Uni Innsbruck
Anlässlich des 100. Todestages von Straf- und Völkerrechtswissenschaftler Heinrich Lammasch wurde sein Werk in einer Tagung gewürdigt.

Der Grenz­gänger. Heinrich Lam­masch zum 100. Todes­tag

Anlässlich des 100. Todestages von Heinrich Lammasch veranstaltete das Institut für Europa- und Völkerrecht gemeinsam mit dem Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte ein Symposium in Hybridform.

Im Januar 1920 verstarb der 1853 in Seitenstetten in Niederösterreich geborene Straf- und Völkerrechtswissenschaftler Heinrich Lammasch, der vornehmlich als dezidierter Verfechter eines Verständigungsfriedens während des Ersten Weltkrieges, als letzter Ministerpräsident der österreichischen Monarchie und als Vordenker von völkerrechtlichen Instrumenten zur dauerhaften Bewahrung des Friedens (Stichwort „Bund der Neutralen“) im Gedächtnis geblieben ist. 1885 hatte der sechs Jahre zuvor habilitierte Lammasch einen Ruf an die Universität Innsbruck auf die Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Völkerrecht angenommen. Allerdings blieb Lammasch nur wenige Jahre in Innsbruck, kehrte er doch 1889 auf einen einschlägigen Lehrstuhl an die Universität Wien zurück. Trotz dieses vergleichsweise nur kurzen Wirkens an der Alma Mater Oenipontana nahmen das Institut für Europa- und Völkerrecht (Univ.-Prof. Dr. Andreas Müller, LL.M.) und das Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte (Univ.-Prof. DDr. Martin P. Schennach, MAS) auf Anregung der Vizerektorin für Forschung, Frau Univ.-Prof. Dr. Ulrike Tanzer, den 100. Todestag zum Anlass, um am Nachmittag des 16. Oktober ein in Hybridform (teils in Präsenz, teils online) durchgeführtes Symposion zu organisieren.

Die Veranstaltung wandte sich v. a. der Bedeutung Lammaschs für die Wissenschaftsgeschichte des Straf- und Völkerrechts zu und versuchte, zu einer Kontextualisierung und Würdigung seines jeweiligen Werkes zu kommen, wobei sich zwei Referate dem strafrechtswissenschaftlichen Opus und drei Vorträge dem völkerrechtlichen Wirken Lammaschs zuwandten. Nach einer Begrüßung der Tagungsteilnehmer*innen durch die Vizerektorin für Forschung, Frau Prof. Tanzer, widmete sich der erste Referent Martin P. Schennach der Stellung Lammaschs als Strafrechtswissenschaftler im sogenannten „Schulenstreit“, der in den Jahrzehnten um 1900 nicht nur die deutschsprachige, sondern die europäische strafrechtswissenschaftliche scientific community beschäftigte. Dabei standen sich die „klassische“ Schule um Karl Binding und die unter anderem von Franz von Liszt geprägte „soziologische“ oder „positivistische“ Schule gegenüber. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Diskussion über den Strafzweck, die mit der Dichotomie „Vergeltungsstrafe“ (klassische Schule) versus „Zweckstrafe“ (soziologische Schule) nur sehr plakativ beschrieben werden kann. Aus der divergierenden Sicht auf den Strafzweck folgten dabei eine ganze Reihe weiterer Unterschiede, z. B. die Strafmittel (unbestimmte Strafen, Bewährungsstrafen, kurze Freiheitsstrafen) betreffend. Insgesamt erwies sich Lammasch dabei gegenüber den Konzepten der Reformbewegung als sehr aufgeschlossen und anerkannte ihre Verdienste um die Fortentwicklung der Strafrechtspflege und um die Überwindung einer rechtsdogmatischen Verengung. Freilich entfremdete er sich aufgrund seines religiös geprägten Weltbildes allmählich den Positionen der Liszt-Schule und lieferte sich 1897 eine publizistische Auseinandersetzung mit Franz von Liszt. Insbesondere wehrte er sich gegen eine deterministische Sicht auf Verbrechen, wonach Devianz durch soziale Umstände und Vererbung vorgegeben sei. Trotz seiner Differenzen mit Liszt blieb Lammasch ein Vertreter des Mittelweges zwischen beiden Schulen. Von Liszt übernahm er namentlich das Konzept der „sozialen Verteidigung“, wonach die Gesellschaft vor vermeintlichen „Gewohnheitsverbrechern“ durch die „Unschädlichmachung“ derselben mittels dauerhafter Einsperrung zu schützen sei.

Lukas Staffler wandte sich in seinem Vortrag („Lammaschs Werk zum Auslieferungsrecht und seine Nachwirkungen in der Gegenwart“) einem Themenkomplex zu, der Lammasch in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts beschäftigte und eine allmähliche Schwerpunktverlagerung seines wissenschaftlichen Schaffens in völkerrechtsaffine Fragestellungen markiert. Ihren Ausgang nahm die Beschäftigung mit dem Auslieferungsrecht in der Auseinandersetzung mit politischen Verbrechen gegen fremde Staaten und den damit zusammenhängenden Fragen zu Asylrecht bzw. Auslieferungspflicht. Im Rahmen seiner Ausführungen spannte der Referent den Bogen bis in die Gegenwart und zeigte auf, dass der von Lammasch vertretenen Ansicht – wonach Rechtshilfe in Auslieferungssachen einen Bestandteil der Strafrechtspflege darstelle – keine Nachwirkung beschieden war.

Die folgenden beiden Beiträge von Bruno Simma („Heinrich Lammasch – ein Völkerrechtler in der Politik) und Miloš Vec („Heinrich Lammasch. Österreichischer Völkerrechtspazifist und katholischer Internationalist des Fin de Siècle“) widmeten sich dem völkerrechtlichen Wirken Lammaschs, wenngleich teilweise aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Bruno Simma widmete sich besonders der Verflechtung des Völkerrechtlers Lammaschs mit der Politik, Miloš Vec hingegen seinem völkerrechtswissenschaftlichen Schaffen. Dabei zeigt der Völkerrechtswissenschaftler Lammasch Gemeinsamkeiten mit dem Strafrechtswissenschaftler Lammasch. Hier wie dort erweist er sich als eher theorienarm, geprägt von einem gewissen Eklektizismus und von einer Herangehensweise als „Amateur-Soziologe“. Hier wie dort erscheint Lammasch zudem als Kind seiner Zeit, im Bereich des Völkerrechtes beispielsweise aufgrund seiner eurozentristischen Sichtweise, im Bereich des Strafrechtes unter anderem durch seine Internalisierung des zeitgenössisch sehr verbreiteten, diskursiven Konstruktes des zu disziplinierenden „arbeitsscheuen Müßiggängers“.

Im abschließenden Beitrag von Ursula Kriebaum („Das Vermächtnis der North Atlantic Fisheries Arbitration und des Orinoco Steamship Company Cases in der modernen Schiedsgerichtsbarkeit“) stand wiederum der Brückenschlag von Lammaschs Werk zur Gegenwart im Mittelpunkt. Die Referentin spürte der Frage nach, inwiefern ausgewählte, vom Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag entschiedene Fälle, bei denen Lammasch mitgewirkt hatte, in den folgenden Jahrzehnten rezipiert wurden.

In der Rückschau ist es der Tagung wohl gelungen, substantiell neue Erkenntnisse zur wissenschaftshistorischen Bedeutung Lammaschs zu gewinnen. In der strafrechtswissenschaftlichen scientific community der österreichischen Monarchie um 1900 war Lammasch sicherlich einer der zentralen Akteure. Und auch wenn dem völkerrechtswissenschaftlichen Werk, wie Miloš Vec herausgearbeitet hat, in den folgenden Jahrzehnten keine breite Rezeption beschieden war, erscheinen sein Wirken als „Konferenzjurist“ bei den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 und seine Tätigkeit im Rahmen der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Vergleich zu seinen österreichischen Zeitgenossen durchaus bemerkenswert. Es bleibt zu hoffen, dass die Innsbrucker Veranstaltung auch der künftigen Lammasch-Forschung Impulse geben wird.

(Martin P. Schennach)

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