Gnade in einer gnadenlosen Welt

Józef Niewiadomski

Gliederung der Vorlesung im SS 1999

0. Prolegomena

Gnade in einer gnadenlosen Welt

Warum dieser Titel?

Wegen der notwendigen Korrespondenz zwischen der Alltagserfahrung und der Doktrin

Bekenntnis:

Wir glauben, daß wir im voraus zu unserem Tun, Denken und Leben von der "Liebe Gottes" geprägt wurden und dauernd auch getragen werden!

Erfahrung der Gnade

(in einer gnadenlosen Welt, die aber die religiöse Sprechweise von der Gnade banalisiert - vgl. P. Turrini, Tod und Teufel)

Struktur der Vorlesung:

I. "Methodischer Schwank": Gnadentheologie im Kontext einer methodologischen Metapher

(dogmengeschichtlicher Teil)

II. Menschliche Erfahrungen von Gnade und Gnadenlosigkeit im Horizont ihrer Geschichte mit dem empathischen Gott (biblischer Teil)

III. Systematische Mosaiksteine

Präludium

Ausgangspunkt des dogm. Denkens

1. früher:

- Axiomatik der "Denzinger-Theologie": Kompendium an Dogmen, Sentenzen

- Querhinweise zur Bibel, zu den Kirchenvätern, scholastischen Autoren

- Abgrenzung zu den Gegnern

- Trennung zwischen der "dogmatischen Wahrheit" und pastoralen Tatsachen

2. Situation nach dem Vatikanum II:

- Gaudium et spes: Notwendigkeit einer neuen dogmatischen Kultur

- Identifizierung mit den Menschen von Heute/Emphatie als primärer ekklesialer Grundvollzug, weil Empathie Gottes

- Fokussierung des theol. Denkens auf die biblischen und pastoralen Fächer (Dogmatik als Negativfolie)

3. "Mein Selbstverständnis"

- Ausgangspunkt: unsere gegenwärtige Welt

liberale Kultur der Gegenwart, durch Markt und Medien strukturiert; der "versteckte" religiöse Anspruch: extra mercatum nulla salus; extra media nulla salus;

Spannung zwischen der liberalen Kultur und dem kirchlich vermittelten "Gott"

- Jüdisch-christliche Tradition (biblische und dogmatische Kultur)

als Maßstab zur Würdigung und Kritik der liberalen Kultur

(Bekenntnis: Lange vor dem Markt und seinen Mechanismen und auch vor der medial strukturierten Welt ist "Gott" und seine "Gnade" gewesen und sie werden auch nach ihnen sein)

- Fragmentarische Präsenz der jüdisch-christlichen Tradition in unserer Öffentlichkeit;

Aufgabe der Systematik (Dogmatik): die Fragmente aufzugreifen und einzubinden in den "Strom" der jüdisch-christlichen Tradition;

deswegen auch die narrativ-reflektierende Methode (sinnstiftende Erzählung + Reflexion im Kontext des "dramatischen Modells" -

zur wissenschaftstheoretischen Begründung und Einordnung vgl. R. Schwager, J. Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie als Forschungsprogramm. In: ZKTh 118 (1996) v.a. 323-341

I. Basiswissen

Gnadentheologie im Kontext einer methodologischen Metapher - oder ein thematisch orientierter Ausflug in das dogmatische Proseminar

sinnstiftende Erzählung: Metapher der Wüstenwanderung am Ende des 20. Jh.s:

Autobahnbild und seine Logik

1 Funktion der normativen Aussagen:

Anzeige der Grenzen für den Weg, auf dem das Leben möglich sei

1.1 Spannung zwischen der bürgerlichen Kultur und der kirchlichen Gnadentheologie

- Normative Bilder/Aussagen einer durch Markt und Medien strukturierten bürgerlichen Gesellschaft

Rechtsbewußtsein (normativer Schutz der menschlichen Person)

und

Leistung ("Ausweis" der menschlichen Würde)

- Normative Bilder/Aussagen der Gnadentheologie:

Gnade als "donum" und "auxilium":

ungeschuldete Hilfe Gottes

1.1.1 Korrespondenz zwischen Gnadentheologie und Erfahrung im Rahmen eines Weltbildes in dem das "Angewiesensein auf ..." konstitutive Bedeutung hatte

1.1.2 Infragestellung des "Angewiesensein" durch die bürgerliche Gesellschaft: "das Recht auf..."; "der Anspruch auf".

1.1.3 "Zerstörung der Erfahrungsbasis" des traditionellen Gnadenverständnisses -

"instinktive Abwehr" der bürgerlichen Moderne durch das kirchliche Lehramt //

der gescheiterte Versuch einer kirchlichen Gegenwelt

1.2 "Aggiornamento": kirchliche Lehre über die Rechte des Menschen (und deren Bezug zur traditionellen Gnadentheologie)

1.2.1 Johannes XXIII: Pacem in terris (11.04.1963) vgl. DH 3955-3997

- DH 3957: der Mensch ist eine Person die Rechte und Pflichten hat; sie gehen unmittelbar und gleichzeitig aus seiner eigenen Natur hervor

- DH 3958-3959: Konkretisierungen der Grundrechte des Menschen

- DH 3976: die Gemeinschaft der Menschen sei in eine völlig neue Gestalt übergegangen (Befreiung der Völker)

- DH 3977: Bewußtsein der Gleichheit der Menschen untereinander (als Bewußtsein der Rechte und Pflichten)

- DH 3978: Beziehungen zwischen Menschen und Gott als Grundlage des Lebens

"Naturrechtliche" Untermauerung der ersten Menschenrechtserklärung des kirchlichen Lehramtes

1.2.2 Vatikanum II:

Dignitatis humanae (DH 4240-4245)

DH 4240: das Recht auf religiöse Freiheit gründet in der Würde der menschlichen Person

Gaudium et spes (DH 4301-4345)

DH 4309: die Pflicht zur Veränderung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ordnung, damit sie den Menschen (die Rechte haben) besser dient

1.2.3 Paul VI: Populorum progressio (1967) vgl. DH 4440-4469

DH 4440: Unrecht des Hungers, Elends, der Krankheiten und Unwissenheiten

1.2.4 Generalversammlungen des lateinamerikanischen Episkopats in Medellin (1968) DH: 4480-4496 und Puebla (1979) DH 4610-4635

1.2.5 Johannes Paul II: Sozialenzykliken, aber auch Familiaris consortio

- Logik der Menschenrechte sei die einzige menschenwürdige Lösung der gesellschaftlichen Probleme

- Logik der Menschrechte: der vom Evangelium vorgezeichnete Weg

Theologische Begründung der Menschenrechte durch Johannes Pauls II

1.3 Erneuerung oder Preisgabe der Gnade:

Hat die Kirche selbst der Gnade die Erfahrungsbasis entzogen?

2. Verdrängung der Problematik in den neueren Handbüchern

"Rettung" der Basis für die Gnadenerfahrung in der Tradition der 2-Stock-Werke-Theologie:

- die Basis der "Rechte" sei analog zum Begriff der "Natur" zu sehen

(sie leitet keineswegs notwendig zur Gnade über, schließt diese aber auch nicht aus! Ethik, Politik - kirchliche Soziallehre)

- "der 2. Stockwerk": Gnade und Gnadenerfahrung (das eigentliche religiöse Leben: spirituelle Erfahrungen, Sakramente)

- Dogmatik spricht (doch abstrakt) von der Gnade, Sozialethik (konkret) von Menschenrechten; ReligionslehrerInnenund Pfarrer können beide in Beziehung setzen (wenn sie dies wollen!)

//"Leitplankenpflege" und "Leitplankendemontage" zwischen den konservativen und progressiven TheologInnen in diesem Kontext//

3. Dogmatische Aussagen (und deren"normierende" Funktion): "Versuchung" zur Systematisierung

3.1 Systematische Reduktion der biblischen Perspektive:

- Gottes Zuwendung zum Menschen / zum Volk als sein Gnadenhandeln

- Zuwendung Gottes und eigenes Tun stehen nicht im Konkurrenzverhältnis zueinander; sie sind im soteriologischen Kontext zu beschreiben

- Dimensionen des jesuanischen Gnadenhandelns (Basileia-Botschaft, aktive Zuwendung zu den Sündern; Proexistenz im Kreuz)

- Paulinischer Begriff der "Charis": Polarisierung Gesetz-Gnade

Röm 3,21-24: Heilsuniversalismus: nachdem alle gesündigt haben und Geschenkcharakter der Gnade (ohne die Werke des Gesetzes)

- Ausdifferenzierungen der Reduktion in verschiedenen Kontexten (geographisch, situationsbezogen, personenbezogen - dies ist allerdings nicht das Geschäft der Dogmatik)

3.2 Gnadentheologie zwischen Ost und West

Osten:

erkenntnistheoretischer Zugang:

- kosmische, globale Denkweise

- Bild-Abbild-Denken

theologische Formel:

- der Mensch ist das Bild Gottes

- durch die Sünde entstellt (Sündengeschichte als ein Prozeß; Sünde des Adams als Sünde eines kleinen Kindes: Irenäus)

- wird durch den (handelnden) Logos (Origenes)

- im heilsgeschichtlichen Prozeß wiederhergestellt (göttliche Pädagogik: Strafe und Gericht als Erziehungsmittel- Klemens von Alexandrien)

- das Ziel: Vergöttlichung des Menschen (Athanasius)

- Abschluß der Heilsgeschichte: Apokatastasis (Origenes, Gregor von Nyssa u.v.a.m.)

Westen:

erkenntnistheoretischer Zugang:

- juridische Konzeption der Wirklichkeit

- praktische Lebensführung als Zugang zur Religion (Christentum: Religion des göttlichen Rechtes: Tertullian, Cyprian u.a. afrikanische Rigoristen)

theologische (aporetische) Formel:

- Gott oder Mensch

- im Konkurrenzprozeß der "Rettung" des Menschen

- ist der Verdienst beim göttlichen "auxilium"

- oder aber beim menschlichen Willensakt

- (3.2.0 Ostergruß aus der Tradition des Ostens: N. Leskow, Der Gaukler Pamphalon: Reclam7788)

3.2.1 Augustinus - Pelagius

Grundlegende augustinische Schriften für die lat. Gnadenlehre:

  • De diversis quaestionibus ad Simplicianum (397): CCL 44, 7-91; dt: K. Flasch (Hg), Logik des Schreckens. Mainz 1990; An Simplicianus zwei Bücher über Verschiedene Fragen. Eingeleitet, übertragen und erläutert von Thomas G. Ring OSA. (Sankt Augustinus - Der Lehrer der Gnade. Gesamtausgabe seiner antipelagianischen Schriften. Prolegomena, Bd. 3). (400.) Augustinus-V., Würzburg 1991.

Exegese vom Röm 9,13: "Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehaßt" von einem systematischen Standpunkt aus: Gefäße der Gnade und Gefäße des Zornes nicht aufgrund des Verdienstes, sondern aufgrund göttlicher Erwählung.

  • Der Geist und der Buchstabe (412/413)
  • Natur und Gnade (414/415)
  • Die Gnade Christi und die Erbsünde (418)
  • Ehe und Begierlichkeit (419/21)
  • Gnade und freier Wille (426/27)
  • Zurechtweisung und Gnade (426/27)
  • Die Vorherbestimmung der Heiligen (428/29)

lat./dt. zu finden in den "Schriften gegen die Pelagianer" und den "Schriften gegen die Semipelagianer" im Augustinus Verlag Würzburg

Augustinisch-pelagianische Kontroverse: systematisch betrachtet:

Freiheit des Menschen:

Pelagius:

- Annahme der Freiheit (aufgrund der Schöpfung); gegen die Laxheit: Anstrengung des Willens (Moral und Askese der mönchischen Kreise)

- zusätzliche Hilfe: Beispiel (äußere Gnade) des Gesetzes, der Propheten, Jesu, der Kirche

- Nachahmung des guten Beispiels als christliche Lebensführung: der Mensch kann das Gute tun!

- Erfahrungsort der Gnade: im zwischenmenschlichen Umgang

Augustinus:

- Infragestellung der Freiheit wegen der faktischen Sünde (Anstrengung des Willens allein genügt in der Situation der Massa damnata nicht!)

- das "äußere" Beispiel des Gesetzes ist "toter Buchstabe"

- Notwendigkeit der "inneren, unsichtbaren Kraft": innere Gnade (adiutorium, auxilium) um überhaupt zur Freiheit zu finden

- Erfahrungsort der Gnade: Innerlichkeit

Gottesbild

Pelagius:

- heilsoptimistisches Gottesbild

- Gott gibt immer die Möglichkeit seine Forderungen zu erfüllen (theologische Grundannahme contra Erfahrung)

Augustinus:

- Unheilsdynamik (aufgrund der Sünde Adams): Erfahrung contra theol. Grundannahme

- der prädestinierende Gott:

weil "massa damnata" deswegen ist sein Wille einige Menschen zu retten der Erweis seiner Barmherzigkeit (Erwählung verhilft zur Freiheit),

sein Wille den Rest der Verdammnis preiszugeben ist der Erweis seiner Gerechtigkeit (die Vorenthaltung der Gnade)

Beachte: Es ist nicht die großkirchliche Lösung!

3.2.2: Lehramt - Karthago (418)

DH 225-230: Gnade als adiutorium notwendig

wozu?

- nicht nut zur Erkenntnis des Guten, sondern auch zum Tun

- nicht damit man mit der Gnade das leichter tun kann, was man mit dem freien Willen auch tun könnte

Zwischenergebnis:

  • Der freie Wille ersetzt die Gnade nicht
  • Auch die heiligen haben die Gnade nötig

3.2.3: "Semipelagianismus"

- die Gnade sei als adiutorium zwar nötig, aber, der Mensch muß um sie bitten (analog zum Verhalten des Kranken, der einen Arzt rufen lassen muß)

- Lehramt

(Orange: 529) DH 373-397

  • initium fidei kraft der Gnade
  • Gnade bewirke, daß sie von uns erfleht werde
  • die Gerechten des AT - nicht kraft einer natürlichen Gabe, sondern kraft der Gnade gerettet (im Hinblick auf Christus)
  • Ablehnung der doppelten Prädestination

Bonifaz II (532) DH 398-400

  • Bestätigung der Synode von Orange
  • totius bonae voluntatis initium: durch zuvorkommende Gnade eingehaucht
  • es gibt nichts Gutes, das man "anfangen, wirken, vollenden Könnte" ohne die Gnade

3.2.4 Faszination der "doppelten Prädestination"

  • Gottschalk
  • Verurteilungen: Synode zu Mainz (848), in Quiercy (849) und (853): DH: 622- 624: - Annahme des Vorauswissens Gottes, aber Ablehnung der Vorherbestimmung zum Bösen (es gibt nur eine praedestinatio ad donum gratiae und ad retributionem iustitiae.
  • Ein langer Streit ohne eine überzeugende Lösung
  • Faszination der doppelten P. unter den Reformatoren (J. Hus, J. Wiclif, v.a. aber:
  • Johannes Calvin: Insitutio christiane religionis (1559):

- Rückschluß von der Erfahrung auf den Willen Gottes (es wird nicht bei allen Menschen gepredigt; dort wo gepredigt wird, finden nicht alle im selben Ausmaß den Glauben; aus der großen Menge kommen die meisten zu Fall, übrig bleibt ein kleiner Teil)

- Vorherbestimmung: Gottes ewige Anordnung, was aus jeden einzelnen Menschen werden soll

- Es werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung geschaffen: den einen wird das ewige Leben, den anderen ewige Verdammnis vorher zugeordnet.

- Vorherwissen geht zusammen mit der Vorherbestimmung; Rechtfertigung (in J.Chr.) Ist die Erfüllung der Erwählung

- Nutzen und "süße Früchte" dieser Lehre

  • Reformierte Synode von Dordrecht (1618/1619) in Holland: Bestätigung der streng calvinistischen Prädestinationslehre im Hinblick auf das decretum reprobationis

4. Scholastische Fassung des Dilemma: Gnade -Freiheit:

das Problem der "Disposition"

  • Annahme: das menschliche Können und Vermögen reichen zwar nicht zur Erlösung, sind aber gnadentheologisch nicht irrelevant:

Der Mensch kann sich die Gnade nicht verdienen, er kann sich aber auf die Gnade vorbereiten

  • Thomasische Gnadenlehre (Grundlage der katholischen Schultheologie) Summa theologiae: I/II q 109-114

109 a 2: im Stand der unversehrten Natur konnte der Mensch das Gute wollen und wirken, das seiner Natur angemessen ist;

trotz der verdorbenen Natur kann er durch seine Natur irgendein einzelnes Gutes wirken (z.B. Häuser bauen)

um übernatürlich Gutes zu wirken, bedarf er unverdient einer über die Naturanlage hinaus gehenden Kraft

112 a 2: was immer für eine Vorbereitung im Menschen sein kann, so stammt sie aus der Hilfe des die Seele bewegenden Gottes

a 3: 13 die Vorbereitung zur Gnade erfolgt von Gott als dem Bewegenden nicht in Form von Zwang, sondern in Form der Unfehlbarkeit

Die Vorbereitung ist zwar nicht die heiligmachende Gnade, aber eine aktuelle, helfende Gnade

" kath. Axiom": Dem, der tut, was an ihm liegt verweigert Gott die Gnade nicht"!

  • "Gnadenstreit" in der kath. Barockscholastik über das Verhältnis der ausrechenden Gnade (gratia sufficiens) zur Wirksamen Gnade (gratia efficax):

- Louis der Molina SJ: "scientia media"

- Domingo Banez OP: "praemotio physika"

5. Natur -Gnade Problem

5.1 Fokussierungen des Mittelalters:

  • Verkündigung an die "gut" sozialisierten Christen:

deswegen primäres (seelsorgerliches) Interesse bei der Frage nach einer "aktuellen Gnadenbegleitung Gottes"// Unterscheidung zwischen der habituellen Gnade und aktueller Gnadenhilfe

  • Systematischer Ort (dieser) Gnadentheologie: Tugendlehre (Gnade als Fundament aller Tugenden)

Folgeprobleme:

  • Habituelle Gnade trägt zu einer bestimmten "Grundbefindlichkeit" des Menschen bei;

Frage: wie ist das Verhältnis zwischen der "geschöpflichen" und der "gnadentheologischen" Grundbefindlichkeit präzis zu fassen?

  • Petrus Lombardus und seine Theologie des Hl. Geistes:

Hl. Geist:

- die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn (vinculum amoris)

- die Liebe, mit der wir Gott und die Menschen lieben

Problem: Gibt es einen Unterschied zwischen dem Geist und der Gnade// oder scholastisch gesprochen: zwischen der ungeschaffenen und geschaffenen Gnade

5.2 Schultheologische Lösungsversuche

- Ungeschaffene Gnade: Gott selber/ sein gnädiges Verhalten/ Hl Geist

- Geschaffene Gnade: die Wirkung, die im und am Menschen (und seiner Seele) als Ergebnis des gnädigen Verhaltens Gottes entsteht

Begriffliche Bestimmung dieser Wirkung:

- Innozent III (DH 780), Konzil von Vienne (DH 904): die eingegossene Gnade sei ein Habitus ("Anlage")

- spätere Vertiefung im Anschluß an Augustinus: ontologische Qualität der Gnade//

durch die Gnade wird die Seele auf seinshafte Weise verändert

"Sitz" der Gnade: in der Seelensubstanz selber

vgl. die Ausdifferenzierung: Seele (Seelensubstanz) - Seelenvermögen (Verstand und Wille) - Fertigkeiten (Habitus) - Akte

5.3 Schultheologische Systematisierung der einen (geschaffenen) Gnade und der vielen Gnadenhilfen

- Christologische Gnade der Einigung der göttlichen Natur mit der menschlichen in Jesus Christus

- Heiligmachende Gnade (in der Seelensubstanz - gratia habitualis, sancitficans, efficax etc): Teilhabe an der göttlichen Natur - wird auch ohne die Mitwirkung des Menschen von Gott "bewirkt"

- "Eingegossene Tugenden" (im Seelenvermögen - Kooperation des menschlichen Verstandes und Willens notwendig): Glaube, Hoffnung, Liebe

- Gaben des Hl. Geistes (auch im Seelenvermögen - Kooperation notwendig)

- zahlreiche Gnadengaben: helfende Gnaden (gratia actualis im Akt - Kooperation notwendig!) - Verbindung der Dogmatik zur Volksfrömmigkeit

5.4 Verhältnis zwischen der "geschöpflichen" und der "gnadentheologischen" Grundbefindlichkeit

- Übernahme des aristotelischen Begriffes: "Natur" in die Theologie:

Natur: Wesen eines Seienden, wie es ihm vom Ursprung her zukommt und bis in die Vollendung bleibend determiniert

- Gehört die frei geschenkte Gnade zur Natur und wenn "Nein", wie ist das Verhältnis zu bestimmen?

- Thomas: desiderium naturale in visionem beatificam

"kath. Axiom" II: Gratia supponit naturam et perficit illam -

- spirituelle Konsequenzen

5.6 Aufleben des radikalen Augustinismus im XVI/XVII Jh: Michel de Bay, Jansenius

Lehre vom Urzustand:

- Gnade gehört als conditio sine qua non zur "Natur"

- ist deswegen "geschuldet": Gott wäre dem Menschen Gnade schuldig

- durch die Sünde: Verderbtheit der menschlichen Natur

- radikaler anthropologischer Pessimismus

5.7 Reaktion der Barock-Scholastik: natura-pura-Konstrukt

reine Natur - natürliches Ziel

Übernatur - übernatürliches Ziel

- Natur verlangt nicht nach Gnade, schließt diese aber auch nicht aus;

- ist der Gnade gegenüber indifferent und neutral

- "rein äußeres Verhältnis": Gnadenextrinsezismus

- Annahme: Gott hätte auch vernünftige Subjekte erschaffen können, ohne sie zur beseligenden Schau Gottes zu berufen:

- de deo creante et de deo elevante // zwei- Stock-Werke-Theologie

5.7. Dekonstruktion

- Nouvelle théologie: H. de Lubac: "Surnaturel" - "natura-pura" sei ein theor. Konstrukt, das in der Scholastik unbekannt war/ negatve Reaktion des Lehramtes: DH 3891; NR 890

- K. Rahner: "Hörer des Wortes" (1941)

Gnade: freie Selbstmittelung Gottes an den Menschen/

bereits "Schöpfung" ist Gnade

- logische (ontologische) Voraussetzung für die Selbstmitteilung Gottes:

die Fähigkeit der Kreatur einen solchen Kontakt aufzunehmen (nicht nach dem Maßstab der Endlichkeit)

Unterschied zwischen dem:

Vermögen der Aufnahme des Dialogs

und dem aktuellen Akt der Aufnahme

"Vermögen"- übernatürliches Existential:

- das, was die ontologische Struktur der Existenz des Menschen bedingt

- theol.: der allgemeine Heilswille Gottes:

im Voraus zur aktuellen Begnadung steht der Mensch immer schon unter dem allg. Heilswillen Gottes

- darin ist die "existentiale Bestimmung" des Menschen zu sehen

- sie kommt allen Menschen zu

- als ungeschuldete Gabe Gottes

- H. Urs von Balthasar (Theodramatik)

Christozentrik und Christofinalität der Natur/

Gnade (und Soteriologie) im Kontext der Trinitätstheologie

6. "Deus solus" contra "geschaffene Gnade"/ die Frage nach der Rechtfertigung des Menschen

6.1 Voraussetzungen:

  • spätmittelalterliche Unterscheidung zwischen:

potentia dei absoluta

potentia dei ordinata

  • Ablehnung des Dispositionsdenkens durch Luther; konsequent augustinische Perspektive

der sündige Mensch verliert seine Freiheit radikal (wird vom Gott oder vom Teufel "geritten"

  • Infragestellung der Lehre von der "geschaffenen Gnade"

6.2 Rechtfertigung (Martin Luther):

besteht ausschließlich in einem neuen Verhalten Gottes zum Menschen: -

  • deus absconditus - deus revelatus

GERICHT GNADE

  • unsere Gerechtigkeit: "extra nos" (in Jesus Christus)
  • "coram deo": kein Verdienst möglich
  • "simul iustus et peccator" - "imputative Rechtfertigung

6.3. Trient (Dekret über Rechtfertigung: 6. Januar 1547)

DH 1520-1550; 1551-1583

NR 791-818; 819-851

- Einigkeit im Grundsatz, daß Rechtfertigung allein durch Gott stattfindet;

- "Verbale Antithesen zu Luther:

  • Voraussetzung: (DH 1521)

alle Menschen haben in der Übertretung Adams" ihre Unschuld verloren;

trotzdem: der freie Wille (wenn auch geschwächt)

  • Rechtfertigung in Christus: Adam -Christus- Parallele
  • Definition (im Kap. 4: DH 1524):

Rechtfertigung: Überführung (translatio) vom Stand der Kinder Adams in den Stand der Gnade (durch Jesus Christus - Verkündigung des Evangeliums - Taufe oder der Wunsch danach)

  • Vorbereitung auf die Rechtfertigung bei den Erwachsenen (Disposition) durch "zuvorkommende Gnade"
  • "Wesen der Rechtfertigung":

-Vergebung der Sünden

-Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen (gratia creata)

ex iniusto fit iustus

simul iustus et peccator

  • Aufnahme des lutherischen Anliegens zur Frage nach der "iustitia Dei, qua nos iustos facit" unter die lehre von der Formalursache der Rechtfertigung
  • Ablehnung des Mißverständnisses der Werkerei:

"Nichts, was der Rechtfertigung vorausgeht, verdient die Gnade der Rechtfertigung" (DH 1532)

  • Ablehnung des "Fiduzialglaubens" (DH 1533f)

6.4. Streit um die "Rechtfertigung":

Grundgegensatz zwischen dem reformatorischen und katholischen Verständnis

- Streit um Worte oder um die Sache?

  • - K. Barth: Gottes Souveränität im Gnadenhandeln ("Der Römerbrief"; dann aber "Kirchliche Dogmatik" (III/1): Schöpfung als äußerer Grund des Bundes - Bund als innerer Grund der Schöpfung// Analog zur neuerer katholischer Gnadenlehre)
  • Hans Urs von Balthasar: "Karl Barth, Darstellung und Deutung seiner Theologie" (1951)
  • Hans Küng, "Rechtfertigung: die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung" (1957)
  • Vaticanum II und seine heilsgeschichtliche Konzeption
  • Rechtfertigungsdebatte der 70-er und 80-er Jahre

II. Konturen einer "Dramatischen Gnadentheologie

Menschliche Erfahrungen von Gnade und Gnadenlosigkeit im Horizont menschlicher Geschichte mit dem empathischen Gott

0. Exkurs zum Begriff der Erfahrung:

sinnstiftende Erzählung: vgl:

- I: 3.2.0 Ostergruß aus der Tradition des Ostens: N. Leskow, Der Gaukler Pamphalon: Reclam77889

- K. Rahner, Erfahrung von Gnade

- Bekenntnis:

Wir glauben, daß wir im voraus zu unserem Tun, Denken und Leben von der "Liebe Gottes" geprägt wurden und dauernd auch getragen werden!

- Erfahrung der Gnade in einer gnadenlosen Welt

1. "Infragestellung" der Erfahrungsbasis der Gnade in der bürgerlichen Gesellschaft und die "Rettungsversuche"

1.1 Rettungsversuch (in der Tradition der

2-Stockwerke-Theologie): Verdrängung der Problematik

1.2 Rettungsversuch II: Selektive Logik der Nichtanpassung der Kirche an die bürgerliche Welt

  • Verteidigung der "gnadentheologisch strukturierten" Lebensweise in "einigen Restbezirken":

-"Herausnahme" des Priesters aus dem "bürgerlichen Gesetzbuch"

- Sakramentstheologische Logik (Sakramente als Gnadenerweise par excellence)

  • Vision der Kirche als "alternative Gesellschaft"
  • Barmherzigkeit - Gerechtigkeit: vgl. Johannes Paul II: "Dives in misericordia": DH 4683-4685:

Kirche als der Ort der Erfahrung der Barmherzigkeit / der ausgeprägte Sinn für die Gerechtigkeit der heutigen Gesellschaft reicht nicht aus.

1.3 Rettungsversuch III: 68-er Generation:

  • Kritik der bürgerlichen Gesellschaft als Topos der Gnadentheologie
  • "Kritik" als gnadentheologischer Erfahrungshorizont:

- Recht und Gesetz

- Leistung und Eigentumsordnung

- Disziplin und Ordnung

sind dem Wesen nach gnadenlos

1.4 Rettungsversuch IV: Konstruktion neuer "Gnadenräume"

  • Kampf um neue Erfahrungshorizonte: Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Asyl- und Flüchtlingsarbeit, Hospitzbewegung, "God in the City" usw. usw.
  • Reflexion durch die neue "politische Theologie"

2. Suche nach einem "theoretischen Rahmen" für die Reflexion von Erfahrung der Gnade und Gnadenlosigkeit in der neueren Theologie

Erfahrung ohne den theoretischen Rahmen ist "blind"

2.1 Politische Theologie von J. B. Metz

  • Kritik am transzendentaltheol. Ansatz von Rahner
  • Praxisprimat und praktischer Gottesgedanke
  • Christentum als Praxis gefährlicher Erinnerung
  • Gnade:

- erschließt sich nur im Kontext geschichtlich-gesellschaftlichen Kampfes um Freiheit

- ist außerhalb der gesellschaftlich-politischen Praxis nicht verstehbar

- ist nur als erinnerte Rettung aus Leiden, als erzählte Leidensgeschichte nicht als "Herrschaftsgnade" pervertierbar

  • "Gotteskrise": eine Metapher für das Scheitern der "politischen Theologie" im Kontext der Markt- und Medienstruktrurierten Gesellschaft ?

2.2 Befreiungstheologie

  • "Gnadenlose" Strukturen als Ursachen der Armut:

- Armut ist gesellschaftl.-politisch gewordenen Wirklichkeit

- Reaktionsebenen auf die Unterdrückungs- und Armutsituation:

popular: Widerstandsgruppen, Selbsthilfeorganisationen, Gewerkschaftsgruppen, politische Bewegungen (Guerilla...)

pastoral: "Kirche der Armen": Kirchliche Basisgemeinden: Medellin//Puebla

professional: Theologie der Befreiung; Wissenschaftliche Institute

  • Gnadentheologie: Gnade im Kontext der Peripherie (L. Boff, Erfahrung von Gnade):

Erfahrungsansatz:

- Erfahrung Gottes als Geschichtserfahrung (biblische Erfahrung)

- Aspekte der Erfahrung:

ökonomische Abhängigkeit

gesellschaftl.-kulturelle Abhängigkeit

politische Abhängigkeit

Rolle der Kirche

- Geschichtserfahrung als Erfahrung von Gnade und Ungnade:

eine Wirklichkeit in 2 Perspektiven: sozialanalytisch und theologisch (Unfreiheit, Armut, Abhängigkeit// Sünde, verzerrte Beziehungen, Götzen)

Gnade und Struktur

- Strukturelle Sünde

- "Evangelium ist politisch und befreiend"

- Gnade zielt auf umfassende Strukturen des Lebens

- Gnade als Befreiungsprozeß

sakramentale Funktion menschlicher Befreiungen

Vorläufigkeit der Befreiungsprozesse

Imperativ der Umkehr: Option für die Armen

Konkretheit der Gnade: Brot, Wohnen, Bildung,...

2.3 "Feministische Theologie"

  • Begriff
  • Die Eigenart der theol. Arbeiten
  • "Gnostische Versuchung":

die sog. "ästhetische Richtung":

- Mary Daly, Naomi Goldberg, Carol Christ,

Heide Göttner-Abendroth u.a.

- Die Einheit der Wirklichkeit als Voraussetzung

Sünde/Böses - Folge einer falschen dualistischen Weltanschauung

Rückkehr zur universalen Harmonie durch:

- den Glauben an die Einheit,

- die kultiviert werden muß in den Frauengruppen,

- symbolisiert in der Religion der Göttin

- Radikale Ablehnung der jüdisch- christlichen Tradition

: "Gott": Chiffre für die kulturelle Zwiespalt in einer einheitlichen Welt;

: kein Bedarf nach einer "Gottheit"

: Ablösung der Religion durch "Psychologie" (Bedeutung von C.G. Jung)

  • "Ethische" - Befreiungstheologische Ausprägung

- Rosemary Radford Ruether, Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Catharina Halkes, Luise Schrotthof, D. Sölle, ...

- Sünde/Böses: "reale" Störung (nicht nur eine falsche Sicht der Dinge)

- Der Mensch verantwortlich für das Böse

- "Patriarchat": der Inbegriff der Lüge und Täuschung - weibliches Denken und Handeln - nicht der Inbegriff der Harmonie, auch wenn Männer und Frauen nicht dieselbe Rolle spielen.

- "Hermeneutik des Verdachts" als strukturelle Voraussetzung für die Arbeit um die strukturelle Sünde (Sexismus, Androzentrismus) freizulegen

- keine prinzipielle Verwerfung der jüd.-christlichen Tradition;

Anknüpfung daran und Glaube, daß diese Tradition inspirierende Kraft haben kann

  • konkretes Beispiel: Carter Heyward, Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung ( eng. The Redemption of God. A mutual Relation)

- Methode: Biographie und Theologie

- Programm/Ziele: ethisch/theol. Programm:

Kampf um Zugang zum gerechten Anteil an gesellschaftlicher Macht

ganzheitliche Dimension des Menschseins

Aufnehmen und Würdigung des Körpers

- diese Erfahrungen enthüllen:

"was Gott in unserem Leben ist":

"Macht in Beziehung"

- Philosophische Grundlegung:

Martin Buber und der "jüdische Personalismus"

rabbinische Quellen bis hin zur Kabbala:

Denkfigur der "Entzweiung Gottes"// die Mesnchen erlösen Gott durch ihr Tun

-Grundfrage: bis zu welschen Ausmaß sind wir für unsere Erlösung verantwortlich?

"Gegenseitige" Erlösung >>>

was Heyward deutlich ausspricht ist bei den meisten Theologinnen zu finden:

- Immanenz Gottes und Erfahrbarkeit Gottes>> Abhängigkeit Gottes von seinem Geschöpt

- Menschen (Frauen) >> Miterlöserinnen, Mitschöpfende; Kooperierende

2.4 Grunddilemma der neueren Theologie:

Wird "Gott" darin nicht zum Inbegriff

- des gesellschaftlichen Wandels?

- des kulturellen Fortschritts

Gnadentheologisch gewendet:

wird Gnade nicht durch Ethik und Moral ersetzt?

Ist damit aber Gott und die Gnade nicht "Luxus" für die Frommen, auf den die anderen verzichten können?

Und ist mit dem Engagement um die "neuen Rechtsräume", um die Herstellung des Rechts die gnadentheologische Dimension schon ausgelotet?

3. "Dramatisches Modell" als theoretischer Rahmen für die Reflexion von Erfahrung der Gnade und Gnadenlosigkeit

3.0 Prolog:

Gnade und profundior et universalior appetitio

sinnstiftende Erzählungen:

die Lebenslust der biblischen (Patriarchen-) Tradition

  • Folgerungen:

- bedürfnisorientierte Logik (primäre menschliche Bedürfnisse als logischer und biographischer Zugang zur Beschreibung der (emphatischen) Geschichte Gottes mit den Menschen

- Der "Mehrwert" der Anwesenheit Gottes: Gott "ersetzt" den Lebensraum nicht, verwandelt ihn aber

- "unaufdringliche, anonyme Gegenwart Gottes" im Alltag: der Lebensraum wird "zur Kultur"; der Mensch zum "Menschen"

  • erster systematischer Ertrag:

- "Unaufdringliche Präsenz Gottes" (seine "Toleranz", seine "bedingungslose" Zuwendung) >>

- die von ihm (im ontologischen Kontext) hergestellte Beziehung

sind auf der Ebene der Folgen im Kontext der Erfahrung thematisierbar:

Erfahrung der "profundior et universalior appetitio" als primäre Gnadenerfahrung

(traditionell:

Ausgustinus, Confessiones: "unruhig ist unser Herz bis es ruht in Dir";

Thomas: desiderium naturale in visionem Die/ in visionem beatificam

Rahner: übernatürliches Existential)

3.1 "Dramatische Gnadenlehre" 1 Akt:

Gnade und Erwählung

sinnstiftende Erzählung: Die Erwählung Jakobs

  • Folgerungen:

- Aneignung eines Vorteils durch List, Lüge, Durchsetzungskraft

- "Erwählung Jakobs" auf der Ebene der Erfahrung: Ergebnis

: der normativen Kraft der Tradition

: des Handelns der Mutter

: des listigen Handelns von Jakob

- "Gnade der Erwählung" als Anspruch auf die "erworbenen Rechte" und als deren Einlösung (vgl. die Segensformel in Gen 27,27-29)

- "Tragödie" des Esau: institutionelles Vorrecht bleibt auf der Strecke (vgl. die Segensformel in Gen 27,39f.)

- Folge der "Erwählung": Feindschaft zwischen Jakob und Esau

  • "explizitie Gnadenerfahrung" im Modus der Erwählung: Jakob-Sarai/"Israel">> Erfahrung eines Vorteils den Anderen gegenüber (Esau-Hagar/"Edom")
  • zweiter systematischer Ertrag:

"Dramatische Gnadenlehre" thematisiert zuerst die Erfahrung, daß keine institutionelle Ordnung (auch rechtlicher Natur) eine harmonische, konfliktfreie Erfüllung der profundior et universalior appetio garantiert.

Sie macht darauf aufmerksam, daß Menschen selbst durch List, Leistung aber auch durch die Tatsache, daß sie zu Objekten des Handelns seitens anderer Menschen, Institutionen und Systemen gemacht werden, den Vorteil anderen Menschen gegenüber erfahren können und kulturell deswegen als "begnadete Existenzen" (als "Erwählte") gelten.

"Wahrheitskern" der traditionellen theol. Systematisierung (von Mal 1,2f; Röm 9,13)?

- im Kontext der "bedingten Prädestination"/ der junge Augustinus: Erwählung aufgrund der eigenen Durchsetzungskraft,

- aber auch im Kontext der "unbedingten Prädestination" von Calvin: der Erwählte und der Verworfene als "Opfer" des göttlichen Ratschlusses.

Was folgt daraus?

- Der theologische Realismus?

Nicht einmal Gott scheint es möglich zu sein, die Erfahrung der Gnade als Erfahrung eines Vorteils den Anderen gegenüber (im Modus der Erwählung) allen Menschen zu gewährleisten

(können die Menschen ohne Gott dies besser tun?).

- Der theologische Zynismus?

Gott sei nur Chiffre für die Wandlungsprozesse, auf die der "aufgeklärte Mensch" verzichten kann.

Vgl. der erkenntnistheoretische Grundsatz der "Neuen Rechten":

Wahr ist das, was die "Macht" hat sich durchzusetzen; das was verdienen würde zu sein, ist schon.

- Der theologische Moralismus?

Vgl. hier den "Wahrheitskern" der neuen politischen Theologien (Vorwurf der Geschichts- und Opfervergessenheit: deswegen auch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf Esau/Hagar)

und die damit sich automatisch einstellende "Versuchung zur Selbstgerechtigkeit"

(wir handeln "opferbewußt")

oder aber zur "Erlösung Gottes"

(Verwechslung der Gnade mit Ethik/Moral):

"Erwählung" sei dann nur Ausdruck der machtpolitischen, männlich-machoistischen, "rein menschlichen" Interessen.

Die neue Religiosität soll diese minimieren, oder gar abschaffen.

3.2 "Dramatische Gnadenlehre" 2. Akt:

der Schrecken des Zusammenbruchs>> "Scheitern" der Erwählung?

sinnstiftende Erzählungen:

die "Verwerfung Sauls"

die Verwerfung "Israels" nach Hos 1,9

der Schock über die Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr.

Der Schock der Religionssoziologen über die "Sterbende Kirche"

Dritter systematischer Ertrag:

Im Kontext der Erfahrung des "Zusammenbruchs" macht die "dramatische Gnadenlehre" zuerst darauf aufmerksam, daß es keine (theologische) Garantie dafür gibt, wie der Status der Erwählung (die Erfahrung des Vorteils den anderen gegenüber) aufrechterhalten werden kann.

Sie macht darauf aufmerksam, daß Menschen selbst durch eigenes Versagen, aber auch durch die Tatsache, daß sie zu Objekten des Handelns seitens anderer Menschen, Institutionen und Systemen gemacht werden, ihren Vorteil anderen Menschen gegenüber verlieren können.

So verstärkt sie zuerst die Vermutung, daß "Gott" bloß eine Chiffre sei für die Wandlungsprozesse.

Novum der bibl. Tradition: Koppelung der Reflexion über den Zusammenbruch mit der Schuldfrage

3.2.1 Gnade und Schuld

die für die Zeitgenossen problemlos nachvollziehbaren Zusammenhänge (auch aufgrund einer fragmentarischen Präsenz der jüd.-christl. Tradition in der Markt- und Mediengesellschaft): moralisierende Sicht der Problematik

der erste Zugang:

theologische Erklärung der Zusammenbrüche im Kontext vom "Tun - Ergehen - Zusammenhang":

vgl. deutoronomistische Theologie:

das Scheitern der Erwählung (Erfahrung der Gnadenlosigkeit) sei die Folge einer Schuld; Bekehrung kann den alten Status (neue Erfahrung der Gnade/Erwählung) wieder herstellen

Säkular formuliert:

der Verlust des Vorteils (der Verlust der Rechte) sei die Folge falschen Verhaltens;

"richtiges Verhalten" sei eine "quasi Garantie" für die Erfahrung (das Erhalten, oder gar Erreichen) eines Vorteils

Pädagogischer (politischer) Wert solcher Deutungsmuster versus Instrumentalisierung und "Banalisierung" der Gnade (Gnade als Erziehungshilfe)

vgl. die traditionelle Auseinandersetzung um die Frage: Kann göttliche Gnade als Ergebnis menschlichen Tuns gedeutet werden?

Lebendigkeit solcher Deutungsmuster in der Alltagskultur: "hilf dir selbst, dann hilft dir Gott"

Auch solche Deutungsmuster kommen im Grunde "ohne Gott" aus.

der zweite Zugang:

"Die Gnade des Vergessens und der Verdrängung

vgl. die Logik der Chronikbücher

Säkular formuliert:

Die kulturell selbstverständlich gewordene Betonung des Tun -Ergehen - Zusammenhanges einerseits und die Aufforderung zum "richtigen" Handeln anderseits führt angesichts der Multiplizierung von Katastrophenerfahrungen (vgl. die Logik der medialen Berichterstattung) zur Überforderung//

"Verdrängung" und Vergessen der Gnadenlosigkeit, ja "Wahrnehmungsverweigerung, wird den Zeitgenossen zu einer "Gnadenerfahrung"

Kehrseite unserer gegenwärtigen moralisierenden Kultur (auch im pädagogisch-politischen Kontext)

der dritte Zugang:

"Gnadenerfahrung" im Modus der Anklage und des Fluches

vgl. die Klagelieder, Ijob, Fluchpsalmen, aber auch die vom Ressentiment geprägte prophetische Traditionen

Säkular formuliert:

Die kulturell selbstverständlich gewordene Betonung des Tun - Ergehen - Zusammenhanges kann angesichts der Erfahrung von Zusammenbrüchen (beim Verlust des Vorteils) auch zu einer Anklagekultur: Selbstbeschuldigung und Schuldabschiebung führen.

Der spezifisch neuzeitliche Weg, wie das autonome Subjekt, das den Status des Vorteils ausschließlich in seine Hände genommen hat mit den Erfahrungen der Zusammenbrüche fertig wird: es beklagt seinen Status des Opfers: Opfer des eigenen Handelns (eigener Geschichte), Opfer anderer Menschen, Systeme:

vgl. die therapeutische Gesellschaft

dritter systematischer Ertrag:

"Dramatische Gnadenlehre" macht auf die Ambivalenz der vielfältigen (gerade den säkular denkenden Zeitgenossen zugänglichen) Erfahrungen von "Gnade und Gnadenlosigkeit" im Kontext der Zusammenbrüche und Katastrophen (individueller, oder gesellschaftlicher Art) aufmerksam.

Der Verlust des Vorteils führt keineswegs automatisch zur grundsätzlichen Erkenntnis der eigenen Ohnmacht, sensibilisiert deswegen nicht unbedingt auf die Notwendigkeit von Gnade.

Oft verstärkt er sogar die bereits auf der Ebene des Erwählungsglaubens thematisierte Ambivalenzen.

3.2.2 Gnade und (prophetische) Berufung

sinnstiftende Geschichten:

Berufung von Jeremia, aber auch von anderen Schriftpropheten

prophetische Predigt

prophetisches Geschick: Vorwegnahme des Verlustes:

- des institutionalisierten Lebensraumes

- der erworbenen Rechte

- der physischen/psychischen Integrität

- des Lebens

Gnade im Modus des Gerichtes?

"Sperrigkeit" dieser Tradition im Kontext der "liberalen" Markt- und Mediengesellschaft

3.2.3 Gnade und Schulderfahrung

sinnstiftende Erzählung;

das Geschick des Gottesknechtes

Schuldfähigkeit als fundamentale Gnadenerfahrung: "Dramatische Transformation" der Frage nach der Schuld in der biblischen Tradition:

"Wir meinten, er sei von Gott geschlagen...

Doch unsere Verbrechen zermalmten ihn,

unserer Sünden wegen wurde er zermalmt" (Jes 53,4f)

Säkular formuliert:

: wir meinten, wir haben das Recht (ja sogar die Pflicht) das Opfer um seine Rechte zu bringen; dieses seiner psychischen und physischen Integrität zu berauben, seinen Lebensraum zu zerstören, es um sein Leben zu bringen...

Warum?

Wenn Gott bloß eine Chiffre für die Wandlungsprozesse ist, so drückt die "Metapher": "Gott schlug ihn" nur die zivilisatorische Notwendigkeit aus

(das Opfer konnte natürlich den Verlust des Vorteils durch falsches Verhalten selbst bewirkt haben, oder - systemtheoretisch ausgedrückt - ohne Schuld, jenen die den Status des Vorteils erreichen, eben "zum Opfer" fallen)

: Doch: nicht Gott war es, sondern unsere Taten zermalmten ihn!

Wenn nicht "Gott" den Status des Nachteils (den Tod, den "Zusammenbruch", die Ablösung der Zivilisationen: die "Verwerfung") bewirkt, sondern "wir",

dann ist Gott kaum "Chiffre" für kulturelle, historische, biologische Prozesse

"Relative Autonomie" des zivilisatorischen Wandels - Infragestellung des (deterministischen) Prädestinationsmodells:

die wichtigste Folge daraus: Notwendigkeit der Bemühung um die Minimierung der Opfer// derjenigen die sich im Status des Nachteils befinden (Wahrheitskern aller neueren politischen Theologien)

Die Ambivalenzen der Bemühung um die Minimierung der Opfer (gerade im Kontext des Handelns nach bestem Wissen und Gewissen, aber auch im Kontext der Bemühung um die "Herstellung des Rechts": jedes Recht kann nicht ohne ein Minimum an Unrecht hergestellt werden)

Macht die "relative Autonomie" des zivilisatorischen Wandels Gott überflüssig?

Gott rettet das Opfer,

verwandelt sein Geschick zum lebensspendenden Impuls für die Täter (Sühne Proexistenz, Stellvertretung: "Gott schreibt auf krummen Zeilen gerade")

: Geschick des Gottesknechtes (und sein Handeln) als gnadenhafte Vorbedingung für die Schulderfahrung

fünfter systematischer Ertrag:

Angesicht des vorhandenen Unheils verstärkt die "Dramatische Gnadenlehre" die Differenzen zwischen den "Erwählten" und den "Verworfenen" (zwischen denjenigen, die sich im Status des Vorteils und denjenigen, die sich im Status des Nachteils befinden) nicht.

Sie minimiert die Differenzen indem sie auf die Transformation des Unheils durch Gottsensibilisiert und auf die Notwendigkeit der Minimierung von Opfer hinweist.

Gerade weil sie die Erklärung der Zusammenbrüche, deren Verdrängung und die Klage als ambivalente Wege zur Gnadenerfahrung anzeigt, sieht sie in der Schuldfähigkeit die fundamentale Erfahrung der Gnade in einer gnadenlosen Welt. Diese Schuldfähigkeit stellt allerdings das Ergebnis des Handelns einer "begnadeten Existenz" dar.

(Zur Beziehung zwischen der ambivalenten und fundamentalen Gnadenerfahrung vgl. F. Werfel, Eine blaßblaue Frauenschrift)

Was bedeutet aber die (prophetische) Berufung und Erwählung? Wozu wird der Prophet erwählt?

Notwendigkeit der Relecture des Erwählungsglaubens

3.3 "Dramatische Gnadelehre": 3 Akt:

Gnade und Erwählung zur Proexistenz

sinnstiftende Erzählungen:

alle biblischen Erwählungsgeschichten in ihrer "Tiefendimension

N. Leskow, Der Gaukler Pamphalon

"Billy Bud" von Herman Melville

F. Dostojewski, Die Brüder Karamasov

- Berufung (Erwählung) als Metapher für die Priorität der Erfahrung vor dem Handeln

- Erfahrung des Vorteils - Erwählung zum "Dasein für andere" - gnadentheologische differentia specifica der (menschlichen) Erfahrung des Vorteils (vgl. demgegenüber: homo incurvatus in se)

- biblische Perspektive: hoesoed: Huld/Zuwendung

das menschliche Miteinander (Proexistenz unter den Menschen motiviert durch hoesoed Gottes// diese ist nicht in den Rechtskategorien faßbar, auch nicht in der Kategorie des Bundes)

Grenzen der Proexistenz:

: biblische Logik der Erwählung:

Ausweitung der Perspektive: von den Erfahrungen des "Hohen Liedes" (Erfahrungen der einzelnen "Patriarchen) bis hin zur Erfahrung (und der Theologie) des Gottesknechtes (Einheit von Monotheismus, Schöpfungsglauben, Erlösung und eschatologische Vollendung)

Logik des universale concretum

Intensivierung der Erfahrung: je größer die Infragestellung der Proexistenz innerhalb der geschichtlichen Erfahrung, desto intensivere Erfahrungen bei den Einzelexistenzen (Gnadenunterbrechungen)

Logik der Gnade des immer noch "mächtigeren" Gottes (gnadentheologischer Unfug der Redeweise vom "Tod Gottes"

Proexistenz, das Rechtbewußtsein und die Leistungserwartung: Zwischenbemerkung zur Frage: Ist mit dem Engagement um die "neuen Rechtsräume", um die Herstellung des Rechts die gnadentheologische Dimension schon ausgelotet? (Vgl. Lösung in "Billy Bud")

sechster systematischer Ertrag:

"Dramatische Gnadenlehre" drängt zur differentia specifica in der Deutung der allg. menschlichen Erfahrungen des Vorteil den anderen Menschen gegenüber und dem Zusammenbruch dieses Status. Indem sie den Topos der Erwählung mit dem der Proexistenz verbindet, ermöglicht sie differenzierte Deutungen von Lebensformen, die phänomenologisch als genaues Gegenteil von Gnadenerfahrung erscheinen.

"Dramatische Gnadenlehre" macht letztendlich auf die fundamentale Wahrheit e aufmerksam: "Gott" als Vorteil aller Menschen ist nur über den Umweg der Proexistenz "zu haben".

3.4 "Dramatische Gnadenlehre": Epilog

Jesus Christus als der Inbegriff der Proexistenz

Das Bekenntnis zur Einzigartigkeit Jesu Christi:

Verdichtung des gesamten Potentials von Ängsten und Hoffnungen der biblischen (menschlichen) Geschichte in einer konkreten (historischen) Existenz: homo perfectus (vgl. GS 22)

"Logik" des Bekenntnisses zur Gottessohnschaft Jesu im Kontext der Versuchung zur "Erreichung" desselben (analogen) Vorteils (gerade angesichts der profundior et universalior appetitio)

Mittelalterliche Lehre von der Gnade der Einigung: Jesus Christus als menschgewordene Empathie Gottes (dogmatische Enhypostasie der menschlichen Person Jesu)

siebter systematischer Ertrag:

"Dramatische Gnadenlehre" mündet im Bekenntnis zu Jesus Christus. Die "Definition" der Gnade ist geradezu identisch mit einer Zusammenfassender Rekonstruktion der dramatischen Geschichte Jesu Christi: seiner Erwählung, seiner Botschaft und seines Geschicks.

III. Systematische Mosaiksteine

Konturen gnadentheologischer Vorstellungskraft

1. Der barmherzige Vater und seine "freien" Kinder

sinnstiftende Erzählung: Und was geschah danach? Grenzen gnadentheologischer Vorstellungskraft

Die Logik der Gleichnisse:

  • Ansatz "mitten drin" im Geschehen (Voraussetzung eines bereits konstituierten - durch Rechte und Ansprüche strukturierten - "Lebensraumes"; "unsichtbare" Pro-Existenz des Vaters)
  • vielfältigen Folgen der "profundior et universalior appetitio" ("freie" Entscheidungen beider Söhne und deren ambivalente Folgen)
  • Die (immer wieder neu gemachte) Erfahrung des Vorteils und des Scheiterns und die Fähigkeit zur Umkehr (Schuldfähigkeit des "jüngeren" Sohnes und deren "impliziten" Voraussetzung: Erinnerung an die "unsichtbare" Pro-Existenz des Vaters)
  • Die Sackgasse der "Selbstgerechtigkeit" (Rechts- und Anspruchsdenken und die Logik der Leistung beim älteren Sohn) versus seine Schuldfähigkeit: (Verdrängung der "unsichtbaren" Pro-Existenz des Vaters; neue Initiative des Vaters als Vorbedingung für die Umkehr)

2. Christologische Konturen

  • Basileia-Botschaft und deren Konsequenzen:

auch sie setzt einen - wie auch immer schon strukturierten "Lebensraum" voraus

und thematisiert innerhalb desselben die Unverzichtbarkeit der gnadentheologischen Vorstellungskraft:

Im Wort und den Taten Jesu, in der bedingungslosen Zuwendung zu den "Sündern" (denjenigen, die am Rande des strukturierten "Lebensraumes" stehen und damit auch Opfer desselben sind), wird die "Pro-Existenz" Gottes für alle sichtbar (auch die Täter verdanken sich zuerst der Gnade Gottes, dann erst dem eigenen Handeln - keiner soll deswegen stolz sein auf seine Vorrechte: "Gott ist nicht ein Privileg der Erfolgreichen").

Pädagogische und politische Faszination der Pro-Existenz:

- Gnade als exemplum Christi (exempla der Heilsgeschichte) >> Gemeinschaft der Nachfolgenden

(Gefahr, durch eigene nun "pro-existente" Aktivität Gott, zum Privileg einer Gruppe zu machen)

- Nuancen des Sich-Einlassens auf die Logik der bedingungslose Zuwendung:

>> Vorrang der Erfahrung vor dem Tun (Pro-Existenz Christi ist bereits eine Folge der "Pro-Existenz des Vaters"/

>>die Ambivalenz der politischen Übersetzungen der Basileia-Botschaft: "oberflächliche" Rezeption der Logik der Pro-Existenz:

Reduktion der Erfahrungsebene (Basileia-Botschaft als Einladung und Verpflichtung zur Nachahmung):

Folge Überforderung oder Selbstgerechtigkeit

  • Topos der Ablehnung der Basileia in der "Dramatischen Theologie": '"Kreuzigung" als konsequente Folge der Selbstgerechtigkeit

<< biographische und politische Infragestellungen der Gnade

Versuch der Beseitigung all jener Impulse, die den radikalen Vorrang des Empfangens vor dem Tun durch Aktivität /"Zuwendung"/ bezeugen:

Folge davon: "Selbstgericht": der selbstgerechte Mensch wird zum Opfer seiner Logik (und kann gar nicht mehr handeln)

  • Jesuanische Pro-Existenz im Kreuz (neuer Impuls: "durchlittene Basileia):>> Der zum Opfer gemachte Jesus (und zuerst nur er) handelt weiterhin und identifiziert sich mit den "Opfern des selbstgerechten Handelns und wendet sich ihnen zu (in der Tradition der Logik des Gottesknechtes: vgl. II/3.2.3).
  • Schuldfähigkeit der Selbstgerechten als Folge der Pro-Existenz Jesu im Kreuz:

Folge: Erkenntnis der universalen Schuldigkeit:

traditionell>> Erbsündhaftigkeit des Menschen)

  • Die Gnade des Kreuzes (freiwillige Verzicht, Erleiden und Transformation eines unfreiwilligen Geschicks: Opfer-sein): Erfahungsmodus der Gnade unter den Bedingungen der all. Schuldhaftigkeit

3. Ekklesiologische Konturen

Gnade - communio/Volk Gottes:

  • "Gott will, daß alle Menschen gerettet werden..." 1 Tim 2,4

"alle": viele oder alle?

einzeln oder gemeinsam?

hier oder im Jenseits?

  • Vatikanum II:

LG 9 : Gott will die Menschen "nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindungen ... heiligen, retten..., sondern sie zu einem Volke machen" (DH 4122)

GS 25: Gemeinschaft sei personkonstituierend

GS 30: "mit der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade werden die Menschen Erbauer einer neuen Menschheit..."

GS 32: "die aus Gnade geretteten Menschen (werden) als eine von Gott und Christus, ihrem Bruder, geliebte Familie Gott vollkommen verherrlichen"

  • Extremhaltungen:

Gnade nur als exemplum und die religionssoziologische Verwertbarkeit:

Kirche - eine faßbare Gruppe der Nachfolger

Gnade nur als (inneres) adiutorium und spiritualisierende Verflachungen:

Kirche - eine nicht faßbare Größe

  • Lösungsvorschlag im Kontext der "Dramatischen Gnadentheologie":

"communio aller Menschen" und der Tod Jesu

(vgl. auch : "Gott als ´Vorteil´ aller Menschen kann nur über den Umweg der Proexistenz gedacht werden)

- Basileia-Angebot und deren (religionssoziologische) Konsequenzen (Notwendigkeit und Ambivalenz der Vorbilder)

- Allianz gegen Christus und deren theologische Tragweite

- Identifikation Jesu mit den Gegnern/ mit allen Opfern der Sünde als Vorbedingung für die universale Gemeinschaft: radikale Proexistenz Christi im Kontext der allg. Schuldhaftigkeit

(vgl. Schwager, Jesus im Heilsdrama 243ff)

  • Gnadentheologische Konsequenzen:

vor der Bekehrung der Menschen,

(gar) im Voraus zu ihrer historisch faßbaren Existenz

nimmt (ein Anderer) Jesus alle in die Geschichte Gottes hinein

- Erfahrungen mit dem Auferweckten: Schuldvergebung an die Jünger - Erfahrung von Pfingsten: Vermittlung der Fähigkeit zur Schuldvergebung

  • Gnadentheologische "Struktur" der kirchlichen Gemeinschaft:

im Kontext eines als widersprüchlich erfahrbaren (auch durch Rechtsbewußstein strukturierten) Lebensraumes

kann kirchliche Gemeinschaft entstehen (dogm. Minimalangaben):

aufgrund der "befreienden Erfahrung der Schuldvergebung" (vgl. Taufe),

der daraus folgenden "Schuldfähigkeit" (vgl. Buße)

und der Bereitschaft zur Vergebung (vgl. Eucharistie).

Eine solche Gemeinschaft ersetzt den gesellschaftlich strukturierten Raum nicht,

sie setzt ihm voraus,

transformiert ihn aber und erweist sich damit auf einer tieferen Ebene als dessen Möglichkeitsbedingung

(vgl. gnadentheologische Grundlagen der Rechtsphilosophie,

gerade im Kontext einer bürgerlichen Gesellschaft,

die das Rechtsbewußtsein

und die Leistungserwartung miteinander verbindet!).

Deswegen kann Kirche

weder nur eine spirituelle,

noch eine nur in den soziologischen Kategorien beschreibbare Größe sein<<

gnadentheologische Legitimität und Notwendigkeit der kirchlichen Lehre über die Rechte der Menschen!

Die fundamentale Form kirchlicher Proexistenz im gesellschaftlichen Bereich und der (spezifisch) kirchliche Beitrag zur Fragen nach der "neuen Menschheit":

Versöhnung durch Schuldvergebung;

"Erziehung" zur Schuldfähigkeit (nicht Anschuldigung und Entwicklung von Schuldgefühlen!);

universale Solidarität angesichts der Schulderfahrung!

  • In diesem Kontext ist nun der Satz:

"Gott will, daß alle Menschen gerettet werden..." zu interpretieren:

"alle"

gemeinsam (weil Jesus alle eingeschlossen hat, wenn auch ein jeder schuldfähig werden muß und auch vergeben muß)

schon hier (wenn auch die geschichtliche Erfahrung den Realismus nahe legt) und

erst recht aber im Jenseits (Hoffnung als der beste Garant gegen den Zynismus)

//Demgegenüber der "pagan-religiöse" Impuls: Schuldtabuisierung, Versöhnung und Einheit auf Kosten der Dritten!//

4. Anthropologische Konturen: Die Frage nach dem Menschenbild

Gnade und die überwundene (Erb-)Sünde

  • traditionelle (mißverständliche) Sicht:

weil Erbsünde (Sünde), deswegen Gnade >> verheerende Folgen in der Verkündigung

(vgl. P. Turrini, Tod und Teufel - ich muß die Sünde nennen, damit ich von der Gnade reden kann)

  • heilsgeschichtliche Sicht: "o felix culpa"

: Sünde und Schuld sind (christlich) von der Perspektive der Gnade zu thematisieren!

: nicht im Beliebigen Kontext (Banalisierung!)

: im Kontext der Zusammenbrüche, Katastrophen (Unheilserfahrungen)

: moderne "Verführung": die alte Theologie sprach von der Sünde (übersah oft die Opfer), die neuere von den Opfern (übersieht aber die Sünde: Metz).

  • sinnstiftende Erzählung:

Die Geschichte von der Ehebrecherin: Anschuldigung/ implizite Vergebung in der jesuanischen Haltung/ ausdrückliche Thematisierung der Sünde aber in welcher Form: "Wer von euch ohne Sünde ist...!">>> Schuldfähigkeit (der Frau, der "Ankläger")

  • Erbsünde aus der Perspektive der Gnadentheologie im Kontext der modernen naturwissenschaftlichen Probleme:

vgl. R. Schwager, Erbsünde und Heilsdrama im Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik v.a.101-132.

5. Eschatologische Konturen

die von Gott "begnadete" Menschheit verdankt sich:

weder dem evolutionsbiologischen Zufall,

noch den politischen Vergesellschaftungsbemühungen,

noch dem technischen Fortschritt

- wenn auch all dies für die Frage nach der Vollendung nicht irrelevant ist!

Begnadete Menschheit>> erfahrene und weitergeschenkte Barmherzigkeit

sinnstiftende Geschichte: Gnade im Gericht

vgl. J. Niewiadomski, Hoffnung im Gericht. In: ZKTh 114 (1992) 125f.

Themenkreise für ein Kolloquium aus "Gnadenlehre" bei Niewiadomski SS 1997

I: Interpretation der lehramtlichen Texte von:

- Karthago (418) NR 761-766; DS 225-230.

- Orange (529) NR 777-783; DS 373-397.

- Trient (1547: Rechtfertigungsdekret) NR 790-851; DS 1520-1583

: zur Problematik der Menschenrechte:

- Johannes XXIII: Pacem in terris DH 3955-3997

- Vatikanum II: Dignitatis humanae: DH 4240

Gaudium et spes (DH 4301-4345)

- Paul VI: Populorum progressio (1967) DH 4440

- Johannes Paul II: eine der Sozialenzykliken

II: Historische Fragestellungen

- Die Begrifflichkeit in der östlichen und westlichen Theologie

- Kontroverse Augustinus-Pelagius: Gnade Gottes oder Freiheit des Menschen

- "Semipelagianismus"

- Frage nach der Disposition im MA (Thomas)/ "Zuspitzung" der Frage im "Gnadenstreit"

- "Geschaffene Gnade": Natur-Gnade-Problem (Thomas)

- Reformation: Deus solus- Rechtfertigung (Luther)

- Der radikale Augustinismus im 16/17 Jh (Bajus, Jansenius)/ Reaktion der Barockscholastik: natura pura-Konstrukt

- Rahnersche Infragestellung der "zwei-Stockwerk-Theologie"

III: Biblische Ansätze

- "Gnadentheologische" Grundstruktur biblischer Geschichte

- Die Nuancen des "Charis"-Begriffes

IV: Systematische Entfaltung

nach: L. Boff, Erfahrung von Gnade: zweiter, dritter und vierter Teil;

oder G. Greshake, Geschenke Freiheit: fünftes und sechstes Kapitel;

oder dem zweiten und dritten Teil der Vorlesung; die wichtigsten Thesen nachlesbar in: J. Niewiadomski, Menschenrechte: ein gordischer Knoten der heutigen Gnadentheologie. In: ders. Herbergsuche, Münster-Thaur 1999, 115-132

(der Text ist auch im WEB auf meiner Homepage greifbar).

 

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