Vor einigen Jahren stieß der Klassische Philologe William Barton vom Institut für Klassische Philologie und Neulateinische Studien bei Recherchearbeiten im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar auf die verloren geglaubten Tagebücher des deutsch-französischen Hellenisten Karl Benedikt Hase: Die neun Bände stammen aus den Jahren 1825 bis 1862 und umfassen über 2400 Seiten, dicht beschrieben in altgriechischer Handschrift. Als ebenso wertvolle wie schwer zugängliche Zeugnisse verraten die Tagebücher viel über das Leben eines Gelehrten im Paris des frühen 19. Jahrhunderts.
Karl Benedikt Hase ist als Experte für griechische Literatur mehrerer Epochen, als Brückenschläger zwischen der französischen und deutschen Wissenschaft, aber auch als Fälscher byzantinischer Textdokumente insbesondere Byzantinisten ein Begriff; seine faszinierende Persönlichkeit und sein Werdegang, der ihn von Deutschland ins napoleonische Paris führte, machen ihn aber über die Gräzistik Byzantinistik hinaus für die Forschung interessant. Seine Tagebücher werden im FWF-Projekt LAGOOS unter der Leitung von William Barton für weitere Forschungen zugänglich gemacht. Bis Projektende sollen nicht nur alle neun Bände als digitale Edition vorliegen, sondern auch einige Rätsel, die seine Tagebücher aufgeben, gelöst sein.
Das bessere Griechisch
Die Frage, warum Hase, ein gebürtiger Deutscher, der in Paris lebte und als Professor an der Pariser Akademie Neugriechisch lehrte, seine Tagebücher überhaupt auf Altgriechisch verfasste, ist eines dieser Rätsel. „Hase liebte die griechische Sprache im Allgemeinen, er unterrichtete sie ja auch“, meint William Barton, räumt aber gleichzeitig ein, diese Erklärung sei logisch, aber nicht weitreichend genug. Eine weitere Antwort lässt sich vor dem Hintergrund der politischen Geschehnisse der damaligen Zeit geben: Als Hellenist mit revolutionären Ansichten interessierte sich Hase für den griechischen Aufstand gegen die Herrschaft der Osmanen (1821 bis 1829) und noch mehr für die sogenannte Griechische Sprachfrage, eine Auseinandersetzung über die offizielle Sprache der neuen griechischen Nation, die unter dem Begriff το γλωσσικό ζήτημα (Glossiko Zitima) in die Geschichte einging. „Einerseits sprach die griechische Bevölkerung modernes Griechisch. Auf der anderen Seite waren die meisten wichtigen literarischen Texte, die damals in ganz Europa geliebt und gefeiert wurden, auf Altgriechisch verfasst“, erläutert Barton. Es war eine große kulturelle Diskussion, die letztendlich in einem Mittelweg, einer Mischung aus altem und modernem Griechisch, endete. „Für Hase war Altgriechisch jedoch die bessere Wahl. Er schrieb seine Tagebücher im besten Griechisch, das er konnte. Das war seiner Ansicht nach das Altgriechische“, fasst Barton seine auch im Rahmen einer Publikation veröffentlichten Erkenntnisse zusammen.
„Hase schrieb seine Tagebücher im besten Griechisch, das er konnte. Das war seiner Ansicht nach Altgriechisch.“
Zwar war Hase ein Experte für byzantinische Literatur und ein Verehrer des Altgriechischen, sein Leben in Paris verdiente er ab 1819 jedoch auch als Professor für Neugriechisch. Auch hielt er das Neugriechische für eine wichtige Voraussetzung, um die griechische Antike zu erschließen. Ein Aspekt, der Barton und seine Mitarbeiter:innen Lev Shadrin und Mariia Hrynevych in diesem Zusammenhang jüngst beschäftigte, war die Frage, wie Karl Benedikt Hase als Student in Jena und später in Paris überhaupt Neugriechisch erlernte. Denn im von der Aufklärung beseelten Deutschland galten das antike Griechenland und seine Sprache als Ideal, das Neugriechische dagegen als weniger wertvoll. „Wir wissen, dass Hase mit einer Gruppe von Griechen, die in Deutschland studierten, Bekanntschaft machte, Griechisch sprach und auch Lektionen nahm. Um dann später selbst Griechisch an der Pariser Akademie zu unterrichten, ist das aber selbst für ein Sprachtalent wie Hase zu wenig“, meint William Barton. Wie Karl Benedikt Hase Griechisch auf hohem Niveau erwarb, erfuhren die Wissenschaftler:innen aus einem kleinen grünen Notizbuch aus Hases Studienzeit, das ebenfalls im Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs verwahrt wird. „Zunächst, war es für uns gar nicht so leicht, herauszufinden, was genau es mit diesem Büchlein überhaupt auf sich hat, denn es trägt kein explizites Datum und auch keinen Titel“, erzählt Barton. Das Büchlein beinhaltet Mitschriften aus seinem Neugriechisch-Kurs bei Jean-Baptiste-Gaspard d'Ansse de Villoison, dessen Professur Hase dann später übernahm. Es gibt interessante Hinweise auf die sprachpädagogischen Methoden, aber auch auf die neugriechischen Texte, anhand derer Hase bei seinem Vorgänger in Paris Griechisch studierte. „Noch heute wird Griechisch durch das Niederschreiben eines vorgelesenen Texts geübt. Auch Hase lernte Griechisch anhand von Texten, die sein Lehrer ansagte“, erklärt Barton. Einer dieser Texte war eine neugriechische Übersetzung von Nicolae Costins Geschichte Moldawiens aus dem Rumänischen. „Das ist interessant und in vielerlei Hinsicht auch kurios, denn der Text war damals noch ein Manuskript. 23 Jahre später hat Hase diesen Text dann nochmals in einer wissenschaftlichen Publikation aufgegriffen“, gibt der Gräzist Einblick in aktuelle Erkenntnisse.
Aus den Tagebüchern erwartet man sich außerdem neue Informationen zu einem weniger rühmlichen Aspekt aus dem Leben des berühmten Hellenisten, der erst Ende des 20. Jahrhunderts zu Tage kam: Hase fälschte byzantische Manuskripte. Darunter auch historische Dokumente über die Krim, um die ihn ein russischer Adeliger gebeten hatte. Hase besaß diese nicht, also fertigte er einfach einen Augenzeugenbericht an. Den Motiven und Hintergründen der vom bekannten Byzantinisten Ihor Ševčenko als Fälschung entlarvten Textes geht Mariia Hrynevych in ihrer Doktorarbeit nach, in der sie gezielt nach Hinweisen in den Tagebüchern sucht.
Digitale Edition
William Barton und seine drei Kolleg:innen Mariia Hrynevyc, Lev Shadrin und Chiara Telesca forschen selbst über Hase, ihr Hauptanliegen im Rahmen von LAGOOS ist es jedoch, die neun Tagebücher als Volltext mit englischer Kurzzusammenfassung für andere Wissenschaftler:innen zugänglich zu machen. Obwohl ihnen dafür mit der in Innsbruck entwickelten Handschriftenerkennung Transkribus ein sehr effizientes Werkzeug zur Verfügung steht, ist diese Aufgabe alles andere als trivial. Das Modell musste in der ersten Projektphase entsprechend trainiert werden, um Hases Handschrift sowie die Besonderheiten des Altgriechischen automatisch erkennen und transkribieren zu können. Eine Herausforderung bei der Edition ist nicht zuletzt Hases Sprachstil – zum Teil mischt er Sprachen oder erfindet eigene Begriffe – der sich erst durch die Analyse vieler Seiten erschließen lässt und von Lev Shadrin in seiner Doktorarbeit erforscht wird. Hinzu kommen die zahlreichen Realia, die Hase erwähnt. Für die englischen Kurzfassungen der einzelnen Tagebuchseiten versuchen die Wissenschaftler:innen, allen voran Chiara Telesca, die ins Altgriechische übertragenen Namen von Personen, Orten, Straßen oder auch Cafés und Restaurants einzuordnen. Eine Arbeit, die oft ziemlich schwierig ist und umfassende Recherchen in historischen Quellen erfordert. Nutzer:innen der digitalen Edition stehen dadurch Informationen und, wo vorhanden, Links zu vielen der erwähnten Realia, aber auch Kommentare zu wichtigen Ereignissen zur Verfügung.
Dieser Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe von ZUKUNFT FORSCHUNG erschienen.
