Postkarte Fulpmes im Stubaital (1961)

Transnationale Räume, Regulierte Räume, Ethnisierte Räume (Migration und Fulpmes II)

Im zweiten Teil zu Migration und Fulpmes berichtet der Innsbrucker Historiker Marcel Amoser von seinen Erkenntnissen über die verschiedenen Arten von Räumen, die es in Fulpmes gab und gibt.

Hier geht es zum ersten Teil.  

Im Folgenden werden Ergebnisse von drei Gruppendiskussionen zusammengefasst. Es wurden Personen mit Migrationserfahrung aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien befragt. Eine weitere Gruppe setzte sich aus Personen mit keiner direkten bzw. einer Binnenmigrationserfahrung aus Österreich zusammen.[1]

Transnationale Räume

Über die Geschichte der Migration zu sprechen bedeutet, sich in transnationalen Räumen zu bewegen […]. Quasi selbstverständlich wurde auch in den Erzählungen vom Leben in Fulpmes zum Leben an anderen Orten gewechselt. Die Befragten erklärten, dass die Arbeit in Fulpmes für viele Menschen eine Zwischenstation darstellte. Manche reisten weiter nach Deutschland, und andere immer wieder zurück in die Türkei oder nach Jugoslawien.[2] Manche blieben über Jahrzehnte bei derselben Firma und leben auch heute noch in Fulpmes […]. Migration ist, wie die Erzählungen verdeutlichen, kein einmaliger Akt der Reise von einem Staat in einen anderen, sondern ein Hin und Her, ein Kommen und Gehen. Informationen, die im Rahmen dieser Netzwerke ausgetauscht wurden, motivierten weitere Menschen, eine Arbeit in Österreich zu suchen. Das Phänomen der Kettenmigration zeigt sich in Fulpmes vor allem darin, dass viele aus der türkischen Provinz Uşak kamen. Der transnationale Raum, der in den Erzählungen erzeugt wurde, zeichnet sich nicht nur durch ein hohes Maß persönlicher Mobilität aus, sondern auch durch staatenübergreifende familiäre Bindungen und Netzwerke […].             

Regulierte Räume

Fulpmes wird in den Erzählungen auch als regulierter und kontrollierter Raum beschrieben. Das „Gastarbeiterregime“ orientierte sich bei der einschlägigen Gesetzgebung und damit bei den Möglichkeiten und Schranken der Migration an einer ökonomischen Verwertungslogik, die MigrantInnen die Funktion einer „industriellen Reservearmee“ zuwies.[3] In den Gesprächen wurde auf diese prekäre Situation vielfach Bezug genommen [...]. Die Notwendigkeit, immer wieder von Neuem um ein Visum anzusuchen, das Rotationsprinzip (die damit verbundene Beschränkung der Beschäftigungsdauer auf maximal ein Jahr), aber auch das gesetzlich verankerte Inländerprimat und damit die ständig drohende Gefahr, zuerst von Entlassungen betroffen zu sein, erzeugten eine Art Schwebestatus. Dieser materialisierte sich nicht zuletzt in den betriebseigenen Unterkünften, deren Benutzung an ein aufrechtes Arbeitsverhältnis gekoppelt war. Viele der Unterkünfte wurden als verfallen und überfüllt wahrgenommen. [...]. Für das Bewusstsein, sich in einem regulierten Raum zu befinden, waren des Weiteren polizeiliche Kontrollen der Wohnverhältnisse, Diskriminierungen und behördliche Schikanen verantwortlich. Herr Mustafa in Diskussion mit anderen TeilnehmerInnen der „Erinnerungswerkstatt“ hierzu: „Die Polizei hat uns immer kontrolliert. Sie kamen einfach in unsere Wohnungen hinein und kontrollierten unsere Pässe.“[4] Hinzu kamen Eignungstests und Gesundheitsuntersuchungen, die auf die optimale Verwertbarkeit der angeworbenen Arbeitskraft zielten.[5] Diese Erfahrungen charakterisierten Fulpmes als kontrollierten Raum.

Ethnisierte Räume

Beim Sprechen über Migration spielen auch ethnisierte Räume eine wesentliche Rolle.[6] Die Rede von Parallelgesellschaften [7] und die damit einhergehende Problematisierung bestimmter Stadtteile ist wohl ihr deutlichster Ausdruck. Besonders in der Analyse der Gruppendiskussion mit Personen ohne direkter Migrationserfahrung fiel auf, dass Migration – wenngleich teils humoristisch aufbereitet – sehr defizitär besetzt war.[8] Das Sprechen über Migration fokussierte auf sprachliche Probleme, zu frühe sexuelle Erfahrungen und Eheschließungen, „Verwandtenehen“, physische Gewalt, unordentliche Behausungen sowie unangenehme Gerüche.[9] Über die negativen Zuschreibungen wird nicht nur ein statisches und homogenisierendes Kulturverständnis vermittelt, sie erlauben den Sprechenden auch, sich selbst als Teil einer besseren, aufgeklärten Gruppe zu verstehen. Anders gewendet: In der negativen Zuschreibung bildet und erkennt sich das idealisierte Selbst der „Einheimischen“.[10]

 Zwischen den ethnisierten Gruppen wurde jedoch auch unterschieden. So seien „die Jugoslawen“ besonders „rabiat und trunksüchtig“ gewesen. „Den Türken“ wurde vergleichsweise größere Reinlichkeit attestiert. Die desolaten, schmutzigen und beengten Wohnverhältnisse seien zudem – so die Rechtfertigungsstrategie – Resultat jener Gewohnheiten gewesen, die sie von zuhause mitgebracht hätten.[11] [...].

Zuschreibungen und negative Erfahrungen im Alltag beeinflussten auch Selbstethnisierungen. So diente die Vorstellung einer ethnischen Idylle der Herstellung von Gemeinschaftlichkeit. Pointiert formulierte es Herr Mustafa: „Wir Türken hatten unter uns keine Sorgen oder Streite, wir lebten alle ganz glücklich zusammen. An Wochenenden haben wir uns immer getroffen.“[12]

 

 

Marcel Amoser
© Foto Hofer

Marcel Amoser studierte Geschichte, Soziologie und Gender, Kultur und sozialer Wandel an der Universität Innsbruck. Er ist seit 2014 beschäftigt beim Zentrum für MigrantInnen in Tirol (ZeMiT), im Rahmen des Projekts „Erinnerungskulturen“. Seit 2016 arbeitet er insbesondere am Aufbau des Dokumentationsarchivs Migration Tirol.
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Beim Text handelt es sich um einen Textausschnitt. Der gesamte Text ist  im Ausstellungsband „Hier Zuhause. Migrationsgeschichten aus Tirol“ (S. 89-97) abgebildet.
Vielen Dank an Marcel Amoser und das Tiroler Volkskunstmuseum für die Verwendung des Textausschnitts. 

 

Quellen

[1] Zur Methode und den befragten Personen siehe Hollomey-Gasser/Amoser/Hetfleisch: Erinnerungskulturen, S. 14–21.

[2] Dokumentationsarchiv Migration Tirol, o. Sig.: EW 8: Z 223–225, Z 364 ff., Z 407–410.

[3] Unter Bezugnahme auf den Begriff der industriellen Reservearmee bei Karl Marx, betonte der Migrationsforscher Marios Nikolinakos in seiner Analyse des Gastarbeitersystems der BRD bereits die ökonomische Pufferfunktion von MigrantInnen, die sich in den gesetzlichen Rahmenbedingungen niederschlug: Nikolinakos, Marios: Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage. Migration und Kapitalismus, Reinbek 1973.

[4] EW 8: Z 439f.

[5] EW 8: Z 3–6. – EW 10: Z 368–378. Die kolonialen Muster des „Gastarbeitersystems“ und die Reduktion von Menschen auf ihre ökonomische Verwertbarkeit hat diesem Zusammenhang der Politologe Kien Nghi Ha am Beispiel Deutschlands nachgezeichnet: Ha, Kien Nghi: Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmarktpolitik, in: Steyerl, Hito/Gutiérrez Rodríguez, Encarnacion (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2012, S. 56–107.

[6] Ethnizität ist dabei nicht als natürliche Voraussetzung, sondern als folgenreiches Resultat sozialer Aushandlungen und Grenzziehungen zu verstehen. Wegweisend zum Verständnis von Ethnizität als „boundary work“ ist Barth, Fredrik: Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Difference, Oslo 1969.

[7] Siehe den Beitrag von Edith Hessenberger: Auch in Telfs zuhause. Leben in einer Parallelgesellschaft? in diesem Band, S. ##.

[8] Beispielsweise machen sie sich darüber lustig, dass die zugereisten Kinder in der Schule nicht wussten, wie sie die Toilette benutzen sollten. Sie mussten quasi erst durch Instruktionen zivilisiert werden. Auch die Rede von den armen Kindern, die eigentlich nichts dafürkönnen, reproduziert einen kolonialen Blick. EW 10: Z 2475–2511. In diesem Kontext könnte das Forschungs-Setting Gruppendiskussion durch (angenommene) Erwartungshaltung und gegenseitige Bestärkung bestimmte Vorstellungen und Zuschreibungen noch verstärkt haben.

[9] EW 10: Z 1077–1126, Z 1723, Z 2050, Z 2083, Z 1187–1221, Z 2120–2145.

[10] Zu Grundlagen von und Kritik an diesem Repräsentationssystem, vgl. z. B. Hall, Stuart: Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht, in: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität (= Ausgewählte Schriften 2), Hamburg 2012, S. 137–179.

[11] EW 10: Z 1187–1221.

[12] EW 8: Z 815f. – Weiters EW 8: Z 594–597.

 

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