Diabetes ist tödlicher als Terroranschläge

Wie beeinflussen die Übergewichtung kleiner Wahrscheinlichkeiten und die Verfügbarkeitsheuristik unser Leben negativ?

Sommersemester 2022: Lena Kofler und Magdalena Rigger

Unter der Verfügbarkeitsheuristik versteht man Wahrnehmungen, die dazu führen, dass sich Menschen leichter an gewisse Ereignisse erinnern können als an andere und dadurch das Einschätzungsvermögen von Wahrscheinlichkeiten beeinflusst wird (Pachur, Hertwig & Steinmann, 2012: S.315). Ereignisse mit hoher Berichterstattung und hohem Erinnerungspotenzial werden folglich mit einer höheren Eintrittswahrscheinlichkeit bewertet, da diese stärker wahrgenommen werden als Ereignisse mit niedriger Berichterstattung (Glaser, 2019: S. 130).

Der Terroranschlag am 11.September 2001 gilt als Paradebeispiel für die Verfügbarkeitsheuristik. Millionen von Menschen konnten den Einschlag des zweiten Passagierflugzeuges in den Südturm des World Trade Centers auf den Bildschirmen mitverfolgen. Die hohe Berichterstattung der Ereignisse am 11.September wirkte sich vor allem in den USA aber auch weltweit massiv auf die Wahrnehmung und Wahrscheinlichkeitseinschätzung der Menschheit aus. Bei einer Studie der Süddeutschen Zeitung gaben 50% der Befragten an, dass sich ihre Lebensweise aufgrund des Terroranschlags verändert hat. Neun Jahre nach dem Anschlag wissen 95% der Befragten noch immer, was sie zum Zeitpunkt des Ereignisses getan haben beziehungsweise, wo sie die Berichterstattung erreicht hat. Bis heute, über 20 Jahre nach dem Anschlag, beeinflusst 9/11 das Leben vieler Menschen (Süddeutsche Zeitung, 2010).

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Abbildung 1: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1223867/umfrage/todesfaelle-in-den-usa-nach-todesursache/#professional

Abbildung 1 veranschaulicht die Ursachen für Todesfälle in den USA im Jahr 2020. Die drei häufigsten Todesursachen waren Herz-, Krebs- und Covid-19-Erkrankungen. Über 200.000 Todesfälle wurden aufgrund von Unfällen verzeichnet gefolgt von weiteren diversen Krankheiten wie Hirngefäßerkrankungen, chronische Erkrankungen, Alzheimer, Diabetes sowie Lungen- und Nierenentzündungen (Statista, 2022). Analysiert man die Todesfälle am 11.September, so lässt sich feststellen, dass dieser Anschlag rund 3.000 Menschenleben forderte. Unter der Annahme, dass wöchentlich 3.000 Menschen aufgrund eines Terroranschlages sterben, entspreche dies jährlich 156.000 Terrortodesopfer. Nahezu gleich viele Menschen sterben jährlich in den USA an Diabetes. Eine Studie fand heraus, dass obwohl diese Krankheit eine solch hohe Zahl an Todesopfern fordert, Menschen die Wahrscheinlichkeit Diabetes zu entwickeln aufgrund der fehlenden Berichterstattung unterschätzen (Kowall et al., 2017).

Obwohl verhältnismäßig wenig Todesopfer durch den Terroranschlag am 11.September, im Gegensatz zu anderen Todesursachen, verzeichnet wurden, schätzten die Menschen kurz nach den Anschlägen die Wahrscheinlichkeit auf einen weiteren Anschlag sehr hoch ein. Diese Wahrscheinlichkeitseinschätzung hatte massive Auswirkungen auf den Luftverkehr. Durch verschärfte Sicherheitskontrollen, sowie vermehrte Security Checkpoints, Stichprobenuntersuchungen und Flüssigkeitsbeschränkungen des Handgepäcks, als auch durch die Angst vor weiteren Anschlägen wurden Passagierflugzeuge als wenig attraktives Transportmittel bewertet (Blalock, Kadiyali & Simon, 2007). Wohingegen einen Tag vor dem Anschlag noch über 38.000 Flüge in den USA verzeichnet wurden, kam es an den drei Folgetagen nach dem 11.September 2001 zu einer Sperrung von Internationalen Flügen. Durch die neuen und verschärften Regelungen wurden Umbaumaßnahmen erforderlich, welche beispielsweise alleine für die Lufthansa Kosten in der Höhe von über 30.Millionen Euro verursachten. Flugairlines wie Sabena und Swissair konnten diese immensen Umbaukosten mit dem gleichzeitigen Rückgang der Nachfrage nicht standhalten und mussten ihren Betrieb einstellen (Zeit online, 2011). Die Luftfahrtbranche verzeichnete Verluste in der Höhe von 40 Milliarden Dollar (Süddeutsche Zeitung, 2010).

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Abbildung 2: https://docplayer.org/5839973-Gefuehltes-wissen-die-erforschung-der-intuition-gerd-gigerenzer.html

Die Substitution von Flugzeugen auf andere Transportmittel lässt sich anhand der Prospect Theory von Tversky und Kahnemann beschreiben. Diese Theorie besagt, dass geringe Wahrscheinlichkeiten, wie die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Terroranschlag, durch die massive Medienberichterstattung und die damit verbundene Angst der Menschen selbst Opfer zu werden, überbewertet werden (Blalock, Kadiyali & Simon, 2007). Durch den vermehrten Gebrauch von Autos als Fortbewegungsmittel nach dem Anschlag wurden in den USA im darauffolgenden Jahr 1.595 zusätzliche Verkehrsunfälle verzeichnet. Michael Rothschild, Universitätsprofessor der University of Wisconsin, errechnete, dass die Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall zu sterben bei 1 zu 7.000 liegt wohingegen die Wahrscheinlichkeit bei einer Flugreise zu sterben bei 1 zu 6.000.000 liegt (The Guardian, 2011).

Zusammenfassend lässt sich anhand des Beispiels des Anschlages am 11.September feststellen, dass sich die Übergewichtung kleiner Wahrscheinlichkeiten und die Verfügbarkeitsheuristik vor allem negativ auf das Leben der US-Amerikaner ausgewirkt haben. Durch die massive Berichterstattung wurden zum einen Angstgefühle bei der Bevölkerung ausgelöst und zum anderen die Wahrscheinlichkeitsbewertung auf einen weiteren Anschlag beeinflusst. Dadurch wechselten viele Menschen von Flugzeugen auf Autos und gingen unbewusst ein höheres Sterberisiko ein. Da man die mediale Berichterstattung nicht beeinflussen kann, ist es für die Menschen wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass die Berichterstattung kein getreues Bild der Wahrscheinlichkeitsverteilung darstellt.

Literaturverzeichnis:
Blalock, G., Kadiyali, V., & Simon, D. H. (2007), The impact of post-9/11 airport security measures on the demand for air travel, The Journal of Law and Economics, 50(4).

Glaser, C. (2019), Risiko im Management: 100 Fehler, Irrtümer, Verzerrungen und wie man sie vermeidet, Springer-Verlag.

Kowall, B., Rathmann, W., Stang, A., Bongaerts, B., Kuss, O., Herder, C., Roden, M., Quante, A., Holle, R., Huth, C., Peters, A., & Meisinger, C. (2017), Perceived risk of diabetes seriously underestimates actual diabetes risk: The KORA FF4 study, PloS one, 12(1).

Pachur, T., Hertwig, R., & Steinmann, F. (2012), How do people judge risks: availability heuristic, affect heuristic, or both?, Journal of Experimental Psychology, 18(3).

Statista (2022): Todesfälle in den USA nach Todesursache 2020, [online], link: USA - Todesfälle nach Todesursache | Statista, aufgerufen am 10.Mai 2022.

Süddeutsche Zeitung (2010): Der 11.September 2001 und die Folgen – eine Bilanz in Zahlen, [online], link: https://www.sueddeutsche.de/politik/statistik-der-11-september-2001-und-die-folgen-eine-bilanz-in-zahlen-1.741126, aufgerufen am 10.Mai 2022.

The Guardian (2011), September 11’s indirect toll: road deaths linked to fearfull flyers, [online], link: September 11's indirect toll: road deaths linked to fearful flyers | US news | The Guardian, aufgerufen am 10.Mai 2022.

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