Die Winkelharfe aus Fritzens-Pirchboden
Klangerzeugung/musikalische Praxis
Im Folgenden wird nicht von Klangerzeugung, sondern von Musik im Sinne des Erzeugens organisierter Klänge gesprochen.
Saiten
Material
Eine Saite ist ein dünner Strang aus Naturdarm, Pflanzenfasern, Metall, Tierhaar, Kunsstoff oder anderem Material, der als Saitenbezug auf ein Saiteninstrument gespannt wird.1
Das Herstellen von Darmsaiten hat eine jahrtausendealte Tradition, die von der Herstellung von Bogensehnen herrührt. Man kannte sie bereits im Alten Ägypten, wie der Fund einer nahezu vollständig erhaltenen Laute im Grab des Musikers Harmosis aus der 18. Dynastie (1479 bis 1458 v. Chr.) belegt. Das Material für Darmsaiten wird aus den Därmen von Schafen oder anderen Huftieren gewonnen und in Europa seit dem späten Mittelalter nach einer im Prinzip unveränderten Methode verarbeitet. Der Darm wird gereinigt, entfettet, in einer Lauge aus Pottasche (Kaliumcarbonat) und Wasser gebadet und anschließend zu Streifen geschnitten. Nach der Verdrehung und der Lufttrocknung wird die Saite mit Schwefel behandelt und zum weiteren Trocknen straff gespannt.
In China waren schon früh Seidensaiten2 bekannt, die spätestens im 9. Jh. auch in Europa zur Lautenbesaitung benutzt wurden (Cordoba).
Bekannt ist die Verwendung von Rosshaarsaiten bei den Reitervölkern Zentralasiens, nicht nur für Bögen von Streichinstrumenten, sondern auch zur Besaitung.3 Eine einzelne Saite besteht aus 100 bis 130 einzelnen Haaren eines Pferdeschweifes, die bei Streichinstrumenten wie der mongolischen Morin Chuur weder miteinander versponnen noch umwickelt sind.
Im europäischen Raum können Pferdesaiten bei piktischen Harfen aus Schottland vermutet werden, für Wales (Telyn Rawn) sind sie belegt.4 Auf piktischen Steinreliefs aus dem 8.-9. Jh. n.Chr. finden sich Darstellungen der ältesten Harfen Nordeuropas (z.B. im Groam House Museum of Pitish Art, Rosemarkie, Black Isle, Schottland).
als Spolie im Lethendy Tower, Perthshire, Großbritannien, verbaut.
http://canmore.org.uk/collection/449889
Der Harfenbauer Bill Taylor mit einer Pferdesaitenharfe. S.a. Ardival Harps.
https://www.youtube.com/watch?v=7fHqjxb9JfY
An Zupfinstrumenten sind die Pferdehaarsaiten verdreht, wie die Bespannung einer karelischen Lyra zeigt.
Metallsaiten aus Bronze sind literarisch aus dem 12. Jh. in Wales belegt.4
Bespannung
Die Spuren am Geweihhals können die Art der Saitenbespannung nicht eindeutig belegen, es sind mehrere Optionen vorstellbar.
Version 1
Vertikale und horizontale Haltung des Instruments sind möglich. Spieltechnisch werden die Saiten gezupft, können aber auch wie eine Jochleier gespielt werden (Saitenabdämpfung mit Handballen). Bei horizontaler Haltung ist wegen der Position des vorderen Stützstabs ein Anschlagen mit Stäbchen unwahrscheinlich.
Filmbeispiel: Gottfried Heel, Ensemble Tempus, beim Aufziehen der Saiten aus Darm
Klangbeispiel, gespielt als vertikale Winkelharfe von Nancy Thym
Klangbeispiel, gespielt als Jochleier von Nancy Thym
Version 2
Vertikale Haltung, spieltechnisch werden die Saiten gezupft.
Version 3
Vertikale und horizontale Haltung des Instruments sind möglich. Spieltechnisch werden die Saiten gezupft, Spielweise wie bei einer Jochleier sind nicht möglich.
Eine Analyse der Nutzungsspuren zeigt diese beidseits des Halses. Es sind mehrere Varianten der Saitenführung möglich.

Stimmen
Vorerst war man davon ausgegangen, daß zum Stimmen der Saiten Knebel aus Holz verwendet wurden. Da Holz allerdings am härteren Geweih keine Spuren hinterläßt, weisen diese eher darauf hin, dass Knebel aus Knochen oder Zähnen von Tieren verwendet wurden. Dieses lässt sich durch materielle Funde aus dem nordischen Raum belegen.
Als Beispiel sei auf drei sibirische Jochleiern verwiesen, die sich im Finnischen Nationalmuseum in Helsinki befinden. Sie stammen aus der Autonomen Republik Okurg und wurden von den Ethnien der Mansi und Khanty gespielt, wo sie als Sangkultap und Naresyukh (auch: nares-jux) bezeichnet werden. Als Knebel werden unterschiedliche Materialen verwendet.



Alle drei Beispiele zeigen Knebel am Joch einer Naresyukh der Khanty, Abb. 1 eine Kombination aus Holz und Knochen, auf Abb. 2 sind die Knebel aus Zobelknochen und auf Abb. 3 sind Holz und Elchzähne.
(Fotos: Gjermund Kolltveit, Nationalmuseum Helsinki, Finnland; freundliche Vermittlung durch Nancy Thym)
Interessant ist die offensichtliche Verwendung einer schwarzen Masse, die in Abb. 3 gut an den Zähnen und Holz erkennbar ist. Man könnte davon ausgehen, dass diese die Rutschfähigkeit des Materials reduziert und dadurch ein Verstimmen der Saiten weitgehend minimiert wird.
Bemerkenswerterweise sind auch am Hals der Fritzener Harfe Spuren einer schwarzen, offensichtlich zähflüssigen Substanz festgestellt worden.
Stimmhilfe (interpretative Schlussfolgerung)
(Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Syntagma17_Kele_Harp.jpg, 21.10.2023)
Eine Abbildung aus der "Syntagma musicum XXXI" des Michael Praetorius4 von 1620 zeigt eine afrikanische Kele Harfe. Sie entspricht dem Typ Ngombi und dürfte eine der ältesten europäischen Darstellungen dieses Harfentyps sein. Auffällig ist der vorn aufliegende Stimmschlüssel, der oben an der spielerzugewandten Seite des Halses angehängt ist.
Auch die spielerzugewandte Stirnseite des Pferdeprodoms der Fritzener Harfe weist eine durchgehende Bohrung auf, die zur Befestigung eines verleichbaren Objekts gedient haben könnte. Im Gegensatz dazu ist der zweite Pferdekopf ist nicht durchbohrt.
1https://de.wikipedia.org/wiki/Saite (11.01.2024)
2 Wie noch heute bei der 16-saitigen burmesische Saung gauk. Siehe auch: Klangerzeugung - Spielvarianten - Haltung - Bildergalerie "Horizontal", Abb. 9-11 (https://www.uibk.ac.at/archaeologien/forschung/arbeitsgemeinschaften/musikarchaeologie/harfe/klangerzeugung_halten.html)
3 Siehe auch: Rekonstruktion - Saitenmaterial - Bildergalerie "Saitenmaterial", Abb. 4 (https://www.uibk.ac.at/archaeologien/forschung/arbeitsgemeinschaften/musikarchaeologie/harfe/rekonstruktion_nachbau.html)
4 Der Wolfenbütteler Komponist und Hofkapellmeister Michael Praetorius (1571-1621) hinterließ neben einer großen Anzahl eigener Kompositionen auch musikwissenschaftliche Schriften, dessen bedeutendstes, das Syntagma musicum (Band 1, Wittenberg/ Wolfenbüttel 1615; Band 2–3, Wolfenbüttel 1619; Neudruck Kassel 1958–1959), als wichtigste Quelle zur musikalischen Praxis des Frühbarocks und Sammlung aller damals gebräuchlichen Musikinstrumente gilt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Syntagma_musicum, 07.02.2024)