Winston Churchill

Denken Sie, dass sich die EU so entwickelt hat, wie es sich die Gründerväter (Winston Churchill) vorgestellt haben?

ANTWORT
von Univ.-Prof. Dr. Roman Anton Siebenrock
Katholisch-Theologische Fakultät

In der Antwort muss zunächst geklärt werden, was die Absicht der „Gründungs­väter“ war. Dann erst kann der zweite Aspekt der Frage beantwortet werden.

Am Anfang stand die waghalsige Hoffnung und der Mut, einen neuen Weg zu wagen

Die Anfänge der Europäischen Union liegen im Entsetzen über den doppelten kollektiven Fast-Selbstmord Europas im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, sowie im Schrecken über die Gräuel eines Nationalismus, der in Deutschland alle Grenzen des Vorstellbaren gesprengt hat und als purer Vernichtungswillen gegenüber anderen Menschen (Juden, Slawen, Roma und schließlich alle, die nicht in das Geschrei einstimmten) sich zeigte. Deshalb gab es bald nach 1945 politisch-strukturelle Versuche, einen neuen Krieg zu verhindern und das „gefährliche Deutschland“ international einzubinden. Aber wie sollte das geschehen? Es gab Pläne, Deutschland zu zerteilen oder zu einem vorindustriellen Agrarstaat zurück zu bauen.

In dieser Situation, die zunächst zum Zusammenschluss West-Europas führte, war sicherlich auch von Bedeutung, dass seit 1947/48 ein sich verschärfender Kalter Krieg mit seiner Blockbildung in Europa und der ganzen Welt einsetzte. In diesem Kontext gab es dann einige Ideen.

Unter den wichtigen Anstößen zum politischen Gründungswillen gehört sicherlich die Rede von Winston Churchill in Amsterdam (1948), in der er auf der Basis einer Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland die Vereinigten Staaten von Europa forderte. England aber wollte er nicht in diesen Einigungsprozess verwickelt wissen.

Einige entscheidende Persönlichkeiten, man nennt sie „Gründungsväter“, aber es gibt auch „Gründungsmütter“.[1]  Entscheidend war der sogenannten „Schuman-Plan“ (Mai 1950), der einen Durchbruch und eine visionäre Orientierung vorlegte, die auch politisch realisierbar war. Darin wird ein Einigungsprozess skizziert, der einerseits alle kriegswichtigen Industrien Deutschlands mit der Frankreichs verknüpfte (Kohle- und Stahlunion), das deutsche Militär international einzubinden suchte (zuerst in der WEU, dann durch die NATO) und den konkreten Einigungsprozess als einen vernünftig verantwortbaren pragmatischen Prozess des Ausgleichs und des gemeinsamen Ringens anlegte, ohne schon am Anfang wissen zu wollen und zu können, wohin genau die Reise geht. Neben innereuropäischen sicherheitspolitischen Zielen war dem Schuman-Plan auch eine außen­politische, ja eine weltpolitische Zielsetzung eigen. Die Einigung Europas und der dadurch erwartete Wohlstand sollten auch anderen, es wird ausdrücklich Afrika genannt, zugutekommen.

Solange die europäischen Staaten am gemeinsamen Weg durch Verhandlung, Kompromiss und guten Lösungen für alle festhalten, lebt die Europäische Idee. Das Friedenskonzept ist eingelöst. Aber es ist gefährdet, weil es heute von vielen als selbstverständlich angesehen wird. Das ist es aber nicht, vor allem deshalb, weil der alte Nationalismus, der Totengräber Europas, wieder erwacht ist. Auch ist es der Europäischen Union nicht gelungen, Wohlstand und Demokratie in partnerschaftlichen Weise mit anderen Kontinenten zu teilen. Die Migration nach Europa ist nur die Folge der Nichteinlösung dieses Versprechens. Aber die Frage sollte nicht an die „Gründungsväter“ gestellt werden, sondern uns selbst zur Beantwortung aufgeben werden: Was tue ich, um Frieden und Gerechtigkeit, sowie die Anerkennung von Freiheit und Würde aller Menschen zu fördern? In unserer Zeit aber ist uns ein Thema brennend nahegekommen, von dem Anfang nicht die Rede war: die Verantwortung für unseren Planeten, damit auch unsere Enkelkinder eine lebbare Welt vorfinden.

[1] Die offizielle Homepage der Europäischen Union nennt als „Pioniere“ folgende Namen: Konrad Adenauer; Joseph Bech; Johan Willem Beyen; Winston Churchill; Nicole Fontaine; Alcide De Gasperi; Walter Hallstein; Ursula Hirschmann; Sicco Mansholt; Jean Monnet; Robert Schuman; Paul-Henri Spaak; Altiero Spinelli und die 1943 verstorbene deutsch-jüdische Philosophin Simone Veil (https://europa.eu/european-union/about-eu/history/eu-pioneers_de).

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