Raymund Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (BMT 4): Politisches Nachwort

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Politisches Nachwort

Die Problematik der Erbsünde und die damit eng verbundene Frage nach dem Teufel und dem kollektiven Bösen haben uns zum Thema des Kampfes gegen das Böse geführt. Es zeigten sich dabei politische Implikationen, die auch schon früher im Zusammenhang mit der Gentechnologie angeklungen sind. Diese Implikationen sollen nun abschließend noch etwas deutlicher hervorgehoben werden. Dies drängt sich auch deshalb auf, weil schon seit Jahrzehnten eine umfassende Deutung des Politischen und eine politische Theologie vorliegen, bei denen die Erbsündenlehre eine wichtige Rolle spielt. Gemeint ist das Werk von C. Schmitt, der wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit zwar keine akademische Rolle mehr spielen konnte, dessen Einfluß aber weitergewirkt hat und der "in der gegenwärtigen (nicht nur deutschen) Szene wieder", wie J.B. Metz feststellt, "an Gewicht gewinnt"(1). C. Schmitt hat den Bereich des Politischen vor allem durch die Freund-Feind-Unterscheidung bestimmt, und gerade dadurch seinen Kritikern seit Jahrzehnten große Mühe bereitet. Einerseits vermutet man nämlich, daß sich bereits aus dieser Bestimmung des Politischen eine Nähe zum Nationalsozialismus ergibt, anderseits läßt sich schwer bestreiten, daß damit etwas Wesentliches in der politischen Geschichte der Menschheit angesprochen wird, wie bereits kurze Hinweise belegen können.

Die tiefste Einsicht ins Politische und in die Demokratie bei den Griechen findet sich, wie Ch. Meier nachweist(2), nicht im Werk des Aristoteles, wie meist angenommen wird, sondern bei Aischylos. In den Eumeniden zeigt der Tragiker, wie das gewalttätige System der Blutrache durch eine neue Rechts- bzw. Polis-Ordnung überwunden wird. Aus den gewalttätigen Erinnyen, den Rachegöttinnen, werden die sanften und segensreichen Eumeniden. Dieser fundamentale Wandel und der damit gegebene Schritt zur freien Bürgerschaft geschah aber nur durch eine Verlagerung der Gewalt: "Freundschaft (philia) nach Innen, einmütige Feindschaft nach Außen. An die Stelle der Wechselseitigkeit des Mordens soll die Wechselseitigkeit des Freudengebens treten. Feindschaft soll nicht mehr nach Innen, dafür geschlossen nach Außen sein: eine neue Polis-bezogene Scheidung von Freund und Feind soll stattfinden, eine Verlagerung der Freund-Feind-Konstellation. Darin soll die Polis ihre Einheit gewinnen."(3)

Von einem ganz anderen Bereich her kommt L. Poliakov, auf den wir bereits im Zusammenhang mit der Frage nach kollektiven Projektionen gestoßen sind, zu einem ähnlichen Urteil. In seinem Werk La causalité diabolique zeigte er, daß bei den großen europäischen Revolutionen ­ der englischen, französischen und russischen ­ Feindbilder eine entscheidende Rolle gespielt haben. In allen drei Fällen wurde nämlich die Aktionseinheit unter den Revolutionären nur durch Verschwörungstheorien und künstliche Feindbilder möglich.(4) Gerade die moderne Freiheitsgeschichte(5) belegt folglich, wie bedeutungsvoll die Freund-Feind-Unterscheidung im politischen Bereich ist.(6)

Nach der Besiegung des Nationalsozialismus im zweiten Weltkrieg glaubten zunächst viele, nur die bösen Kommunisten seien weiterhin schuld, daß wir keinen allgemeinen Frieden haben. Der Wegfall dieser weltweiten Freund-Feind-Polarisation zeigt heute jedoch, daß gerade der gemeinsame Feind viele innere Konflikte niedergehalten hatte. So stellt z.B. U. Beck, der sicher nicht der Nähe zu totalitärem Denken verdächtigt werden kann, fest: "In allen bisherigen Demokratien gibt es zwei Arten von Autorität: Die eine geht vom Volke, die andere geht vom Feinde aus. Feindbilder integrieren. Feindbilder ermächtigen. Feindbilder haben höchste Konfliktpriorität. Sie erlauben es, alle anderen gesellschaftlichen Gegensätze zu überspielen, zusammenzuzwingen. Feindbilder stellen sozusagen eine alternative Energiequelle für den mit der Entfaltung der Moderne knapp werdenden Rohstoff Konsens dar."(7) Was Beck nüchtern feststellt, haben populistische Führer und Demagogen immer schon gewußt und für ihre politischen Ziele eingesetzt.

Auf solche Einsichten stützt C. Schmitt seine zentrale These, und er setzt sie in Beziehung zu einer politischen Anthropologie, nach der "alle echten politischen Theorien den Menschen als böse voraussetzen, d.h. als keineswegs unproblematisches, sondern als gefährliches und dynamisches Wesen betrachten"(8). Diese Anthropologie steht nach Schmitt in einem klaren Zusammenhang mit der Erbsündenlehre: "Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und der Menschen führt ... ebenso wie die Unterscheidung von Freund und Feind zu einer Einteilung der Menschen, zu einer Abstandnahme, und macht den unterschiedslosen Optimismus eines durchgängigen Menschenbegriffs unmöglich."(9) Schmitt zeigt sich überzeugt, daß kein christlicher Theologe an dieser Weltsicht vorbeikommen kann: "Ein Theologe hört auf, Theologe zu sein, wenn er die Menschen nicht mehr für sündhaft oder erlösungsbedürftig hält und Erlöste von Nicht-Erlösten, Auserwählte von Nicht-Auserwählten nicht mehr unterscheidet, während der Moralist eine Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse voraussetzt."(10) In seinem Spätwerk Politische Theologie II (1970) versuchte Schmitt sogar, seine Freund-Feind-Unterscheidung von der Trinitätslehre her zu begründen.(11)

Für jede christliche Theologie, die nicht in die Nähe des Nationalsozialismus geraten will, ist die Position Schmitts herausfordernd, für viele sogar peinlich. Man ging deshalb lange Zeit fast stillschweigend an diesem politischen Denker vorbei, und heute versuchen manche, sich eher global von seiner Anthropologie und seinem politischen Grundprinzip zu distanzieren, ohne sich eingehend damit auseinanderzusetzen.(12) Auf diese Weise wird aber kaum etwas gewonnen, denn die große Wirkung von Schmitt dürfte gerade darin liegen, daß seine Freund-Feind-Relation eine unbestreitbare Nähe zur tatsächlichen Geschichte der Menschheit hat, weshalb seiner Theorie auch eine große analytische Kraft zukommt. Die Lehre vom Universalismus der Sünde ist ferner nicht nur sehr breit in den biblischen Schriften und in der kirchlichen Tradition verankert, die Erbsünde ist auch, wie wir gesehen haben, unersetzbar, wenn man sowohl am Anliegen einer radikalen Freiheit festhalten als auch mit den konkreten Fakten des menschlichen Lebens und der Geschichte zurechtkommen will.

Eine Auseinandersetzung mit Schmitt drängt sich deshalb auf, und seit Jahren hat dies vor allem W. Palaver in immer neuen Ansätzen unternommen.(13) Er kann zeigen, daß das politische Denken Schmitts einen (heidnischen) mythischen Hintergrund hat und den Versuch darstellt, die christliche Theologie auf diesem Hintergrund zu deuten und für sein politisches Denken auszuwerten. Um mit der Herausforderung seiner Politischen Theologie zurechtzukommen, darf man sie weder global verwerfen noch ihr global folgen. Es bedarf einer dauernden klarsichtigen Unterscheidung. Dazu ist, wie Palaver zeigt, das Denken Girards, bei dem die Freund-Feind-Unterscheidung ebenfalls eine große Rolle spielt, von besonderer Hilfe. Girard geht nämlich sowohl hinter Schmitt zurück als auch über ihn hinaus. Die Freund-Feind-Relation setzt bereits konstituierte politische Einheiten voraus. Die Theorie Girards macht hingegen verständlich, wie es in einer allgemeinen Krisensituation durch die Entladung kollektiver Aggressionen auf ein zufälliges Opfer (Sündenbockmechanismus) überhaupt zur ersten Unterscheidung zwischen innen und außen, Profanem und Sakralen, Vertrautem und Bedrohlichen kommt. Erst auf diesem Hintergrund und erst nach der Stabilisierung politischer Einheiten kann die Freund-Feind-Relation im Sinne Schmitts ihre Rolle spielen. Girard unterscheidet sich ferner darin von Schmitt, daß er das, was im Politischen tatsächlich eine große Rolle spielt, nicht durch biblische Aussagen zu legitimieren und zu verewigen sucht. Nach ihm hat die jüdisch-christliche Offenbarung gerade den gegenteiligen Grundimpuls, der durch Gewaltfreiheit und Feindesliebe auf die Überwindung der Freund-Feind-Relation zielt.(14) Es gibt deshalb nicht nur die alte politische Theologie von Schmitt und die neuere, die in besonderer Weise mit dem Namen Metz verbunden ist, sondern eine dritte, die von Girard inspiriert ist. Diese teilt mit Schmitt die Ansicht, daß die Freund-Feind-Unterscheidung in der politischen Geschichte tatsächlich eine große Rolle spielt und daß die Lehre von der Erbsünde ernst zu nehmen ist. Mit der neueren politischen Theologie teilt sie die Überzeugung, daß die christliche Botschaft die Freund-Feind-Relation soweit wie möglich zu überwinden hat. Dazu genügen allerdings der gute Wille und die anamnetische Vernunft allein nicht. In der Geschichte der Menschheit und vor allem in der Geschichte der christlichen Botschaft zeigt sich vielmehr ein dramatisches Ringen zwischen gegensätzlichen Mächten, ein Ringen, das auch in der Neuzeit nicht abgenommen, wohl aber teilweise subtilere Formen angenommen hat. Angesichts dieses dramatischen Ringens bedarf es einerseits einer kühlen Hellsichtigkeit, die vor dem Feindlichen nicht die Augen verschließt und es nicht theoretisch wegzudisputieren versucht; anderseits ist der Glaube an eine tatsächliche Erlösung nötig, um auf Dauer die negativen Mechanismen nicht für Naturgegebenheiten zu halten, die total unüberwindlich wären.

Mit Schmitt ist die politische Theologie auf der Linie Girards überzeugt, daß ein Theologe tatsächlich aufhört, ein christlicher Theologe zu sein, "wenn er die Menschen nicht mehr für sündhaft oder erlösungsbedürftig hält". Daraus ergibt sich aber ­ gegen Schmitt ­ keineswegs, daß "Erlöste von Nicht-Erlösten, Auserwählte von Nicht-Auserwählten"(15)abzusondern sind. Die Prädestinationslehre des Augustinus folgt keineswegs mit innerer Konsequenz aus seiner Lehre von der Erbsünde; die erstere ist tatsächlich sehr problematisch, und vom Politischen ist sie, was Augustinus selber gesehen hat, überhaupt fernzuhalten. Die Lehre von der Universalität der Sünde ist auch keine Bedrohung der Demokratie, wie Metz anzunehmen scheint. Das Gegenteil dürfte eher zutreffen. Die Lehre von der Erbsünde fördert die Selbstkritik und damit die für jede Demokratie so entscheidende Kompromißbereitschaft, wie u.a. Horkheimer und Luhmann, auf die schon eingangs hingewiesen wurde, ausdrücklich gesehen haben. In der Gegenwart wird die Demokratie eher durch die Welt der visuellen Medien, in der Argumente durch eine Flut von Bildern verdrängt werden, und durch wirtschaftliche Mächte bedroht, die sachliche Auseinandersetzungen durch die Wirkkraft des Geldes ersetzen. Angesichts der weltumspannenden Medien und wirtschaftlichen Mächte sind Gegeninstitutionen nötig, die ebenfalls weltumspannend sind und die weder auf dem Geld noch auf den Moden der medialen Welt gründen. Die Kirche als eine solche Gegeninstitution ist zwar oft hilflos und machtlos; sie hält aber grundsätzliche Alternativen offen und leistet so ­ trotz der Probleme in ihren eigenen Reihen ­ Widerstand gegen die Tendenz, die Demokratie schrittweise durch mediale Verkaufsstrategien zu ersetzen, die auf subtile Weise wieder ganz mit der Freund-Feind-Unterscheidung arbeiten. Die Lehre von der Erbsünde schafft nicht die politischen Probleme, wohl aber umschreibt sie die Größe der Aufgabe. Sie macht ein Urteil möglich, welche Lösungsvorschläge realistisch sind, bewahrt so vor kontraproduktiven und bitteren Folgen utopischer Versuche und macht deutlich, daß nur ein Glaube, der Berge versetzen kann, in der Geschichte eine echte Besserung zu bewirken vermag.

Anmerkungen:

1. Metz, Monotheismus und Demokratie, 49; vgl. auch: "Schmitt wird beispielsweise im Diskurs der Neuen Rechten als jüngster Klassiker des politischen Denkens gerühmt, von ehemals extremen Maoisten als lehrreicher Gesprächspartner dokumentiert und von Liberalen wie Sozialdemokraten als Gründungsvater der Verfassung in Erinnerung gebracht..." Rainer, C. Schmitt und J.B. Metz in fremder Nähe?, 83; ferner: Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens; Habermas, Die Normalität, 112-122.

2. Meier, Die Entstehung des Politischen,

3. Ebd. 208.

4. H. Arendt sucht diese Sicht dadurch zu relativieren, daß sie den Unterschied zwischen der amerikanischen und der französischen Revolution betont. Die letztere habe versucht, den neuen Staat durch Gewalt aufzubauen, während die erstere in einer kommunikativen Macht gründe (Vita activa oder vom tätigen Leben, 223). ­ Gewiß gibt es deutliche Unterschiede zwischen beiden Revolutionen. Arendt übersieht aber, daß bei der amerikanischen die Gewalt nur diffuser war (England als Feind ­ dauernder Kleinkrieg gegen Indianer und untereinander ­ Krieg gegen Mexiko). Vor allem aber kommt Arendt selber nicht daran vorbei, mit Jefferson von der Sklaverei als dem "ursprünglichen Verbrechen ..., auf dem das Gefüge der amerikanischen Gesellschaft beruhte", zu sprechen (Über die Revolution, 89f.145). Aus dieser Einsicht zieht Arendt jedoch keine weiteren Konsequenzen; vgl. Palaver, Foundational Violence and Hannah Arendt's Political Philosophy.

5. Daß für totalitäre Regime das Freund-Feind-Verhältnis besonders zentral ist, ist längst ein anerkanntes Ergebnis der Forschung; vgl. Wege der Totalitarismus-Forschung, Hg. von Seidel.

6. Vgl. auch: Gay, Kult der Gewalt.

7. Beck, Der feindlose Staat, 65.

8. Schmitt, Begriff des Politischen, 61.

9. Ebd. 64. ­ "Was die Leugnung der Erbsünde sozial- und individualpsychologisch bedeutet, haben Troeltsch (in seinen Soziallehren der christlichen Kirchen) und Seillière (in vielen Veröffentlichungen über Romantik und Romantiker) an dem Beispiel zahlreicher Sekten, Häretiker, Romantiker und Anarchisten gezeigt." ebd.

10. Ebd. 63.

11. Schmitt, Politische Theologie II, 116-123.

12. "Während die neue Politische Theologie vom Universalismus des Leidens ausgeht, ohne sich dabei von einem Mythos der Leidfreiheit leiten zu lassen, setzt die politische Theologie Schmitts auf den Universalismus der Sünde, speziell der Erbsünde. In ihm wurzelt nicht nur Schmitts Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Menschen zur demokratischen Selbstregierung, auf ihn geht auch sein politisches Grundprinzip der Freund-Feind-Konstellation zurück." Metz, Monotheismus und Demokratie, 49.

13. Palaver, A Girardian Reading of Schmitt's Political Theology; ders., Order out of Chaos; ders., Schmitt's Critique of Liberalism; ders., Die Politische Theologie des Großinquisitors; ders., Das Arkanum in der Politik; ders., Ein doppelte Lektüre der Politischen Theologie Carl Schmitts; ders., Carl Schmitt on Nomos and Space; ders., Das mythische Grundmuster von Carl Schmitts Begriff des Politischen.

14. Die Freud-Feind-Relation ist biblisch mit dem Thema des Teufels verbunden. Durch das Umkippen der diffusen wechelseitigen Gewalttätigkeit in die Gewalt aller gegen einen (Sündenbockmechanismus) kann Girard verständlich machen, weshalb der Teufel in den biblischen Schriften einerseits als diabolos das Prinzip der Verwirrung und Unordnung und als Satan anderseits das Prinzip der (totalitären) Ordnung (Herrscher der Welt) ist; vgl. Girard, Der Sündenbock, 263-280.

15. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 63.

 

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