Ernährung in der Corona-Krise

Jutta Kister

 

Die meisten von uns sind vorwiegend zu Hause, mit der Familie, den ganzen Tag. Das führt zu neuen Erfahrungen im Bereich der Ernährung – die Mahlzeiten werden zu Hause und nicht wie sonst häufig außer Haus eingenommen. Dabei werden neue Erfahrungen gemacht: jetzt probieren viele Menschen neue Rezepte aus, Brot wird gebacken und Ab-Hof-Verkauf sowie Bio-Kiste freuen sich über große Nachfrage. Manches wird der Rückkehr zum Normalbetrieb wieder zum Opfer fallen, es wird wohl kaum weiterhin so viel selbst gekocht werden. Aber Erfahrungen, die gemacht wurden, erweitern den Horizont und man kann auch später wieder leichter darauf zurückgreifen.

Als Reaktion auf Krisen weisen Gesellschaften zumeist zwei Formen auf: sie beziehen sich verstärkt auf wenige oder eine mächtige, autoritäre Top-Down-Führung und fallen hinter gesellschaftliche Errungenschaften vergangener Jahre zurück oder sie reagieren vermehrt in solidarischen, zivilgesellschaftlichen, kleinteiligen Organisationsformen um die Auswirkungen der Krise lokal angepasst zu minimieren. Bezogen auf das Ernährungssystem ist beides aktuell zu beobachten. Wenige Lebensmittelhändler sind mit der Versorgungssicherung der Bevölkerung betraut worden, die sich auf ein eingeführtes, dominantes – vorwiegend agroindustrielles - Agrarsystem stützen.  Gleichzeitig wurden in Tirol schnell zahlreiche digitale Plattformen für lokalen Lebensmittelbezug programmiert, geschlossene Hotels nutzten Foodsharing-Plattformen, um übrige Lebensmittel vor der Tonne zu retten, die Belieferung gesundheitlich beeinträchtigter Personen wurde solidarisch organisiert und vieles mehr.

Krise – WELCHE Krise?

Das ist spannend, denn unser Ernährungssystem steckt schon länger in einer multiplen Krise: Die agro-industrielle Produktionsweise setzt sich in der Lebensmittelproduktion seit den 80er Jahren weltweit zunehmend durch. Sie ist wachstumsorientiert und mit hohem Verbrauch fossiler und natürlicher Ressourcen, wie Boden und Wasser, verbunden. Mit hohem Technologie- und Finanz-Einsatz verspricht sie hohe Gewinne – für Wenige. Nach dem Prinzip Wachsen oder Weichen geben laufend Betriebe auf, die der Konkurrenz nicht mehr mithalten können. Ökonomische Rentabilität ist der Maßstab. Wertschöpfungsketten sind zunehmend global arbeitsteilig organisiert. Dieses Agrarsystem gerät zunehmend unter Rechtfertigungsdruck aufgrund der Kollateralschäden für die Natur und wachsenden sozialen Ungleichheiten. Die Krisenhäufigkeit nimmt zu.

Dies war auch bereits vor der Corona-Krise so und wird langfristig Bestand haben. Die Wirkung auf das Ernährungssystem ist dramatisch. Die Vielfalt an Nutzpflanzen und Hoftierarten nimmt rapide ab und führt zu einer Biodiversitätskrise. Wiederholte Extremereignisse, die zu massiven Ernteeinbußen führen, hängen mit der Klimakrise zusammen. Hinzu kommt die Endlichkeit fossiler Ressourcen sowie die als »planetary boundaries« bezeichneten Grenzen der Belastbarkeit der Erde. Gerade, um die Pflanzenzucht langanhaltende Trockenheit oder Erwärmung anzupassen, wäre Sortenvielfalt nun wichtig.

Nicht zuletzt verzeichnen wir soziale Verwerfungen in der Verteilung von Lasten und Risiken, die durch die Krisen zu bewältigen sind, sowohl innerhalb der heute lebenden Menschen als auch gegenüber zukünftigen Generationen. Samenfeste Sorten, also Sorten, bei denen jährlich Samen für das kommende Jahr zurückbehalten werden, sind lokal angepasst und sichern die Versorgung auch im Fall einer Krise, die sich etwa auf die globale Logistik auswirkt, so wie bei den Ausgangsbeschränkungen der Corona-Krise. Die zahlreichen angepassten regionalen Sorten sind hier extrem hilfreich, jedoch durch die Verbreitung einheitlicher agroindustrieller Zuchtsorten stark bedroht. Es besteht ein zunehmender Transformationsdruck auf das dominante Ernährungssystem, den man entweder frühzeitig gestalten kann oder durch Zögern zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Kollaps führen wird. Seitens der Forschung ist daher wichtig, alternative Systeme zu erforschen, um der Gesellschaft Erkenntnisse dazu bereitzustellen.

Damit einher gehen Überlegungen, wie eine Alternative Produktionsweise gestaltet werden kann. Die Forschung beschäftigt sich mit der Analyse alternativer Ernährungssysteme, die bereits in Nischen bestehen und in der Krise die Vorlagen für Lösungsstrategien darstellen könnten. Die alternativen Organisationsformen sind häufig kleinräumig strukturiert und lokal angepasst. Statt auf gewinnmaximierende Ausbeutung von Natur, setzen sie auf Kreislaufwirtschaft und Gemeinwohlorientierung. Weil Risiken häufig internalisiert und besser auf alle Beteiligten verteilt werden, inklusive der Konsument*innen, zeigen diese Formen eine größere Anpassungsfähigkeit an Veränderungen. Beispielsweise geschieht das über eine solidarische Haftung, wie sie auch in Genossenschaften praktiziert wird. Gegenüber verschiedenen Krisenszenarien weisen diese Formen eine höhere Resilienz auf – ein Aspekt, der im Fortschreiten der aktuellen Situation auch besser erforscht werden kann.

Die landwirtschaftliche Nutzfläche in Tirol ist durch die Topographie stark begrenzt. Aus agrarökonomischer Sicht ist Tirol ein »Ungunstraum« weil großflächige, technikbasierte Agrarindustrie nicht umsetzbar ist. Derzeit verspricht eine Tätigkeit im Tourismus einen höheren Lebensstandard als in der Landwirtschaft. Die Anzahl angepasster Berglandwirtschaftsbetriebe nimmt stetig ab. Traditionelle Sorten gehen verloren und damit reduziert sich auch die Anpassungsfähigkeit an Krisen. Ohne Gegensteuern werden Nahrungsmittel dann in der Krise nicht mehr lokal verfügbar sein. Zur Wahrheit gehört auch, dass Ernährungssicherheit – ungeachtet der Produktionsweise – in Tirol derzeit nur bei Milch besteht. Die steilen höheren Agrarflächen sind nur als Weideland und nicht für den Ackerbau nutzbar. Zur Ernährung der Menschen können diese nur über den Umweg über Nutztiere wie Kuh, Schaf und Ziege beitragen, die seit Jahrhunderten Bestandteil der naturräumlich angepassten Kreislaufwirtschaft sind. Der bewusste Konsum dieser Tierprodukte trägt folglich zum Erhalt der Biodiversität und somit zu Tirols Ernährungssouveränität bei.

Absehbare Folgen der Corona-Krise für das Ernährungssystem in Tirol und Österreich

Die derzeit nur ansatzweise absehbaren Folgen der Corona-Krise für das Ernährungssystem in Tirol bzw. Österreich, lassen sich bezogen auf die Bereiche Produktion, Verarbeitung, Distribution und Konsum unterteilen:

Es fehlen Arbeitskräfte in der landwirtschaftlichen Produktion aufgrund von Ausfällen durch Krankheit und Betreuungsaufgaben. In hohem Maß jedoch fehlen Arbeitskräfte aufgrund der nationalen Einreisebeschränkungen. Die sonst großflächig eingesetzten Saisonarbeitskräfte fallen weitgehend weg, um Sondergenehmigungen wurde stark debattiert. In vielen Ländern, in denen saisonale Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eingesetzt werden, verweilen diese unter extrem prekären Bedingungen. Das Virus kann sich dort besonders rasch ausbreiten. Durch die internationale Arbeitsteilung auch im Agrarbereich, wirken sich Ausfälle auf die Verfügbarkeit von bestimmten Früchten aus. Schwierige hygienische Bedingungen herrschen bspw. auch bei der Kaffeeernte. Nur wenige Betriebe verfügen über sanitäre Einrichtungen. Die Lager bei den Röstern sind bald erschöpft, dies treibt den Preis in die Höhe. Wer wird davon profitieren können? Derzeit hat das Virus die Produktionsorte wohl nur am Rand erreicht. Verlässliche Regierungsinformationen sind selten vorhanden. Armut lässt keine Bewegungseinschränkungen zu. Schwierige hygienische Bedingungen dürften jedoch in Plantagen und größeren Betrieben mit Saisonarbeiter*innen dem Virus wenig entgegenzusetzen haben. Familienbetriebe, die in den Fairen Handel eingebunden sind, der häufig abgelegenen Betrieben einen Marktzugang ermöglicht, sind weitaus weniger betroffen. Ein Problem stellt vielmehr die Logistik und der globale Warentransport dar. Lieferketten sind häufig unterbrochen.

Auch in der Verarbeitung muss mit reduzierter Belegschaft und der Einhaltung der Abstandsregeln umgegangen werden. Inwiefern kleinere Betreibe hier flexibler reagieren können, steht noch zu beurteilen. Die Kapazitäten sind allgemein eingeschränkt. Auch hier ist der Faktor Logistik problematisch. Regionale Wertschöpfungsketten bieten einen großen Vorteil, weil Verkehrsbeschränkungen einen geringeren Effekt haben.

Große Veränderungen zeichnen sich im Nahrungsmittelkonsum ab. Der Außer-Haus-Markt, also Hotels und Gastronomie, Kantinen und Mittagstische, ist gänzlich eingebrochen. Die Wintersaison wurde abgebrochen, wann die Sommersaison startet, ist unbekannt. Vermutlich muss auf internationale Gäste verzichtet werden. Dies hat generell eine stark verminderte Nachfrage nach Waren, ungeachtet der Produktionsweise und Herkunft, nach sich gezogen. Großhändler, die den Außer-Haus-Markt mit Waren versorgen, haben geschlossen, weil ihnen ein Großteil der Abnehmer abhandengekommen ist. Dies wirkt sich bis auf diejenigen Produzenten aus, die überwiegend in Lieferketten mit dem Großhandel eingebunden sind. Früchte verrotten auf den Feldern.

Supermärkte und Discounter haben geöffnet, der private Verbrauch ist gestiegen, denn zu Hause wird nun mehr gegessen. Bauernmärkte haben weiterhin unter Auflagen geöffnet. Es bestehen jedoch unterschiedliche Regeln in den Kommunen. Dies ermöglicht kleineren Familienbetrieben, weiter ihre Produkte regional zu vermarkten und bietet Konsument*innen eine gewisse Auswahl. Ab-Hof-Verkauf, Kisten-Systeme und solidarische Landwirtschaften, die über direkte Konsument*innennetzwerke verfügen, sind stabil und in der Lage, flexibel auf die Einschränkungen zu reagieren. Von vielen wird über eine erhöhte Nachfrage seitens der Konsument*innen berichtet.  Produzenten, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen ansonsten nicht vermarkten könnten, etablieren in kurzer Zeit Lieferdienste, um den Einbruch zu kompensieren. Davon profitieren auch Personengruppen mit eingeschränkter Mobilität. Ein Service, das man vielleicht beibehalten könnte?

Was ist Ernährungssouveränität?

Ernährungssouveränität betont das Recht zur demokratischen Gestaltung des Agrarsystems, ohne dabei der Umwelt oder anderen Menschen zu schaden. Es geht also nicht allein darum, satt zu sein (Ernährungssicherheit), sondern auch um Selbstbestimmungsrechte und steht im Gegensatz zu Abhängigkeitsverhältnissen. Samen selbst vermehren und so lokal angepasste Sorten zu kultivieren statt einheitliche Hybridsamen, die für jede Saat neu gekauft werden müssen; an die Weidehaltung angepasste Rinderrassen statt Hochleistungskühen mit abgestimmtem Kraftfutter und speziellen Stallanlagen, die Betriebe in Verschuldung führen; Kreislaufwirtschaft im Einklang mit den Ressourcen Boden und Wasser statt agroindustrieller Produktion mit hohem Einsatz von fossilen Ressourcen und chemischen Mitteln; kleinräumige, selbstbestimmte Strukturen statt monopolistische transnationale Großkonzerne.

Wie kann ein Ernährungssystem aussehen, das positive Effekte auf die Region für mehr Nachhaltigkeit, Resilienz, Ernährungssouveränität fördert?

Generell zwingt die Krise zum Konsumverzicht. Die aktuelle Krise könnten wir also nutzen, um uns mit der eigenen Einkaufsstrategie zu beschäftigen. Was brauche ich wirklich zu einem guten Leben und wieviel ist es mir wert?

Stadt und Land müssen sich strategisch verknüpfen, um frische und gesunde Nahrungsmittel für die Bevölkerung bereitzustellen, gleichzeitig die Ernährungssouveränität auch in Krisensituationen zu sichern und eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion zu ermöglichen. Die Produzent*innen, Verarbeitungsbetriebe, die Distributionskanäle und die Konsument*innen braucht es, um ein »Gutes Leben für Alle» zu ermöglichen. Gesellschaft und Kultur sind gerade beim Thema Ernährung eng mit dem Naturraum verbunden und haben sich im wechselseitigen Respekt und Wertschätzung entwickelt. Ein ausbeuterisches Ernährungssystem - führt im Gegensatz dazu -  gleichermaßen zu Verlusten an Natur und an sozialer Gerechtigkeit. Stichworte sind Monokulturen, Insektensterben, Höfesterben, Aufgabe und Verbuschung der Almen - also ein Verlust an Kulturlandschaft auf den auch der Tourismus baut. Hinzu kommen ausbeuterische Saisonarbeit, Verschuldung und soziale Disparitäten.

Wie können nun positive Effekte auf die Region über die Konsumstrategie befördert werden? Private Einkaufsstrategien, die sich zum Ziel setzen, lokale Nahrungsmittelsouveränität und nachhaltige Produktion zu unterstützen, lassen sich zu Gruppen mit ähnlichen Bedürfnissen zusammenfassen. Einkaufsgemeinschaften auf Vereins- oder Genossenschafts-Basis kooperieren dann mit Produktions- und Verarbeitungsbetrieben. Dafür gibt es bereits zahlreiche Formate, die sich in Zeitaufwand und Beteiligungsinteresse der Konsumenten unterscheiden: Food Coops, Kisten-Systeme, Ernteanteile in Solidarischen Landwirtschaften, Bauernmärkte. Letztere sind formal relativ einfach umsetzbar, für andere bedarf es sogenannter »collective action«. In den letzten Jahren haben sich viele solcher Initiativen gegründet.

Neben den einzelnen Verbrauchern können auch öffentliche Institutionen positiv auf die nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln einwirken und die regionale Nahrungsmittelsouveränität unterstützen: Indem sie in ihren Lieferketten bewusst auf nachhaltig und fair produzierte Waren setzen und auf kooperative Weise auch soziale Aspekte der Nachhaltigkeit thematisieren - etwa langfristige Verträge und faire Preise. So fördern sie nicht nur ein nachhaltiges, vielfältiges Warenangebot, lokal angepasste Produktionsweisen, regionale Nahrungsmittelsouveränität und den Erhalt von ländlichen Regionen ans Lebens-, Kultur- und Wirtschaftsraum. So wären wir auch in Krisensituationen besser versorgt.

Es geht folglich nicht nur um die Produkte selbst, sondern auch den Umgang mit denen, die sie produzieren und damit einen wichtigen Beitrag leisten, dass uns und unseren Kindern eine intakte Umwelt sowie ein vielfältiges Nahrungsmittelangebot erhalten bleibt. Ein Beitrag für eine lebenswerte Umgebung, die wir im Alltag, in der Freizeit und im Urlaub gerne erleben möchten und die knappe Ressourcen, wie Boden und Wasser erhält. Um auch angesichts der multiplen Krise gut versorgt zu sein, sollte eine Diversität erhalten bleiben, die selbstbestimmte Entscheidungen auch in Zukunft zulässt.

Jutta Kister, April 2020 

 

Ebenfalls veröffentlicht auf dem persönlichen Blog der Autorin sowie in Auszügen in der Tiroler Straßenzeitung 20er, April 2020, Zukunftsdossier

 

Jutta Kister, PhD, ist Humangeographin und arbeitet am Geographischen Institut der Universität Innsbruck. Sie forscht zu wirtschaftsgeographischen Themen mit Fokus auf Nachhaltige Entwicklung. Forschungsinteressen liegen in der nachhaltigen Bereitstellung und dem Konsum von Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Ressourcen, alternativen Wertschöpfungsketten wie dem Fairen Handel und sozial-ökologischen Standards im Allgemeinen.

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