneignungen unter ableistischen Parametern beurteilt, gegliedert und (different) platziert zu werden. Dementsprechend sind Räume auch häufig durch behindernde Fähigkeitserwartungen strukturiert. Inklusion tritt als Gegenspielerin zur ableistischen Matrix von Schule an. Unter den Dächern der Regelschule sollen über inklusive pädagogische Praktiken Räume hervorgebracht werden, die durch Fähigkeitserwartungen gekennzeichnet sind, welche den individuellen Lerndispositionen und -bedürfnissen von Schüler*innen entsprechen. Derart sollen umfassende Formen von Teilhabe, die Anerkennung aller sowie sozial gerechtere Modi der Befähigung ermöglicht werden. Bildungspolitisch wird jedoch seit jeher eine Strategie der Domestizierung sowie der Territorialisierung von Inklusion betrieben – bei gleichzeitiger Forcierung neoliberaler Praktiken und Beibehaltung der meritokratischen Pfeiler von Schule. Wie im zweiten Teil des Vortrags exemplarisch anhand empirischer Erkundungen aufgezeigt wird, führen die skizzierten, gleichzeitig auf Schule wirkenden Diskurse, unter der Oberfläche von als inklusiv intendierten Unterrichtssettings zu einem Kontinuum von Mikroräumen, das zwischen (mehrheitlich) grob binarisierten und verfeinerten Versionen von Fähigkeitserwartungen oszilliert – insgesamt jedoch durch die ableistischen Achsen von Schule strukturiert wird. Mitunter entstehen jedoch, den ableistischen Strömungen zum Trotz, auch inklusive Inseln – die auf das Potenzial widerspenstiger Praktiken in Breiten der schulischen Basis verweisen.


Prof. Dr. Tobias Buchner

Hs.-Prof. Dr. Tobias Buchner leitet das Institut für Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich. Buchner ist zudem stellvertretender Vorsitzender des österreichischen Unabhängigen Monitoringausschusses zur Überwachung der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Seit 2015 ist er Chair der Special Interest Research Group ‚Inclusive Education‘ der International Association for the Scientific Study of Intellectual and Developmental Disabilities (IASSIDD).

Buchners Forschungsschwerpunkte sind Inklusive Bildung, Ableism, Raum und Bildung, Curriculum Studies sowie Inklusive Forschung.



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