Europäische Ethnologie

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Profil

Das Fach Europäische Ethnologie steht in der Tradition der Volkskunde und wird an den Universitäten im deutschsprachigen Raum auch unter den Namen Kulturanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft geführt. 

Europäische Ethnologie versteht sich als empirische Kulturwissenschaft. Sie dokumentiert und analysiert alltägliche Lebensformen und Kulturäußerungen breiter Bevölkerungsschichten in Europa. Indem „Kultur“ als geschichtlich geprägt und sozial bedingt aufgefasst wird, arbeitet das Fach sowohl historisch als auch gegenwartsbezogen. „Europa“ wird dabei nicht als geographische oder politisch abgegrenzte Einheit verstanden, sondern als Horizont unseres Denkens, der durch die europäische Moderne und im Prozess der Modernisierung entstanden ist.


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Untersuchungsgegenstände

Der Arbeitsbereich der Europäischen Ethnologie umfasst sämtliche Bereiche der Alltagskultur. Dazu zählen materielle Kultur (z.B. Geräte und Alltagsdinge, Bauten, Denkmäler, Wohnungen, Kleidung u.a.m.), Handlungsmuster (z.B. Ess- und Trinkgewohnheiten, handwerkliche Fertigkeiten, Arbeitsweisen und Freizeitverhalten, Bräuche u.a.m.), Dokumente der mündlichen und schriftlichen Überlieferung (z.B. lebensgeschichtliche Erinnerungen, Sagen, Gerüchte, Redensarten, Tagebücher u.a.m.); Bilder und Zeichen (z.B. populäre Druckgrafiken, Karikaturen u.a.m.); sowie soziale Institutionen, Normen und Lebensformen (z.B. Familie, Vereine, Freundschaften u.a.m.).


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Erkenntnisinteressen

Diese Aufzählung reicht aber nicht aus, um die Spezifik volkskundlichen Arbeitens zu bestimmten. Wesentlich dafür sind besondere Probleme, mit denen sich das Fach aus einer eigenen Perspektive befasst. Zu nennen sind u.a. das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft; Probleme der Enkulturation und Akkulturation; Fragen von Kulturkontakt und Kulturkonflikt; das Verhältnis von herrschender Kultur und kultureller Widerständigkeit; das Spannungsfeld von kulturellem Wandel und tradierten Orientierungsmustern; Fragen der Kommunikation und Diffusion von Kultur; Kultur als der menschliche Stoffwechsel mit der Natur und seine unbewusste Basis; symbolische Ortsbezogenheit („Heimat“) und regionale Identität im Prozess der Europäisierung und Globalisierung; Körper, Geschlecht und Sexualität; Mentalität, Habitus und Ritualität; Migration und Mobilität, Konsum und Arbeit.


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Methodische Zugänge

Den Erkenntnisinteressen der Europäischen Ethnologie ist eine Vielfalt von Methoden untergeordnet. So vermittelt der Innsbrucker Studiengang u.a. Grundfähigkeiten in der archivalischen Quellenforschung, der Feldforschung und teilnehmenden Beobachtung, der Durchführung qualitativer Interviews, der Kulturanalyse von Museums- und Alltagsdingen, der Bildforschung, der Interpretation von Medientexten und der Erzählforschung. Es geht also um das volkskundliche Arbeiten „vor Ort“ und „am Objekt“ und um seine besonderen Kennzeichen: die Aufmerksamkeit für die scheinbaren Selbstverständlichkeiten des Alltags und die Frage nach ihrem „Sitz im Leben“; das Bemühen um eine Ethnographie „kleiner“, oft marginalisierter Fallbeispiele im lokalen Raum; den Versuch einer einlässlichen Analyse kultureller Objektivationen, die mit Rücksicht auf ihr Eigenleben betrachtet werden; und das Bestreben, tiefenhermeneutische Zugänge in die Deutung kultureller Produkte und Prozesse mit einzubeziehen.


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Europäische Ethnologie in Innsbruck in Lehre und Forschung

Die Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck legt einen Schwerpunkt auf Untersuchungen im heutigen Westösterreich und in Südtirol, wobei kulturelle Phänomene von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart thematisiert werden. Dabei stellt der überregionale und epochenübergreifende Vergleich ein wichtiges methodisches Prinzip dar.

Gegenwärtige Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Fachgeschichte, Theorie und Methodologie der Europäischen Ethnologie; regionale Kulturanalyse; Kulturanalyse des „kulturellen Erbes“ („Cultural Heritage“) und von Musealisierungsphänomenen; Tourismus- und Migrationsforschung; Nahrungsethnologie; Brauch- und Eventforschung; Erzählforschung als Mentalitäten- und Bewusstseinsforschung; kulturwissenschaftliche Bergbauforschung, Familienforschung, Game Studies, Religionsforschung, ökonomische Anthropologie mit dem Schwerpunkt der kulturwissenschaftlichen Schuldenforschung.

Jenseits der individuellen, thematisch sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der einzelnen in Innsbruck tätigen WissenschaftlerInnen lassen sich doch einige konzeptionelle Grundüberlegungen formulieren, die für den Denk- und Arbeitsstil der Innsbrucker Europäischen Ethnologie charakteristisch sind und so etwas wie eine gemeinsame Basis der wissenschaftlichen und forschungspraktischen Verständigung darstellen. Zwar sind diese hier in vier Punkten formulierten Grundüberlegungen nicht in jedem Themenfeld gleich relevant oder gleich stark ausgeprägt, doch umreißen sie insgesamt die Zielrichtung und grundsätzliche Anlage unserer Arbeit, sie stellen Konsenslinien dar, auf denen unsere Aktivitäten konvergieren: Ethnografie, Praxeologie, Historizität der Gegenwart und Transfer- und Anwendungsbezug.

Ethnografie

Das ethnografische Sich-Einlassen der ForscherIn auf konkrete Situationen und Gruppen ermöglicht eine weitreichende Annäherung an das emische Wirklichkeitserleben Anderer, die auf unserem empathischen Verständnis als FeldforscherInnen sowie auf dem Irritiert-Werden unserer Wahrnehmungsgewohnheiten beruht. Wesentlich ist hierbei ein Verständnis von der Forschung als einem Prozess, der sich von der Konzipierung des Forschungsvorhabens und erste Kontaktaufnahmen, die Phase der teilnehmenden Beobachtung, über die hermeneutische Auswertung des Feldforschungsmaterials bis hin zur Texterstellung zieht.

Praxeologie

Dem praxeologischen Ansatz liegt ein weiter ethnologischer Kulturbegriff zugrunde, der das gesamte Handeln und Deuten der Menschen systematisch umfasst. Neben semiotischen Aspekten schließt die Praxeologie auch materielle, sensuelle und handlungsbezogene Aspekte in die Forschung mit ein. Ästhetische Kriterien sowie Bemühungen um Kanonisierungen von Kultur weist sie dagegen zurück.

Historizität der Gegenwart

Wir begreifen Gegenwartsphänomene als historisch bedingt – nicht nur in einem grundsätzlichen, sondern auch in einem empirisch greifbaren Sinn. Aus diesem Grund sind wir bestrebt, die Gegenwart stets in ihrer Historizität zu denken und zu erforschen und dies auch in der Anlage unserer Arbeiten methodisch, konzeptionell und argumentativ zu berücksichtigen. Die konsequente Verbindung von historischen mit gegenwartsbezogen-empirischen Ansätzen ist für uns nicht nur in Lehre und Forschung konstitutiv, sondern stellt auch ein Spezifikum der Europäischen Ethnologie im Kontext anderer kulturwissenschaftlich orientierter Disziplinen dar.  

Transfer- und Anwendungsbezug

In Zeiten zunehmender kultureller Diversifizierung und gegenüber den drängenden –und teils neuen – Fragen der Gegenwart wird ethnologische Expertise von der Öffentlichkeit, Medien und Politik immer stärker nachgefragt. Ein enger, dialogischer Bezug zwischen Wissenschaft und gesellschaftlich-politischer Praxis ist uns ein kontinuierliches Anliegen. Als WissenschafterInnen vermitteln wir dabei nicht nur „top-down“ Forschungserkenntnisse oder bedienen kurzfristige Anfragen. Vielmehr begeben wir uns bereits im Prozess der Datenerhebung in einen dialogischen Prozess mit gesellschaftlichen AkteurInnen, im Zuge dessen unterschiedliche Wissens- und Erfahrungsformen gekreuzt werden und neues Wissen entsteht, das auch auf den Forschungsprozess zurückwirkt. In diesem Verständnis ist Forschung ein genuin in Richtung Gesellschaft geöffneter Prozess.

Literaturauswahl

Die folgende Literaturliste bietet eine kleine Auswahl von einführender Literatur zum Studium der Europäischen Ethnologie:

  • Bausinger, Hermann: Volkskunde: Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. (erw. Auflage). Tübingen 1999.
  • Bendix, Regina F.; Hasan-Rokem, Galit (Hg.): A Companion to Folklore, Chicester 2012.
  • Bischoff, Christine; Oehme-Jüngling, Karoline; Leimgruber, Walter (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie, Stuttgart und Bern 2014.
  • Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde: Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. (3. Auflage). Berlin 2001.
  • Ehn, Billy; Löfgren, Orvar; Wilk, Richard R.: Exploring everyday life: Strategies for ethnography and cultural analysis. Lanham 2016.  
  • Eggmann, Sabine; Johler, Birgit; Kuhn, Konrad J.; Puchberger, Magdalena (Hg.): Orientieren & Positionieren, Anknüpfen & Weitermachen. Wissensgeschichte der Volkskunde /Kulturwissenschaft nach 1945, Münster/Basel 2019.
  • Göttsch, Silke; Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. (2. überarb. Auflage). Berlin 2007.
  • Heimerdinger, Timo; Tauschek, Markus (Hg.): Kulturtheoretisch argumentieren, Stuttgart und Münster 2020.
  • Hess, Sabine; Moser, Johannes; Schwertl, Maria (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte, Berlin 2013.
  • Jeggle, Utz (Hg.): Feldforschung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse. (2. Auflage). Tübingen 1988.
  • Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie. (4. Auflage). München 2012.
  • Lindner, Rolf: Vom Wesen der Kulturanalyse, in: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), S. 177-188.
  • Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2012. 
  • Scharfe, Martin: Menschenwerk. Erkundungen über Kultur, Köln u. a. 2002.
  • Warneken, Bernd Jürgen: Die Ethnografie popularer Kulturen. Eine Einführung, Wien 2006.

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Geschichte der Europäischen Ethnologie in Innsbruck

Anfänge im 19. Jahrhundert

Erste Ansätze zu einer Institutionalisierung der Volkskunde an der Universität Innsbruck gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. 1859 wurde Ignaz Vinzenz Zingerle (Edler von Summersberg) (1825–1892) zum ordentlichen Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Philosophischen Fakultät berufen. Er setzte sich in Forschung und Lehre mit Sagen und Folklore auseinander. Mit seinem Bruder Josef (1831–1891) eiferte er dem Vorbild Jakob und Wilhelm Grimms nach und engagierte sich für eine wissenschaftlich begründete „Volkstums“-Politik im italienischen Landesteil Tirols.

Zu Zingerles Schülern und Freunden zählte Ludwig von Hörmann (zu Hörbach) (1837–1924), dessen Schilderungen des „Tiroler Volkslebens“ von Wilhelm Mannhardt und Wilhelm Heinrich Riehl beeinflusst sind. Da Hörmanns Habilitation abgelehnt wurde, war er im Bibliotheksdienst tätig. Nach Zingerles Tod setzten Joseph Eduard Wackernell (1850–1920) und Anton Dörrer (1866–1968) die philologisch-folkloristische Tradition fort.

Um die Jahrhundertwende war die Volkskunde an der Universität und in ihrem Umfeld mehrfach etabliert, so auch im Rahmen des 1888 errichteten „Tiroler Gewerbemuseums“. 1903 wurde dieses als „Tirolisches Museum für Volkskunst und Gewerbe“ und 1929 als „Tiroler Volkskunstmuseum“ fortgeführt.

 "Geschichtliche Siedelungs- und Heimatkunde der Alpenländer"

Seit Beginn des 20. Jh.s schlug die universitäre Entwicklung des Fachs einen Sonderweg im deutschsprachigen Raum ein. In seinen Forschungen zur bäuerlichen Kultur Tirols wandte sich Hermann Wopfner (1876–1963) verstärkt volkskundlichen Fragestellungen zu. Der gebürtige Innsbrucker habilitierte sich 1904 in Wirtschaftsgeschichte und war seit 1909 Professor für Wirtschaftsgeschichte und Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck. Seit 1921 gab er die Zeitschrift „Tiroler Heimat. Beiträge zu ihrer Kenntnis und Wertung“ (ab 1928 mit dem Untertitel „Zeitschrift für Geschichte und Volkskunde Tirols“) heraus.

Den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und die Besetzung Südtirols und des Trentino durch das Königreich Italien empfand er als politische und persönliche Katastrophe. Als einer der wenigen „Bekenntniskatholiken“ im überwiegend deutschnational gesinnten Lehrkörper der Universität trat er für den Anschluss Tirols und Vorarlbergs zunächst an Süddeutschland und später an Deutschland ein. Daran knüpfte er die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Tirols. Die Universität begriff sich damals als „Grenzlanduniversität“, die die Tiroler Bevölkerung auf einen Anschluss vorbereiten sollte.

Im Kontext dieser Bestrebungen steht auch die von Wopfner angestrengte und 1923 genehmigte Gründung des „Instituts für geschichtliche Siedelungs- [sic] und Heimatkunde der Alpenländer“. Das Institut, zu dessen Vorstand Wopfner 1924 bestellt wurde, sollte besonders der LehrerInnenbildung dienen.

Der „eigentliche intellektuelle Urheber“ des Instituts war nach Reinhard Johler aber Wopfners Mitarbeiter und Kontrahent Adolf Helbok (1883–1968). Mit dem gebürtigen Vorarlberger Helbok teilte Wopfner das kulturpolitische Ziel des Anschlusses. Außerdem verstanden beide die Volkskunde als historische Hilfswissenschaft. Während Wopfner aber ein patriotisch gesinntes, heimatschützerisches Konzept von „Tiroler Heimatkunde“ vertrat, setzte sich Helbok seit Beginn der 1920er-Jahre für eine „völkische“ und „rassische“ „wahrhaft nationale Wissenschaft der Deutschen“ ein.

Auch in methodischer Hinsicht fallen Unterschiede auf. Um „den Bauern der Vergangenheit besser zu verstehen“ unternahm der als „Bauernprofessor“ bekannte Wopfner ausgedehnte Wanderungen im gesamten „Alttiroler“ Raum. Auf ihnen beruht sein 1951, -54 und -60 in drei Lieferungen erschienenes umfangreichstes Werk, das „Bergbauernbuch“. Dagegen legte Helbok Gewicht auf kartographische Methoden. 1929 wurde er zum geschäftsführenden Vorsitzenden des „Atlas der deutschen Volkskunde (ADV) in Österreich“ ernannt. 1932 übernahm er die wissenschaftliche Gesamtleitung des ADV.

"Volkskunde und Volkstumsgeschichte" im Nationalsozialismus

Im Austrofaschismus wurde Helbok 1934 aufgrund nationalsozialistischer Aktivitäten von der Universität Innsbruck beurlaubt und pensioniert. Nach einer kurzen Zeit als Gastdozent in Berlin erhielt er 1935 einen Ruf an die Universität Leipzig, wo er den einstigen Lehrstuhl Karl Lamprechts (umbenannt in „Institut für Deutsche Landes- und Volksgeschichte“) übernahm.

Schon vor seiner Berufung hatte er Grundzüge seines Konzepts einer deutschen „Volksgeschichte“ formuliert: eine Wissenschaftskonzeption, die Volkskunde, Landesgeschichte und Historische Geographie übergreifen sollte. Doch konnte er seine Pläne in Leipzig nur zum Teil umsetzen. Er verstrickte sich in einen Streit um die „wahre“ NS-Volkskunde mit Matthes Ziegler, dem führenden Mitarbeiter im „Amt Rosenberg“ bzw. der SS-„Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.“

1941 kehrte Helbok nach Innsbruck zurück, wo er an der nunmehrigen „Deutschen Alpen-Universität“ die Nachfolge Wopfners auf dem neugeschaffenen „Lehrstuhl für Volkskunde“ (bzw. „Lehrstuhl für Volkskunde und Volkstumsgeschichte“, seit 1939 „Institut für Volkskunde“) antrat. Wopfner, der seit 1938 durch die neuen Machthaber in seiner Lehre eingeschränkt worden war, unterstützte die Rückkehr Helboks. 1941 beantragte er seine eigene „Entpflichtung“ von der Professur und Ruhestandsversetzung. Ob darin ein „Zeichen einer inneren Emigration“ erkannt werden kann, muss nach Wolfgang Meixner und Gerhard Siegl dahingestellt bleiben.

In Innsbruck setzte Helbok seine rassenkundlichen Studien fort und betrieb „biologische Kulturgeschichte“ und „Begabungsforschung“. 1942 stiftete er dem Institut das Österreich, Südtirol und Liechtenstein betreffende Antwortmaterial zum ADV. 1945 wurde er von der provisorischen Tiroler Landesregierung vom Dienst ausgeschieden und ab 1950 in den dauernden Ruhestand versetzt. In der Nachkriegszeit versucht er sich als „aufrechter Österreicher“ zu rehabilitieren und wirkte kurzfristig am „Österreichischen Volkskundeatlas“ (ÖVA) (1959–1979) mit, dessen erster Herausgeber er war. Seine autobiographischen Erinnerungen (1962) zeigen, dass er seine nationalsozialistische Ideologie bis an sein Lebensende nicht aufgab.

"Ungenommene Abschiede" nach 1945

1945/46 wurde der bereits emeritierte Wopfner mit der Supplierung der nach der Absetzung Adolf Helboks vakanten Lehrkanzel betraut. 1949 empfahl Wopfner der Philosophischen Fakultät, die Lehrkanzel mit Karl Ilg (1913–2000) zu besetzen. Der gebürtige Vorarlberger Ilg war seit 1939 als Assistent von Friedrich Metz am „Alemannischen Institut“ in Freiburg im Breisgau tätig gewesen. Wie Helbok war Metz 1934 wegen  NS-Aktivitäten als Professor der Universität Innsbruck entlassen worden.

1945 kehrte Ilg als Assistent Wopfners nach Innsbruck zurück. Er habilitierte sich 1946 in Volkskunde, wurde 1954 zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt und vertrat das Fach 1961–1984 als Ordinarius. 1958 begründete er den Österreichischen Fachverband für Volkskunde mit, dessen langjähriger Vorsitzender er war. Mit seinem Vorgänger als Ordinarius, den er als „Vater Wopfner“ verehrte, verband Ilg ein Interesse für das „Auslandsdeutschtum“ und ein auf Wilhelm Heinrich Riehl gründendes Fachverständnis. „Tradition“ und „Gemeinschaft“ wurden zu Schlüsselbegriffen der sogenannten „Innsbrucker Schule“, wobei Ilg sich häufig auf Richard Weiss berief. Als „Europäischer Ethnologe“ erforschte Ilg Tiroler Kolonisten in Brasilien, Chile und Peru, wo er sich auch kulturpolitisch engagierte. 1976 wurde das Institut in „Institut für Volkskunde (Europäische Ethnologie)“ umbenannt.

Einen „Abschied vom Volksleben“, wie ihn eine junge Generation von FachvertreterInnen 1968 von Tübingen aus forderte, nahm Ilg nicht. In seinem Verhältnis zur Fachgeschichte im Nationalsozialismus kann er als Vertreter einer „Schlussstrich-Mentalität“ bezeichnet werden. Er betrieb eine Rehabilitierung Helboks, dessen Wissenschaftsauffassung er noch 1995 als „eher romantisch veranlangt“ verharmloste.

"Internationale und vergleichende Erzählforschung"

Nach Ilgs Emeritierung wurde der Volkskundler und Literaturwissenschaftler Leander Petzoldt (Jg. 1934) nach Innsbruck berufen. Der gebürtige Rheinländer war 1967–73 Assistent von Lutz Röhrich am Lehrstuhl für Volkskunde der Universität Freiburg im Breisgau gewesen. 1974 hatte er sich an der Universität Gießen habilitiert. Er wirkte von 1985 bis zu seiner Emeritierung 2002 als Ordinarius am Innsbrucker Institut. 1985 wurde das Institut in „Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie“ und 1999 in „Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde“ umbenannt.

Petzoldts Hauptinteresse gilt der internationalen vergleichenden Erzählforschung, besonders der Stoff- und Motivgeschichte sowie der Interdependenz von Literatur und Volkserzählung. Er befasst sich aber auch mit der Geschichte des Bänkelsangs, mit Magie, Volkskunst und Festkultur. In Innsbruck rief er die Publikationsreihe „Beiträge zur Europäischen Ethnologie und Folklore“ und das „Symposions zur Volkserzählung“ an der Brunnenburg (Südtirol) ins Leben. Aktuell arbeitet er an einem Forschungsprojekt zur Dämonologie.

In zwei Bänden edierte Petzoldt 2000 und 2002 Sagen, Märchen und Schwänke, die 1940/41 von Friedrich Wilhelm („Willi“) Mai (1912–1945) in Südtirol gesammelt worden waren. Diese Sammlung entstand im Auftrag der SS-„Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V.“ und im Rahmen der von Wolfram Sievers geleiteten „Kulturkommission Südtirol“. Die „Kulturkommission“ verfolgte das Ziel, kulturelle Überlieferungen der Südtiroler Bevölkerung möglichst umfassend zu dokumentieren, die nach dem Hitler-Mussolini-Abkommen von 1939 zur Option zwischen einer Umsiedlung nach Deutschland oder zum Verbleib in Italien gezwungen waren.

Jüngste Entwicklungen

Nach Petzoldts Emeritierung war die Professur sieben Jahre vakant. Ingo Schneider übernahm die Institutsleitung und Vertretung. Am 1. Januar 2006 erfolgte die Fusionierung mit dem damaligen Institut für Geschichte (zuerst unter der missverständlichen Bezeichnung „Institut für Geschichte und Ethnologie, ab 1. Januar 2009 unter der Bezeichnung „Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie“).  

2009 wurde Timo Heimerdinger auf die vakante Professur berufen und wirkte in Innsbruck bis zu seinem Wechsel an die Universität Freiburg (D) im Herbst 2020. Im März 2011 wurde eine zweite Professur geschafften, auf die Ingo Schneider berufen wurde. Von Oktober 2013 bis September 2018 war eine von der Stiftung Südtiroler Sparkasse finanzierte Stiftungsprofessur für "Interkulturelle Kommunikations- und Risikoforschung" mit Gilles Reckinger besetzt. Seit 2010 wirkt Silke Meyer im Fach Europäische Ethnologie, seit 2017 auf einer neu geschaffenen Universitätsprofessur für Europäische Ethnologie. Seit 2017 ist Konrad J. Kuhn am Institut, seit April 2020 wirkt er als Assistenzprofessor für Europäische Ethnologie. 

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Diese Darstellung ist recherchiert und verfasst von Reinhard Bodner und aktualisiert durch Konrad J. Kuhn.

Literatur

  • Olaf Bockhorn: Neue Sachlichkeit? Volkskunde nach 1945. In: Archäologia Austriaca, 90 (2006), 17-29.
  • Reinhard Bodner: Innrain zweiundfünfzig, elfter Stock. Eine Stoffsammlung zur Volkskunde in Innsbruck. In: Tobias Schweiger u. Jens Wietschorke (Hrsg.): Standortbestimmungen. Beiträge zur Fachdebatte in der Europäischen Ethnologie. Wien 2008 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, 30), S. 52-69.
  • James R. Dow, Olaf Bockhorn: The Study of European Ethnology in Austria. Burlington 2004.
  • Klaus Fehn: Volksgeschichte im Dritten Reich als fächerübergreifende Wissenschaftskonzeption am Beispiel von Adolf Helbok. Ein Beitrag zur interdisziplinären Wissenschaftsgeschichte vor allem der Fächer Volkskunde, Landesgeschichte und Historische Geographie. In: Gunther Hirschfelder, Dorothea Schell u. Adelheid Schrutka-Rechtenstamm (Hrsg.): Kulturen – Sprachen – Übergänge. Festschrift für H.L. Cox zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2000, 567-580.
  • Peter Goller: „…natürlich immer auf wissenschaftlicher Ebene!“ Mystifikationen. Die geisteswissenschaftlichen Fächer an der Universität Innsbruck im Übergang von Nazifaschismus zu demokratischer Republik nach 1945. Dokumentation einer Kontinuität. Innsbruck 1999.
  • Peter Goller, Gerhard Oberkofler: Universität Innsbruck. Entnazifizierung und Rehabilitation von Nazikadern (1945-1950). Innsbruck 2003.
  • Adolf Helbok: Erinnerungen. Ein lebenslanges Ringen um volksnahe Geschichtsforschung. Hrsg. v. Fritz Ranzi. Innsbruck 1962.
  • Timo Heimerdinger, Konrad J. Kuhn: Europäische Ethnologie - Zur Produktivität der offenen Europakonzeption einer akademischen Disziplin, in: A. Brait, S. Ehrenpreis, St. Lange (Hg.), Europakonzeptionen, Innsbruck und Baden-Baden 2020, S. 169-190.
  • Karl Ilg: Die Geschichte der tirolischen Volkskunde von den Anfängen bis 1980. In: Tiroler Heimat, 59 (1995), 177-244.
  • Karl Ilg: Volkskunde an der Universität Innsbruck; ihre Entstehung und unsere Ziele. In: W. Krömer u. O. Menghin (Hrsg.): Die Geisteswissenschaften stellen sich vor. Innsbruck 1983, 135-144 (= Veröffentlichungen der Universität Innsbruck, 137).
  • Reinhard Johler: Innsbruck: Zur Entstehung von Volkskunde an der Sprachgrenze. In: W. Jacobeit, H. Lixfeld u. O. Bockhorn (Hrsg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien u.a. 1994, 407-415.
  • Reinhard Johler: Geschichte und Landeskunde: Innsbruck. Ebd., 449-462.
  • Reinhard Johler: „Tradition und Gemeinschaft“: Der Innsbrucker Weg. Ebd., 589-601.
  • Konrad Köstlin: Volkskunde: Pathologie der Randlage. In: Karl Acham (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 4. Wien 2002, 369-415.
  • Konrad J. Kuhn, Anna Larl: Denkkontinuitäten, Austrifizierung und Modernisierungskritik. Adolf Helbok und die Volkskunde in Österreich nach 1945, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXXIII/122 (2019), Nr. 2, S. 241-273.
  • Wolfgang Meixner: „…eine wahrhaft nationale Wissenschaft der Deutschen …“. Der Historiker und Volkskundler Adolf Helbok (1883-1968). In: Heider, Michael u.a. (Hrsg.): Politisch zuverlässig – rein arisch – deutscher Wissenschaft verpflichtet. Die Geisteswissenschaftliche Fakultät in Innsbruck 1938-1945. Bozen 1990, 126-133 (= Skolast-Sondernummer).
  • Wolfgang Meixner u. Gerhard Siegl: Erwanderte Heimat. Hermann Wopfner und die Tiroler Bergbauern. In: Agargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich (Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raumes, 1 [2004]), S. 228-239.
  • Johannes Moser: Helbok, Adolf (1883–1968). In: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von Martina Schattkowsky. Online unter: http://www.isgv.de/saebi/
  • Herbert Nikitsch: Volkskunde in Österreich nach 1945. In: Petr Lozoviuk u. Johannes Moser (Hrsg.): Probleme und Perspektiven der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Fachgeschichtsschreibung. Dresden (= Bausteine aus dem Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde, 7), 79-101.
  • Martina Pesditschek: Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger"", in: K. Hruza (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900-1945, Wien, Köln und Weimar 2019, S. 185-312.
  • Leander Petzoldt: Volkskunde in der Gegenwart. Überlegungen zu einem Konzept der Ethnologia Europaea im Alpenraum. In: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 21 (1987), Heft 41, 4057-4063. Nachdruck. In: Tiroler Volkskultur, 47. Jg., Nr. 3 (1995), Teil I, 100-102; 47. Jg., Nr. 4 (1995), Teil II, 135-136 und 47. Jg. Nr. 5 (1995), Teil III, 187-188.
  • Leander Petzoldt (Hrsg.): Sagen, Märchen und Schwänke aus Südtirol. Gesammelt von Willi Mai. Hrsg. u. mit Anm. u. Kommentar von L.P. Bd. 1: Wipptal, Pustertal, Gadertal. Innsbruck 2000. Bd. 2: Bozen, Vinschgau und Etschtal. Innsbruck 2002.
  • Ingo Schneider (Hrsg.): Europäische Ethnologie und Folklore im internationalen Kontext. Festschrift f. Leander Petzoldt zum 65. Geburtstag. Frankfurt/Main 1999.
  • Ingo Schneider, Reinhard Bodner: Volkskunde in Innsbruck: ein Fall für die Historiker? In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, LX/109 (2006), H. 3, 175-191.
  • Bernhard Tschofen: Die Entstehung der Alpen. Zur Tektonik des ethnographischen Beitrags. In: Rolf W. Brednich, Annette Schneider und Ute Werner (Hrsg.): Natur Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde Halle 1999. Münster u.a. 2001, 167-176.

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