Ältere Menschen und eine jüngere Person sitzen draußen zusammen.

Dem demografischen Wandel und dem steigenden Bedarf an Langzeitpflege begegnet die EU mit einer Care-Strategie.

Eur­opa wird älter und wen kümmert’s?

Die EU-Staaten bewältigen die Herausforderung einer immer älter werdenden Gesellschaft und den dadurch steigenden Bedarf an Langzeitpflege auf höchst unterschiedliche Weise. Soziologe Bernhard Weicht untersucht, wie die europäischen Länder voneinander lernen und die Situation für Pflegende und Pflegebedürftige langfristig verbessern können.

Heute, am 7. Oktober, wird der Welttag der menschenwürdigen Arbeit begangen. Gewerkschaften und andere Institutionen setzen sich an diesem Tag öffentlich für faire und gesunde Arbeitsbedingungen und u.a. für die Gleichbehandlung von Frauen am Arbeitsmarkt ein. Laut Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) machen Entscheidungsfreiheit bei der Berufswahl, gerechte Entlohnung, sichere und gesunde Bedingungen, geregelte Arbeitszeiten, ausreichende Erholung sowie das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren eine menschenwürdige Arbeit aus. Die Realität, insbesondere in Ländern mit niedrigen Einkommen, sieht jedoch oft vollkommen anders aus. Aber nicht nur dort, sondern auch mitten in der Europäischen Union gibt es Bereiche, in denen Handlungsbedarf in Hinblick auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen besteht – einer davon ist die Pflege. „In der Pflegearbeit kommen wir in manchen Settings mit Sicherheit an die Grenzen dessen, was unter menschenwürdiger Arbeit verstanden wird“, sagt Assoz.-Prof. Bernhard Weicht vom Institut für Soziologie. „Etwa in der 24-Stunden-Betreuung, wo meist keine Trennung zwischen Arbeits- und Lebensort und damit auch keine Rückzugsmöglichkeit besteht, und die Pflegekräfte ständig verfügbar sein müssen.“ Aber auch in der institutionellen Pflege ist die Arbeitssituation laut Weicht aufgrund von Personalmangel und steigender Pflegebedürfnisse oft an der Grenze der Menschenwürdigkeit. Ständige Bereitschaft, die systembedingte Unmöglichkeit, die Arbeit den eigenen Ansprüchen entsprechend zu erledigen, oder Überforderung stehen bei Mitarbeiter:innen in vielen Pflegeheimen auf der Tagesordnung.

„In der Pflegearbeit kommen wir in manchen Settings mit Sicherheit an die Grenzen dessen, was unter menschenwürdiger Arbeit verstanden wird.“

Wie dringend der Handlungsbedarf ist, hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie offensichtlich gemacht. Bernhard Weicht beschäftigt sich allerdings schon weitaus länger mit der Frage, wie man Pflegesysteme und -konzepte sowohl für Pflegende als auch für Pflegeempfänger:innen verbessern oder neu denken kann. Aktuell ist er mit seinem Team am Horizon-Europe-Projekt LeTs-Care beteiligt, das wissenschaftliche Grundlagen für die Entwicklung einer europaweiten Care-Strategie liefern soll. Diese hat unter anderem gerechten und bezahlbaren Zugang zu guter Pflege, aber auch bessere Bedingungen für Pflegende zum Ziel. „Die Grundidee des Projektes war, dass die EU-Staaten anhand von Best-Practice-Beispielen voneinander lernen sollten. Vor dem Hintergrund unserer Erfahrung haben wir versucht, diesen Ansatz ein wenig in Frage zu stellen“, führt der Soziologe aus. Denn politische Systeme und gesellschaftliche Zugänge zu Pflege unterscheiden sich innerhalb der EU in vielen Fällen sehr stark: In manchen Ländern wird Pflege staatlich gefördert, anderswo liegt sie traditionell in der Verantwortung der Familie. „Modelle und Praktiken lassen sich nicht einfach eins zu eins in andere Staaten übertragen“, erklärt Weicht. Genau zu verstehen, ob, wie und warum welche Pflegepraktiken funktionieren, zählt zu den Vorhaben von LeTs-Care.

Nationale Besonderheiten

Das internationale Projekt-Team schaut sich dazu innovative Pflegepraktiken und -modelle in Österreich, Dänemark, den Niederlanden, Italien, Litauen, Portugal und Spanien genau an und berücksichtigt die jeweiligen Rahmenbedingen im Land. Die Wissenschaftler:innen führen unter anderem qualitative Interviews mit beteiligten Akteur:innen, um ein tiefgreifendes Verständnis der Gegebenheiten und Herausforderung zu erhalten. „Wir arbeiten hier eng mit den Menschen zusammen und sind auch während des Projekts laufend in Kontakt mit den Stakeholdern“, berichtet Weicht.
In Österreich wurden übrigens zwei innovative Ansätze in der Pflege untersucht. Eine der von Weicht und seinen Kolleg:innen untersuchten Praktiken wird in Vorarlberg umgesetzt. Hier wird Pflege auch als öffentliche Aufgabe definiert, und der Gemeindeverband vermittelt als Träger eines gemeinnützigen Unternehmens Betreuungs- und Pflegemöglichkeiten. Außerdem wurde der Pilotversuch „Community Nursing“ unter anderem in der Steiermark evaluiert: Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger:innen ergänzen darin als zusätzliche Ansprechpersonen bestehende Gesundheits- und Sozialdienste in den Projektgemeinden – mit dem Ziel, dass Menschen möglichst lange selbstbestimmt und in guter Gesundheit in ihrem Zuhause leben können.
Ein interessantes Beispiel für innovative Praktiken – erzählt der Wissenschaftler – haben die Kolleg:innen aus Portugal zu berichten. Dort intensiviert man derzeit den Einsatz von Technologie in der Pflege. So erhalten zum Beispiel Pflegende und deren Angehörige mithilfe von Telecare Unterstützung. Auch hier sollen wieder möglichst niederschwellig Selbständigkeit, Zugang zu Informationen und Hilfe und soziale Kontakte gefördert werden.
„Manchmal funktionieren bestimmte Praktiken sogar nur sehr regional und lassen sich nicht einmal innerhalb eines Landes übertragen.“ Als föderalistischer Staat ist Österreich ein Parade-Beispiel dafür: Abgesehen vom bundesweiten Pflegegeld variieren Angebot und Abwicklung von Pflege sehr stark. „Deshalb ist es auch so eine schwierige Herausforderung, das System grundlegend zu verändern, und es wird meist nur in Form von Paketen teilweise verbessert“, sagt Bernhard Weicht, der dies durchaus kritisch sieht.

Zur Person: Assoz.-Prof. Bernhard Weicht, geboren 1981, studierte Volkswirtschaft in Wien sowie Sozialpolitik an der University of Nottingham, wo er 2010 promovierte. Er forschte u.a. an der Universität Utrecht und am Leiden University College. Seit 2015 lehrt und forscht er am Institut für Soziologie, wo er sich 2018 habilitierte. Er ist Leiter des Instituts für Soziologie.

Am Institut für Soziologie untersucht ein neuer Forschungsbereich mit dem Titel Dynamics of Work, Care and Gender, wie Erwerbsarbeit, Fürsorgearbeit (z. B. in Familien, Pflege, Betreuung) und Geschlechterrollen miteinander verwoben sind – und wie sie sich vor dem Hintergrund großer gesellschaftlicher Wandlungstendenzen verändern. Ziel ist es, zu verstehen, wie Arbeit und Care gemeinsam Gesellschaft prägen – und wie gerechtere Bedingungen gestaltet werden könnten. Am 24. Oktober startet der Schwerpunkt mit einer offiziellen Kick-off-Veranstaltung.

Dieser Beitrag ist in der Oktober-Ausgabe von wissenswert erschienen. Die gesamte Beilage zur Tiroler Tageszeitung finden Sie hier (PDF)!

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