Die kongenitale stationäre Nachtblindheit, kurz CSNB, ist eine angeborene Erkrankung der Netzhaut, bei der die Sehfähigkeit bei Dämmerung und Dunkelheit stark beeinträchtigt ist. Verantwortlich für CSNB sind Mutationen des Kalziumkanals Cav1.4, die zu Störungen der Signalübertragung in der Netzhaut führen. Bisher gibt es dafür weder Therapie- noch Heilungsmöglichkeiten.
Ein wichtiger Schritt zu einem besseren Verständnis der kongenitalen stationären Nachtblindheit Typ 2 (CSNB2) ist kürzlich einem Forschungsteam rund um Matthias Ganglberger und Alexandra Koschak vom Arbeitsbereich Pharmakologie und Toxikologie am Institut für Pharmazie der Universität Innsbruck gelungen. Gemeinsam mit Kolleg:innen vom Institut für Biochemie führten sie eine umfassende Proteom-Studie mit drei verschiedenen Mäusestämmen durch. Die Ergebnisse liefern erstmals ein detailliertes Bild der pathophysiologischen Veränderungen auf molekularer Ebene, die durch Mutationen im Kalziumkanal Cav1.4 ausgelöst werden. Mit der Studie wurde Grundstein für mögliche Therapie-Ansätze gelegt. „Die Proteom-Analysen zeigen, dass verschiedene Mutationen – in unserer Studie RX und IT – unterschiedliche molekulare Effekte haben. Dies ist wichtig für die Entwicklung von personalisierten Therapien, die auf die spezifische Mutation des Patienten zugeschnitten sind“, erklärt Matthias Ganglberger.

Die grafische Zusammenfassung illustriert die wichtigsten Ergebnisse der Publikation zusammen.
Zu sehen ist eine einfache Illustration, die die beschriebenen Ergebnisse, insbesondere die Auswirkungen unterschiedlicher Mutationen zusammenfasst.
Cav1.4 Kanäle spielen in sogenannten Bandsynapsen eine Schlüsselrolle. Diese spezialisierten chemischen Synapsen übertragen ein breites Spektrum an Lichtsignalen von den Stäbchen und Zapfen – den Lichtsinneszellen der Netzhaut –an die nachgeschalteten Bipolarzellen und stehen im Fokus der Studie. Funktionsstörungen des Cav1.4 Kanals, wie sie bei CSNB2 vorkommen, führen daher zu charakteristischen Sehstörungen.
„Interessanterweise zeigen beide Varianten teilweise entgegengesetzte biophysikalische Eigenschaften."
Die Forscher:innen verglichen für die Studie drei verschiedene Mäusestämme: einen Wildtyp mit normalem Cav1.4-Kanal, sowie zwei klinisch relevante Varianten – die RX-Variante und die IT-Variante. Beide Varianten wurden in Patient:innen beschrieben und mit CSNB2 assoziiert. „Interessanterweise zeigen beide Varianten teilweise entgegengesetzte biophysikalische Eigenschaften“, erklärt Alexandra Koschak, „das bedeutet, dass sich die Öffungs- und Schließeigenschaften, das so genannte Gating, bei den beiden Varianten unterscheiden und damit auch die Kalziumströme verändert sind.“ Mit Hilfe moderner Proteomanalytik konnte das Forschungsteam in Proben, in denen Synapsen angereichert sind, über 4.000 Proteine in identifizieren und konnte ein sehr vollständiges Bild der molekularen Veränderungen zeichnen.
Unterschiedliche Mutationen – unterschiedliche Effekte – eine Erkrankung
Die Signalweg-Analyse zeigte interessante Muster: Bei der RX-Variante fand das Team eine deutliche Dysregulation von Proteinen, die mit synaptischen Prozessen assoziiert sind. Besonders auffällig war die Veränderung von Proteinen der Kalzium-Signalwege und des vesikulären Transports. Proteine, die direkt an der Lichtsignalverarbeitung beteiligt sind, waren – wie erwartet – stark herunterreguliert, was die funktionellen Defizite dieser Variante widerspiegelt. Die detaillierte Analyse der Bandsynapse verdeutlichte, wie sich die Dysregulation des Cav1.4-Kanals auf das gesamte präsynaptische Proteinnetzwerk auswirkt. Insbesondere Proteine, die an vesikulären Transport und an der exozytotischen Freisetzung beteiligt sind, zeigten deutliche Veränderungen.
Hinweise auf Degenerationsprozesse
Die Studie lieferte auch Hinweise auf Degenerationsprozesse. In beiden Varianten fanden sich Anzeichen für Apoptose, also den physiologischen Zelltod, und retinalen Stress, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Bestimmte Stress-assoziierte Proteine waren stark hochreguliert. Immunhistochemische Analysen unterstützten diese Befunde – die RX-Variante führte zu einer veränderten Morphologie der Mikrogliazellen, den Immunszellen der Netzhaut, was auf neuroinflammatorische Prozesse hindeutet.
CSNB2 kann heute über Genotypisierung und elektrographische Methoden diagnostiziert werden, diese Verfahren haben jedoch Limitationen. Die Genotypisierung identifiziert zwar die zugrunde liegende Mutation im CACNA1F-Gen, kann aber nicht vorhersagen, welche spezifischen Protein-Veränderungen auf Kanalebene entstehen. Die RX- und IT-Varianten beispielsweise sind beide Mutationen im selben Gen, doch auf Proteinebene zeigen sich völlig unterschiedliche Kanal-Dysfunktionen und nachgeschaltete molekulare Effekte. Die RX-Variante führt zu massiven Veränderungen in synaptischen Proteinen, während die IT-Variante primär Stoffwechselwege beeinflusst.
Auch gegenüber der etablierten ERG-Diagnostik (Elektroretinogramm) bietet die molekulare Charakterisierung entscheidende Vorteile. Während das ERG nur das charakteristische "negative ERG"-Muster zeigt, können molekulare Signaturen die spezifischen Kanal-Mutationen und deren funktionelle Konsequenzen klar differenzieren. Dies legt nahe, dass die Diagnose über die reine Gen-Mutation hinausgehen muss: Es reicht nicht zu wissen, dass CACNA1F mutiert ist – entscheidend ist, welche konkrete Kanal-Mutation vorliegt und wie sich diese auf Proteinebene auswirkt. Molekulare Signaturen ermöglichen diese präzisere Differenzierung und sind damit ein entscheidender Aspekt für die zukünftige Therapieplanung. „Die Arbeit liefert erstmals eine umfassende molekulare Landkarte der pathophysiologischen Veränderungen bei CSNB2 – ein entscheidender Schritt für die Entwicklung gezielter Therapien. Besonders wichtig ist, dass verschiedene Mutationen zu unterschiedlichen molekularen Profilen führen. Das bedeutet, dass in Zukunft personalisierte Therapieansätze entwickelt werden könnten, die auf die spezifische Mutation des Patienten zugeschnitten sind.“ Das Team arbeitet bereits an funktionellen Studien zur Validierung dieser Erkentnisse und plant, in Zukunft auch zu untersuchen, ob sich diese Proteinveränderungen in humanen Patientenproben nachweisen lassen.
Publikation: Ganglberger M, Zanetti L, Egger AS, Günter A, Wagner B, Belhadj S, Mühlfriedel R, Knoflach D, Casanova E, Rülicke T, Seeliger MW, Kwiatkowski M, Seitter H, Koschak A. Quantitative Proteomics Identifies Potential Molecular Adaptations in Mouse Models of Congenital Stationary Night Blindness Type 2. Mol Cell Proteomics. 2025 Nov 10;24(12):101462. DOI: 10.1016/j.mcpro.2025.101462.
