Manuskriptseite aus der Diözesanbibliothek/Domstiftsbibliothek St. Petri, Bautzen mit Anmerkungen von Bernard Bolzano.
Seite 32r des Manuskripts. Die Bleistiftanmerkungen, am Rand gut sichtbar, stammen von Bolzano.

Natür­lich, eine alte Hand­schrift …

Kaum ein Theologe und Religions­philosoph hat jemals so viel Staub aufgewirbelt wie der Links­hegelianer David Friedrich Strauß (1808-1874) mit seinen radikalen Entmytholo­gisierungs­thesen. Dass es auch einen vergessenen alt­österrei­chischen Ast der Strauß-Rezeption gab, enthüllt ein FWF-Editions­projekt von Winfried Löffler und Peter M. Schenkel vom Institut für Christliche Philosophie.

Manchmal beginnen Forschungsprojekte wie ein Roman von Umberto Eco: Seit Jahrzehnten lagert in der Domstiftsbibliothek zu Bautzen (Deutschland) ein 770-seitiges Manuskript mit dem rätselhaften Titel „D. D. F. Strauß in seiner christlichen Glaubenslehre widerlegt, ehe er geboren ward durch die Ansichten des D. Bernard Bolzano”. Bernard Bolzano (1781-1848) ist zwar Mathematikern als Schöpfer des Satzes von Bolzano und Weierstraß in der Analysis ein Begriff und auch seine überragenden Leistungen in der Logik, Wissenschaftstheorie und allgemeinen Philosophie sind allgemein anerkannt: Kürzlich erschien etwa seine „Wissenschaftslehre“ von 1837 – das erste moderne Lehrbuch der Logik und Wissenschaftstheorie – in vollständiger englischer Übersetzung bei Oxford University Press. „Dass Bolzano neben seinen Leistungen in Mathematik und Philosophie aber auch ein bedeutsamer Religionsphilosoph und Theologe seiner Zeit war, ist wenigen bewusst. Seine frühe Enthebung von seinem Prager Lehrstuhl für Religionslehre 1820 und die Tatsache, dass zwei seiner Werke auf dem römischen Index der verbotenen Bücher landeten, mögen dazu beigetragen haben“, erklärt Prof. Winfried Löffler vom Institut für Christliche Philosophie. Er leitet nun ein vom Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) finanziertes Projekt, das in drei Jahren dazu beitragen möchte, auch diese Seite Bolzanos deutlicher ins Licht zu rücken.

His master’s voice

Das Manuskript aus dem Domarchiv stammt von František Příhonský (1788-1859), dem begabtesten Schüler Bolzanos. In den Jahren 1841 bis 1846 verfasste Příhonský diese eingehende kritische Auseinandersetzung mit David Friedrich Strauß’ zweitem großen Werk, der „Christlichen Glaubenslehre“, die bis heute im Schatten seines ungleich berühmteren Buchs „Das Leben Jesu“ steht. Příhonský schreibt hier aber als „his master’s voice“: Sein Lehrer Bolzano steht nicht nur im Hintergrund, er hat auch zahllose Korrekturvorschläge eigenhändig an den Rand und zwischen die Zeilen geschrieben, denn – das zeigen einige Briefe – eine Publikation des Texts stand kurz bevor.

„Geplant ist die Edition eines flüssig lesbaren Texts, der aber alle Manuskripteigenheiten und nötigen editorischen Eingriffe in einem kritischen Fußnotenapparat ausweist, sowie natürlich die fortlaufenden Querbezüge zu Strauß’ ‚Glaubenslehre’“, sagt Winfried Löffler. Ein begleitender inhaltlicher Kommentar wird in einen eigenen Band der Reihe Beiträge zur Bolzano-Forschung verlegt, den Interessierte bequem parallel zum Textband benützen können. Eine große Herausforderung stellt Bolzanos eigenwillige Kurzschrift dar, die nur extrem wenige Experten entziffern können. Peter M. Schenkel, der als Projektmitarbeiter gewonnen werden konnte, bringt jedoch bereits große Erfahrung aus der Bearbeitung mehrerer Bände der Bernard-Bolzano-Gesamtausgabe mit nach Innsbruck; außerdem verfügt er als langjähriger Mitarbeiter der Werkausgabe von Johannes Kepler (Bayerische Akademie der Wissenschaften) über breite Kenntnisse der Wissenschaftsgeschichte.

Vernunftanspruch der Religion

Welche Relevanz für heute könnte die Auseinandersetzung um Strauß, einen Linkshegelianer und Theologiekritiker des frühen 19. Jahrhunderts, heute noch haben? Und was interessiert einen analytischen Philosophen wie Winfried Löffler daran? „Das Projekt verspricht Einsichten in eine turbulente Epoche der Theologie und Religionsphilosophie, und in eine bislang kaum bekannte Rezeptionslinie ins alte Österreich. Die verbreitete These, dass Kant und Hegel dort, wegen der habsburgischen Gegenreformation und des längeren Nachwirkens der Scholastik, kaum rezipiert wurden, wird man wohl wieder ein Stück relativieren müssen“, vermutet Löffler. Und mit Bernard Bolzano sei einer der Kontrahenten immerhin der „Urgoßvater der analytischen Philosophie“, wie ihn der große Oxforder Philosoph Michael Dummett einmal genannt hat. „Auch im religionsphilosophischen Bereich ist Bolzano seiner Zeit weit voraus, man denke etwa an seine Modellierung von Religionen als Satzmengen, seine Überlegungen zur Deutung von Wundern als extrem unwahrscheinliche Ereignisse ohne die Verletzung von Naturgesetzen oder seine probabilistische Theorie der Zeugenglaubwürdigkeit. Letztlich geht es beiden, Bolzano und Strauß, um den grundsätzlichen Vernunftanspruch der Religion – wenngleich sie ihn völlig unterschiedlich deuten und verteidigen. Jeder war ja auf seine eigene, markante Art ein Rationalist. Das macht das Projekt auch für uns heute überaus spannend.“

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