René Girard, Wenn all das beginnt. Ein Gespräch mit Michel Treguer.

Einleitung (von M. Treguer)


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René Girard ist mit Sicherheit eine außergewöhnliche Persönlichkeit: als Franzose 1923 in Avignon geboren, lebt er seit 1947 in den Vereinigten Staaten, wo er geheiratet hat und an der Stanford Universität in Kalifornien unterrichtet. Beim Titel seines ersten Buches ­ Mensonge romantique et vérité romanesque (1961) ­ mußte man noch eine Weile nachdenken, bevor es einem wie Schuppen von den Augen fiel und man das Skandalöse an seiner These entdeckte; das Werk konnte einen irreführen und in wissenschaftlichen Sammlungen stehen, ohne auf Anhieb als eine entsetzliche Warze herauszustechen. Aber bald zerreißt der Schleier, und es erklingen ganz ungewohnte Töne in unseren universitären Kreisen. Während unsere Intellektuellen eher dazu neigten, in die Fußstapfen von Lenin, Trotzki oder Mao Tse-tung zu treten, oder Freud oder Saussure nachzufolgen, in einer Zeit, in der noch Sartre oder auch schon Lacan, Lévi-Strauss, Althusser, Foucault, Barthes als Meister angesehen wurden, platzte ein Sonderling in unsere Buchhandlung hinein, der vermutlich inmitten von Klapperschlangen in der Wüste lebt, wenn nicht sogar auf der Spitze einer Säule/ wie alte Säulensteher. Er füllt Schaufenster und Regale mit ungewöhnlichen Büchern, die für den herkömmlichen Verstand ungehörige Titel trugen: La Violence et le Sacré (1972), Des choses cachées depuis la fondation du monde (1978) ­ Bücher, die eine allgemeine religiöse Erklärung unserer individuellen und sozialen Verhaltensweisen enthalten; die Cervantes, Shakespeare, Marivaux oder Proust für realistischer als Marx halten; Bücher vor allem, die inmitten des strukturalistischen Wirrwarrs an den Ufern des Boulevard Saint-Michel behaupten, daß der Schlüssel zum Paradies in der Tat seit über 2000 Jahren vor unseren Augen liegt, in den Evangelien, aus denen wir es nicht gewagt haben, ihn mit beiden Händen zu ergreifen, und daß Jesus sehr wohl der einzige Gott ist, der nur ein einziges Mal Mensch geworden ist, wie es der Papst und unsere bigotten Großmütter erzählen ... . Diese Ideen haben inmitten unserer Pariser und universitärer Diskussionen unglaublich hohe Wellen geschlagen!

Die Reaktionen entsprachen in ihrer Heftigkeit der Ungeheuerlichkeit der Provokation, die diese Mischung von alten und neuen Ansichten hervorrief. Um ganz ehrlich zu sein, fragte ich mich selbst, ob René Girard nicht ein Apostel der schrecklichen Inquisitoren war, der uniformierenden Missionare, die Kulturen zerstören. Ich habe auf dem Sender France-Culture in angeregter Weise mit ihm polemisiert. Aber diese Debatten hatten wieder einmal etwas Ungewöhnliches an sich: während dieser lebhaften Besprechungen, dieser wörtlichen Angriffe, derentwegen ich mich mit jedem anderen Denker auf ewig verstritten hätte, blieb René Girard vorbildlich freundlich, interessiert, neugierig, freundschaftlich und liebenswürdig. Dieser Kerl war anders als die anderen.

Seither hat sich die Welt in einigen wenigen Jahren sehr verändert. Die UdSSR ist gestorben. Die kommunistische Erfahrung ist gerade eben aus der Welt geschaffen worden, als ob sie nie existiert hätte. Die von den Philosophen einzige vorgeschlagene Alternative zur liberalen kapitalistischen Demokratie ist in vollem Umfang versucht worden: und es hat nicht funktioniert. Wir befinden uns überhaupt nicht mehr auf demselben Stand wie am Anfang dieses Jahrhunderts, und wir werden in all den kommenden Jahrhunderten nie mehr dort sein. Die Geschichte macht uns erbarmungslos blind ­ oder sie öffnet uns die Augen ­ mit ihren brennenden Paradoxa. Die Demokratie und die Menschenrechte scheinen sich von jetzt ab jedem und überall aufzudrängen. Das ist ein erheblicher Umsturz. Plötzlich stellt sich dieses Regime, dessen Anhänger sogar bis jetzt eher dessen angeborene Schwäche unterstrichen sowie dessen Unfähigkeit, an die ihre Untertanen unterdrückenden und skrupellos ausbeutenden Diktaturen heranzureichen, gleichzeitig als das Wirksamste heraus: als das einzig Wirksame, bis auf weiteres. Die letzten Ungläubigen wurden durch den Golfkrieg daran erinnert, daß die Alliierten von 1945 nichts von ihren kriegerischen Tugenden verloren hatten. Es wird einem klarer, daß die ausgesöhnten Gegner, Deutschland und Japan, ihre Rettung nur der restlosen Annahme aller Werte ihrer Sieger zu verdanken hatten. Mit dem fünfhundertsten Geburtstag der ersten Reise von Christoph Kolumbus, die gleichzeitig den Aufschwung des merkantilen Kapitalismus und die Vernichtung des indianischen Amerika ankündigte, kommen erneut Fragen auf, die gleichzeitig begeistern und in Schrecken versetzen: sind die Verwestlichung des ganzen Planeten, die Zerstörung anderer Kulturen und anderer Regierungssysteme unvermeidlich, wünschenswert und vorprogrammiert? Ist der Triumph der Demokratie ein Sieg der wahren Liebe und Freiheit, oder gebührt dieser Sieg einer Mafia, die ihr Wohlbefinden mit dem Unglück anderer besiegelt? Geben die reichen Länder bei diesem Spiel wirklich den Ton an, oder sind auch sie einfach planetarischen, physischen, biologischen, metaphysischen oder religiösen Prozessen, denen sie nicht gewachsen sind und die sie mitreißen, ausgeliefert?

Unsere Intellektuellen haben gesehen, wie ihre Idole aus dem Sattel gehoben wurden. Sie haben angefangen, sie in dem Feuer neuer Studien zu verbrennen, sie in der Unendlichkeit neuer und lehrreicher Paradigmen verschwinden zu lassen, die sehr oft von Zufall, Selbstorganisation, Komplexität sprechen, von all den Konzepten, hinter deren Anziehungskraft das Geständnis der eigenen Machtlosigkeit gegenüber den Weltgeheimnissen nur allzusehr auf der Hand liegt ...

Im Gegenteil ist es René Girard gelungen, auch wenn er seinen Analysen ständig Ergänzungen, Feinheiten und Nuancen hinzugefügt hat, an der Essenz seiner Botschaft nicht zu rütteln; eine Botschaft, die, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet, als optimistisch oder apokalyptisch definiert wird. Bei einigen seiner Schlußfolgerungen ­ die Ankündigung der Einigung, der Vereinheitlichung der Menschheit ­ läuft mir immer noch ein kalter Schauer über den Rücken. Aber andererseits: was wäre, wenn er recht hätte? Und wenn er derjenige wäre, durch den wir an den Skandal erinnert werden?

"Wenn Ritterlichkeit uns daran hindert, zu denken", sagt René Girard, "geht das zu weit."

Der folgende Text, niedergeschrieben von Michel Treguer und revidiert von René Girard, stammt zum großen Teil aus zwei aufgenommenen Unterhaltungen zwischen beiden Autoren ­ ohne weitere Zeugen.

Dennoch sind einige Seiten anderen Werken entnommen worden ­ zum einen dem unveröffentlichten Text anderer Gespräche zwischen René Girard und Jean-Claude Guillebaud, selbstverständlich mit der freundlichen Erlaubnis des letzteren, dem beide Autoren dafür danken ­ und zum anderen früheren oder neueren, in französischer oder englischer Sprache verfassten Texten (hier neu formuliert), von René Girard.

Die Verstrickung der Themen ist genauso unvermeidlich wie auch gewollt: über die mündliche Herkunft dieses Textes hinaus, ließe sich das hier zur Debatte stehende menschliche Phänomen nicht ohne Einschränkungen in einem linearen Bericht wiedergeben. Wollen wir wetten, daß einige Wiederholungen nicht überflüssig sein werden, um einige der Mißverständnisse, die das Werk von René Girard noch umhüllen, zu beseitigen.

Michel Treguer.

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