Kautschukbaum auf einer Plantage.
Kautschukplantage.

Die Be­deu­tung indi­ge­nen Wis­sens für die Ge­schich­te des Kau­tschuks

Mit diesem „Beitrag zur Dekolonialisierung der Wissenschafts- und Technikgeschichte“ eröffnete Prof. Dr. Jens Soentgen (Universität Augsburg) im Rahmen seines Gastvortrags in der ZIAS-Reihe „Die Amerikas und das Anthropozän“ hochinteressante Perspektiven auf die historischen und technischen Prozesse rund um den heutzutage unentbehrlichen Rohstoff.

Prof. Soentgen leitet das Wissenschaftszentrum Umwelt der Universität Augsburg und forscht in den Bereichen der Environmental Health Sciences sowie der Environmental Humanities. Als Chemiker und Philosoph verknüpfte er bei seinem virtuellen Gastvortrag am 21. April natur- und geisteswissenschaftliche Elemente zu einer aufschlussreichen Analyse der Geschichte des Kautschuks, die neben der Entwicklung von Produktions- und Kulturtechniken ebenso von kolonialen Narrativen erzählt.

Dass Kautschuk als eine Schlüsselinnovation bezeichnet werden kann, ohne die die globale Industriegeschichte anders verlaufen wäre, ist nicht zu leugnen. Als das Material im Jahr 1851 auf der Weltausstellung in Paris erstmals präsentiert wurde, ging James Goodyear als Erfinder des Verfahrens der Vulkanisation, welches den Rohstoff in elastisches Gummi verwandelt, in die Geschichtsbücher ein.

Jedoch hatten verschiedene indigene Völker aus dem Amazonasgebiet schon lange Zeit vor Goodyears Erfindung ein perfekt auf ihre Umwelt abgestimmtes Verfahren zur Produktion von Gummi entwickelt: das flüssige Kautschuk wurde auf Formen aus Ton gegossen und anschließend geräuchert, sodass haltbare Produkte wie Gummibälle, Beißschienen oder Schuhe angefertigt werden konnten. Diese fertigen Erzeugnisse weckten die Neugier der Conquistadoren und wurden in die „Alte Welt“ gebracht, wo ebenso seit jeher verschiedene kautschukliefernde Pflanzen existieren, aber nicht zur Produktion von Gummi genutzt wurden.

Indigene Kautschukverarbeitung Anfang des 19. Jahrhunderts in Pará. Quelle: D.P. Kidder u. J.C. Fletcher, Brazil and the Brazilians, London 1857, S. 553.
Indigene Kautschukverarbeitung Anfang des 19. Jahrhunderts in Pará. (Credit: D.P. Kidder u. J.C. Fletcher, Brazil and the Brazilians, London 1857, S. 553.)

Anders als im klassischen „Gummi-Narrativ“ postuliert, war es also nicht nur das botanische Wissen um die latexführenden Pflanzen, sondern vor allem das Prozesswissen der indigenen Völker sowie deren Produktideen – und bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch die fertigen Produkte –, die in den Globalen Norden exportiert wurden und dort den Impuls für die Entwicklung eines industriellen Verfahrens zur Konservierung des Rohstoffs gaben. Obwohl die heutige Kautschukindustrie ohne dieses indigene Wissen nicht entstanden wäre, wird dieser Beitrag in den meisten globalhistorischen Berichten übergangen und die Biovulkanisation als primitive, traditionelle Technik dargestellt. Ähnliches passierte mit vielen weiteren indigenen Erfindungen und Entdeckungen, anhand derer verschiedenste Rohstoffe wie Tabak, Kakao, Pilocarpin oder Curare für den Menschen nutzbar gemacht werden konnten. Indigenes Wissen ist somit nicht nur als normative, sondern auch als analytische Kategorie unabdingbar, da eine korrekte Periodisierung in der Wissenschafts- und Technikgeschichte die Anerkennung der Leistungen und Entwicklungen indigener Völker voraussetzt.

Diese von Prof. Soentgen geforderte Revision des kolonialen Blickwinkels wurde nach dem Vortrag mit den zahlreichen Teilnehmenden rege diskutiert und um verschiedene (klima-)politische Facetten erweitert. Auch im nächsten Vortrag der Reihe geht es um die kritische Perspektive auf wissenschaftliche Konzepte: unter dem Titel „Anthropozän vs. Kapitalozän“ analysiert Dr. Kristina Dietz (Universität Kassel) die Folgen der Naturausbeutung in Lateinamerika. Der Vortrag findet am 5. Mai um 19:00 Uhr virtuell statt.

Alle Informationen zum weiteren Programm finden Sie im Veranstaltungskalender des ZIAS.

(Jana Kluiber, Zentrum für Interamerikanische Studien – ZIAS)

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