„Da wirkt Innsbruck und der Stadtteil darunter ganz klein.“ Aufwachsen in Pradl und die Migration des Großvaters

Der aus Innsbruck stammende Lehrer und Autor Josef Wallinger berichtete in einem Interview über sein Aufwachsen in Pradl und über die Migration seines Großvaters.
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(Credit: Foto: Projekt)

Was bedeutet Aufwachsen in Tirol? In Innsbruck? In Pradl? Welche transnationalen Bezüge lassen sich in Familien feststellen? Wie zeigen sich diese? Was bedeutet die Migrationserfahrung eines Familienmitglieds? Dies sind Fragen, die wir uns im Rahmen des Projekts „Gesichter der Migration“ gestellt haben und denen wir unter anderem auch im Interview mit Josef Wallinger nachgegangen sind.


Pradl in Bewegung

Josef Wallinger wuchs während der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts im Innsbrucker Stadtteil Pradl auf. In dieser Zeit gab es in Innsbruck noch viele Wohnungen, die über keine eigene Toilette oder gar Badewanne verfügten. Dies mag insbesondere für Wohnungen aus dem damaligen „Arbeiterviertel“ Pradl gegolten haben. Zugleich wurde Pradl von Josef Wallinger als ein Ort erlebt, der schwierigere ökonomische Verhältnisse ausgleichen konnte. Beispielsweise half das Hallenbad als „Badewanne“ aus:

„Also für mich war das Leben in Pradl anfangs sehr schwierig, weil meine familiären Verhältnisse problematisch waren […]. Wir mussten sogar Lebensmittel anschreiben lassen, um die Milch zu bekommen […]. [Das] Hallenbad kommt noch dazu […], auch als Badewanne sozusagen. Wenn man sich vorstellt: Klo außerhalb der Wohnung, also überhaupt kein Bad natürlich, alle waschen sich in der Küche. Da ist man dann schon angewiesen auf die Infrastruktur, wenn in der Wohnung verschiedene Sachen fehlen.“

Darüber hinaus stellte das Viertel auch einen Ort des „Zeitvertreibs“ dar, an den viele Kindheits- und Jugenderinnerungen geknüpft sind. So berichtete Herr Wallinger, dass er einen großen Teil seiner Kindheit auf den Straßen Pradls oder im Rapoldipark verbracht habe. Dort traf er sich mit anderen Kindern zum Spielen, manchmal auch zum Raufen. Seine Jugend hingegen war vor allem durch den Fußball geprägt. Einen großen Anteil hatte daran der Fußballverein Wacker Innsbruck. Die „goldenen Ära“ der 60er und 70er Jahre mag noch so manchen FußballkennerInnen im Gedächtnis geblieben sein: Die Profis des Vereins gewannen damals nationale Titel und bestritten auch legendäre internationale Partien, etwa gegen das „große“ Real Madrid. Josef Wallinger begann zunächst, mit anderen Kindern in seiner Straße Fußball zu spielen, später spielte er in der Jugendmannschaft des FC Wacker: „In der Jugend war dann der Fokus bei mir ziemlich stark auf Fußball gerichtet. Das heißt, zuerst war es ein bestimmter Hof in der Resselstraße, wo ich Fußball spielen begonnen habe, und dort haben sich dann die besten Spieler zu Wacker – also zu dem Paradeklub – aufgemacht in die Wiesengasse, ganz in der Nähe.“ Aus Zeitgründen – er musste sich auf die Schule konzentrieren – fand Josef Wallingers „Fußballerkarriere“ jedoch ein jähes Ende.            
Besonders gut im Gedächtnis blieb Herrn Wallinger ein Erlebnis im Tivoli-Schwimmbad: „Ein Höhepunkt war natürlich der Sprung vom Zehnmeterturm. Da wirkt Innsbruck und der Stadtteil darunter ganz klein.“ – Beim Vergleich des Stadtteils „von damals“ mit dem heutigen fiel Josef Wallinger auf, dass Pradl vielfältiger geworden ist: „Der Stadtteil hat sich verändert, ist bunt, ist vielschichtiger geworden. Von der Zusammensetzung der Bevölkerung. Das spiegelt sich eigentlich in allen Einrichtungen und Versorgungseinrichtungen wieder.“

Transnationale Bezüge       

Ähnlich prägend, wie sich der Stadtteil auf Herrn Wallingers persönliche und familiäre Geschichte auswirkte – aber doch auf eine andere Art und Weise –, war die Emigration seines Großvaters. Für sein Buch „Von Osttirol nach Paraguay. Auf den Spuren des Großvaters“ begab sich Josef Wallinger im Jahr 2003 auf Spurensuche: Der Großvater, Alois Gasser, wanderte im Jahr 1931 von Virgen nach Paraguay aus. Zurück blieben Herrn Wallingers Großmutter, Angela, und seine Mutter, Gertraud. Ursprünglich war geplant, dass die beiden möglichst bald nachkommen. Es sollte anders kommen: Angela heiratete den Hofnachbarn – weshalb Josef Wallinger seinen leiblichen Großvater nie kennenlernte. Gertraud zog Jahre später nach Innsbruck: „Dadurch ist [meine Mutter] dann auch nach Innsbruck gekommen. Und so ist es eben. […] Man ist selber das Produkt davon und es gäbe einen nicht, wäre der Großvater nicht ausgewandert und wäre die Geschichte nicht so gelaufen.“     

Nun, wie kam es zur Auswanderung des Großvaters? Der wichtigste Grund für dessen Entscheidung war sicherlich die schwierige Lebenssituation, in der sich Alois Gasser befand: Zu jener Zeit bestimmte die Weltwirtschaftskrise das Leben vieler Menschen, dementsprechend düster waren auch die Zukunftsaussichten: „Eines war klar. [Alois Gasser] war ein Kind ohne irgendwelche Chancen auf eine Hofübernahme, was ja so wichtig wäre […], dass man einer Frau was bieten konnte. Das war eigentlich klar, dass man da einen Hof haben muss. Und er war, glaube ich, das neunte Kind. Noch dazu nicht einmal das Kind des Bauern, sondern der war nur sein Onkel. Also [Alois Gasser] hat überhaupt keine Chance gehabt. Er hätte bestenfalls als Knecht arbeiten können.“

Die Biografie von Alois Gasser steht exemplarisch für die von vielen Menschen aus Tirol zu jener Zeit. Deren Alltag war vielfach durch große Armut und Perspektivenlosigkeit geprägt. Nach Paraguay oder in andere südamerikanische Länder auszuwandern, schien wie ein großes Versprechen für Menschen, die hierzulande schlechtgestellt waren: Sie erhofften, sich dort ein Leben aufbauen zu können, das ihnen in Europa nie möglich gewesen wäre. Entsprechend wurde auch von Seiten der Politik damit geworben auszuwandern: „Nachdem […] höchste Regierungskreise, in der Person des Landwirtschaftsministers Thaler, geworben haben, dass solche Menschen wie mein Großvater am allerbesten auswandern, weil dort Gold und Silber auf sie warten, hat er natürlich den Verlockungen nachgegeben. Ich glaube, er hat ein Jahr lang gespart. Durch Ziegenhüten hat er das Geld zusammenbekommen. Und hat dann diesen Riesenschritt mit vielen anderen über den großen Teich gewagt und ist dann dort gelandet. Allerdings im Urwald. Und es war nichts vorbereitet für die Einwanderer.“

Hervorzuheben ist, dass Alois Gasser die Entscheidung offenbar wohlüberlegt getroffen hat. Dabei erwarteten ihn nach der Überfahrt über den „großen Teich“, also den Atlantischen Ozean, außerordentliche Mühen. Trotz – oder gerade wegen – dieser Herausforderungen schaffte er es, sich ein Leben in Paraguay aufzubauen. Seiner Frau und seiner Tochter blieb es zunächst aus finanziellen Gründen und dann wegen des Zweiten Weltkriegs trotz großer Bemühungen verwehrt, nach Paraguay nachzukommen. Nach einigen Jahren heiratete Angela den Hofnachbarn in Osttirol und auch Alois fand in Paraguay eine neue Partnerin: „Und nach einigen Jahren, ich glaube, es waren insgesamt acht, hat er dort eine Frau gefunden. Eine Frau aus einem indigenen Stamm. Und er hat sie geheiratet und bekam dann mit ihr sieben Kinder über die Jahre. Und mit diesen Kindern ist es mir gelungen, nachdem ich dort hingereist bin, Kontakt aufzunehmen.“

Zwar starb Alois Gasser, bevor Josef Wallinger ihn kennenlernen konnte, jedoch gelang es ihm, Kontakt zu dessen Nachfahren aufnehmen, unter anderem auch zur Tochter seines Großvaters, Elisa, die studiert hat und somit eine „Art Aushängeschild“ für die Familie darstellt. Durch einen elfjährigen Aufenthalt in einem Karmelitinnenkloster in Buenos Aires konnte sie die deutsche Sprache erlernen. Während einer Paraguay-Reise machte Herr Wallinger, dank eines von ihr organisierten Familientreffens, Bekanntschaft mit allen noch lebenden Kindern seines Großvaters; der Kontakt zu Elisa blieb bis heute erhalten. So ergab sich 2004 die Gelegenheit, dass Elisa Tirol und dabei auch Virgen, den ursprünglichen Heimatort von Alois Gasser in Osttirol, kennenlernen konnte.

In Virgen stellte Josef Wallinger während Elisas Besuch sein Buch „Von Osttirol nach Paraguay. Auf den Spuren des Großvaters“ vor: „Ja, das muss man sich als sehr emotionale Angelegenheit vorstellen. Meine Mutter war siebzig. Wir haben sie [Elisa] vom Flughafen abgeholt und man kann sich vorstellen, wie das war, als die beiden sich da in die Arme geschlossen haben. Das war sehr emotional. Und dann, der nächste emotionale Höhepunkt war natürlich die Virgenreise, wo eben das Buch präsentiert worden ist. Ich kann mich erinnern, als ich die Elisa an den noch stehenden Hof ihres Vaters geführt habe und ihr gesagt habe: ‚Ja, da hat dein Vater gelebt.‘ Da war sie immerhin auch schon knapp über sechzig […]. Und das hat natürlich auch die Elisa und mich sehr zusammengeschweißt.“

Städte – und damit auch einzelne Stadtviertel – waren immer schon durch Migration geprägt, sie befinden sich durch sie in einem kontinuierlichen Wandel. Innsbruck wurde und wird geprägt durch InnsbruckerInnen aus „erster Generation“ und „zweiter Generation“, wie beispielsweise Josef Wallinger – und auch durch solche aus „fünfter“ oder „zehnter Generation“. Es ist anzunehmen, dass das heutige, vielfältige Pradl die dort aufwachsenden Kinder und Jugendlichen anders prägt, als das gleiche Viertel die Kinder vor wenigen Jahrzehnten prägte. Aus bildungswissenschaftlicher Sicht stellen die Vielfalt und die lokal im Viertel verorteten globalen Phänomene – in der Wissenschaft häufig als Glokalität bezeichnet – gute Bildungs- und Lernchancen dar.      
Transnationale familiäre Bezüge, wie sie sich in der Bekanntschaft zwischen Josef Wallinger und Elisa zeigen, waren auch immer wieder Gegenstand im Forschungsprojekt „Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte“: In jeder Schulklasse gibt es Kinder, die entweder selbst eine Migrationsgeschichte haben oder deren Familienangehörige vor kürzerer oder längerer Zeit zu – oder weggezogen sind  Beispielsweise aus anderen Regionen Österreichs, aus England, der Slowakei oder der Türkei. Oft gehen diese Bezüge einher mit grenzüberschreitenden Lebensentwürfen. Dabei ist letztlich nicht zu übersehen, dass das, was – oberflächlich betrachtet – als typisch „tirolerisch“ oder „homogen einheimisch“ wahrgenommen wird, tatsächlich das Resultat vielfacher Einflüsse ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass Migration in Tirol eine Normalität darstellt: sei es im Kleinen, wie zum Beispiel innerhalb einer Familie, oder im Großen, wie in einem Dorf oder einer Stadt – und damit auch in einem Stadtviertel wie Pradl.

 

 

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© Josef Wallinger

 

Josef Wallinger lebt und arbeitet heute in Hall in Tirol als Lehrer.
Er beschäftigt sich in seinen Büchern mit seiner Kindheit und Jugend im Stadtteil Pradl während der 1960er und 1970er Jahre sowie mit der Migration seines Großvaters von Osttirol nach Paraguay.

 

 

 

 

 

Fotos zum Beitrag.  

 

 

Von Josef Wallinger erschienen:

Kindheit in Pradl (2017).

Von Osttirol nach Paraguay. Auf den Spuren des Großvaters (2004). Eigenverlag J. Wallinger.

 

 


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