"Kulturen sind keine in sich geschlossene nationale Einheiten, sondern leben seit jeher von grenzüberschreitendem Austausch, gegenseitiger Rezeption und Durchdringungsprozessen“, erklärt Maria Piok, Leiterin des Literaturhauses am Inn und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Gemeinsam mit Marc Lacheny von der Université de Lorraine und Kolleg:innen reichte sie das Projekt DECAF – kurz für Dictionnaire des Échanges Culturels Autriche-France – als Lead Agency Projekt, bei dem der französische Fördergeber L‘Agence nationale de la recherche (ANR) als Partner fungiert, beim Wissenschaftsfonds FWF ein.
Kulturen sind keine in sich geschlossene nationale Einheiten, sondern leben seit jeher von grenzüberschreitendem Austausch, gegenseitiger Rezeption und Durchdringungsprozessen.
- Maria Piok
Im Mittelpunkt des biografischen und prosopografischen Online-Lexikons stehen Persönlichkeiten, die aktiv am Kulturaustausch beteiligt waren und es zum Teil immer noch sind. „Kultur findet niemals isoliert statt. Lite ratur, Theater, Kunst und Musik leben von Austausch, Briefwechseln, gegenseitiger Inspiration und Kollaboration“, so Piok. Das Online-Lexikon zeigt neue Facetten bekannter Persönlichkeiten aus beiden Ländern auf – etwa dann, wenn sie neben anderen Tätigkeiten auch als Übersetzer:innen oder Vermittler:innen tätig waren. Dem österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig beispielsweise kam durch seine freundschaftlichen, intellektuellen und beruflichen Beziehun gen nach Frankreich eine bedeutende Vermittlerrolle zu.
Lilly von Sauter: Die gebürtige Wienerin und Kunsthistorikerin Lilly von Sauter absolvierte Teile ihrer Studienzeit in Paris. In der Nachkriegszeit war sie als Kulturredakteurin in Innsbruck tätig und versuchte, die Tiroler Bevölkerung an die französische Kunst heranzuführen – kein einfaches Unterfangen. Sie war außerdem Übersetzerin und verfasste eigene literarische Werke.
Frauen als Vermittlerinnen
Neben prominenten Namen lassen sich in dem österreichisch-französischen Wiki auch Personen finden, welchen in der bisherigen Geschichtsschreibung zu wenig Beachtung geschenkt wurde:„Wir richten den Blick bewusst weg von den Zentren und entdecken neue Namen. Nicht selten sind es Frauen, die eine Position als Übersetzerin oder Kritikerin innehatten und damit in der Kulturvermittlung eine bedeutende Rolle gespielt haben“, erklärt Maria Piok. „Zu einigen dieser Persönlichkeiten gibt es noch keine oder nur wenige Aufzeichnungen, deshalb betreiben wir in diesem Bereich viel Recherchearbeit.“
Helene Funke: Die Malerin und Grafikerin Helene Funke lebte zwischen 1905 und 1913 in Paris. Während ihre künstlerischen Anfänge noch stark durch die Münchener Landschaftsmalerei beeinflusst sind, wandte sie sich in Paris dem Fauvismus zu. Funkes Rezeption der französischen Avantgarde ist ein hervorragendes Beispiel für den Kulturtransfer zwischen Paris und Wien.
Neben Personen werden im Lexikon auch Institutionen und Ereignisse beschrieben, die in kulturellen Durchdringungsprozessen zwischen den beiden Ländern bedeutsam waren oder immer noch sind. Auch Formen des sekundären Kulturaustauschs werden in die Einträge aufgenommen: „Kulturschaffende müssen das jeweils andere Land nicht zwingend besucht haben, um von dessen Kultur inspiriert zu werden. Oft wurden beispielsweise österreichische Schriftsteller:innen durch französische Literatur beeinflusst, weil sie diese lasen – und um gekehrt“, so Piok.
Freizügige Franzosen?
Die Einträge reichen bis in die Zeit Maria Theresias zurück. Ihr Ehemann, Franz von Lothringen, beschäftigte sich aufgrund seiner Herkunft mit französischer Kultur, der Austausch wurde in Folge der Eheschließung von Marie-Antoinette von Österreich-Lothringen und Ludwig XVI., dem späteren König von Frankreich, weiter intensiviert. Die französischen Besatzungen in Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Napoleon sind als Einträge im Lexikon zu finden, genauso wie die Besatzung Tirols und Vorarlbergs zwischen 1945 und 1955. Im Mittelpunkt steht auch hier, wie diese Ereignisse das künstlerische Schaffen und die Rezeption von Literatur, Theater, Kunst und Musik beeinflusst haben.
Parti en ami: An die französische Besatzung nach dem 2. Weltkrieg in Tirol und Vorarlberg erinnert unter anderem der Emile-Béthouart-Steg, der die Stadtteile St. Nikolaus und Saggen verbindet. Béthouart war zwischen 1946 und 1950 Hochkommissar der französischen Besatzungszone in Österreich. Die Gedenktafeln gibt es in beiden Sprachen.
Friedensreich Hundertwasser: Der österreichische Künstler (li.) wurde in seinen Werken maßgeblich von seinem Weggefährten und Freund René Brault(im Bild rechts), auch bekannt als Bré, einem französischen Künstler, beeinflusst. Sieben Jahre lang wohnte Hundertwasser kostenlos bei der Familie Dumage in Saint-Maindé bei Paris. Später erwarb er im Norden Frankreichs ein Bauernhaus.
Dieser kulturelle Bogen wird im DECAF-Wiki bis in die Gegenwart gespannt, gleichzeitig werden Stereotype hinterfragt: Das Bild des verruchten und sexuell freizügigen Franzosen wurde etwa durch französische Trivialliteratur geprägt, die im 19. Jahrhundert vielfach in Österreich gelesen wurde; sie ist ebenso wahr oder unwahr wie das romantisierte Bild Österreichs, das in Frankreich durch die Filmtrilogie Sissi mit Romy Schneider in der Hauptrolle entstand.
Geduldsprobe Projektantrag
Hinter dem vom FWF geförderten Projekt steht eine lange Geschichte: „Bereits vor 20 Jahren haben Sigurd Paul Scheichl, Wolfgang Pöckl, beide von der Universität Innsbruck, und der damals an der Université de la Sorbonne tätige Karl Zieger mehrmals entsprechende Anträge eingereicht, diese wurden jedoch stets abgewiesen“, erzählt Maria Piok. Im Jahr 2023 reichten Marc Lacheny und Piok die damaligen Entwürfe in leicht abgeänderter Form und mit der Idee für das MediaWiki erneut beim FWF ein – diesmal mit Erfolg: Die Finanzierung ist bis September 2026 gesichert. Im Projektteam an der Universität Innsbruck kümmert sich Ulrich Lobis um die technische Umsetzung der Webseite, Hannah Puchelt übernahm im Frühjahr 2025 die koordinativen Aufgaben den beiden Projektmitarbeiterinnen Irene Zanol (Universität Innsbruck) und Solène Scherer (Université de Lorraine).
Projektteam: Maria Piok (re.), Leiterin des Literaturhauses am Inn und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut Brenner-Archiv, leitet das Projekt, Ulrich Lobis kümmert sich um die technische Umsetzung der Webseite, Hannah Puchelt übernahm im Frühjahr 2025 die koordinativen Aufgaben.
Die Initiative beruht auf einem weitläufigen Expert:innen-Netzwerk: Insgesamt verfassen rund 100 Wissenschaftler:innen aus Österreich und Frankreich Einträge zu österreichisch-französischen Kulturbeziehungen. „Es wird mit zwei getrennten Wikis gearbeitet, eines in französischer und eines in deutscher Sprache“, erklärt Piok. In weiterer Folge werden die Beiträge übersetzt. „Die Idee ist außerdem, dass das Online-Lexikon auch über die Projektlaufzeit hinaus weiterwächst und immer mehr kulturelle Verbindungen sichtbar gemacht werden“, so Maria Piok. Das stetig wachsende Lexikon ist online abrufbar.





