Augen auf und durch

subject_11: Skepsis | Während der Pandemie haben Misstrauen in Wissenschaft und Politik eine neue Ebene erreicht. Wie damit umgehen? Und wie weitermachen? Wir haben Forscher*innen um Antworten gebeten.  

News-Redaktion der Uni Innsbruck, Februar 2022

Jahr drei der Covid-Krise: Die Omikron-Welle rollt, regelmäßige Demonstrationen blockieren Innenstädte – zugleich proben wir zaghaft die Rückkehr zu einer „Normalität“, die es so vielleicht gar nie gegeben hat. Und mittendrin „die Wissenschaft“, die viel zur Bewältigung der Krise beigetragen hat, zugleich aber massiv attackiert wird. Wir haben Forscher*innen um eine Einschätzung der Lage gebeten: Historiker Wolfgang Meixner bietet einen Über- und Ausblick auf die Corona-Zeit und danach und Politikwissenschaftlerin Trix van Mierlo schaut auf Parallelwelten, in denen sich Maß­nahmen­gegner*innen und -befür­wor­ter*innen bewegen. Medienwissenschaftlerin Natascha Zeitel-Bank widmet sich dem Einfluss der Social Media, während Immunologin Birgit Weinberger das Wissenschaftssystem erklärt, in dem sich plötzlich Millionen Hobby-Expert*innen tummeln. Politikwissenschaftler Thomas Walli erläutert wiederum die ideale Politikberatung durch Wissenschaft, und Organisatonsforscher Leonhard Dobusch zeigt einen möglichen Weg aus der Skepsis: Mehr Transparenz.

So wirbelt Corona unser Leben auf

Wolfgang Meixner

Wolfgang Meixner vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie.

Krisen sind Antreiber für Veränderungen. Gleichzeitig zeigen sie Probleme auf und regen zum Umdenken über bestehende Strukturen an. Die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaft tiefgreifend verändert, Wolfgang Meixner vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäischen Ethnologie nimmt diese Entwicklungen kritisch unter die Lupe.

Die Gesellschaft steht immer noch im Zeichen des Coronavirus. Krisen sorgen für Bewegung, davon ist Wolfgang Meixner überzeugt. „Sie sind sehr komplex und bestehen aus unterschiedlichen Teilen. Noch komplizierter wird es, wenn es sich dabei um eine globale Angelegenheit handelt“, betont Meixner. Durch die Corona-Pandemie wurden unterschiedliche Themen an die Oberfläche gespült. In seine Überlegungen bezieht er verschiedene Arten von Krisen ein, die auf den deutschen Soziologen Walter Bühl zurückgehen. In der langjährigen Diskussion um das österreichische Gesundheitssystem sieht Wolfgang Meixner eine Strukturkrise. „Vor der Pandemie erfolgte eine umfassende Debatte über Einsparungen im Gesundheitswesen. Es gab starke Forderungen nach einem Abbau von Krankenhäusern und Intensivbetten. Mit der unerwarteten Ausbreitung des Coronavirus kam die Einsicht, dass in diesem Bereich ein großer Handlungsbedarf besteht. Es fehlte insbesondere am Personal.“ Um medizinische Fachkräfte und Pfleger*innen auszubilden, braucht es Zeit. Die Anwerbung von Mitarbeiter*innen aus dem Ausland kann ebenfalls nicht von heute auf morgen erfolgen. Diese Strukturprobleme gehen mit der Frage einher, ob man ein Krankenhaus wie ein privates Unternehmen führen soll. „In der Coronakrise fragt niemand nach den Kosten. Vorrangig geht es darum, die Krise zu bewältigen. Es hat sich gezeigt, dass unser Gesundheitssystem anfällig ist und wir Maßnahmen setzen müssen, damit es in Zukunft nicht zusammenbricht.“

Weitreichende Folgen

Am Beginn der Corona-Pandemie gab es viel Hoffnung für einen Umschwung in der Gesellschaft. „Damals wünschten sich die Bürger*innen eine Entschleunigung, eine Wirtschaft, die nicht nur auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist und eine gerechte Verteilung von Arbeit. Diese Vorstellungen wurden durch die Realität abgeschliffen.“ Dabei konnte der Wissenschaftler feststellen, dass es nach einer kurzen Schockstarre zu einer starken Solidarisierung kam. Insbesondere am Beginn zogen die Menschen an einem Strang. Sie standen auf ihren Balkonen und applaudierten dem Gesundheitspersonal. „Mit der Zeit hat sich dieses Gemeinschaftsgefühl stark fragmentiert. Mittlerweile konnten einzelne Gruppen, die einen anderen Umgang mit der Krise fordern, an Einfluss gewinnen.“ Wolfgang Meixner sieht darin noch keine Spaltung, aber ein Risiko, dass es dazu kommt. „Diese Frustration resultiert aus falschen Entscheidungen, die durch Politiker*innen getroffen werden.“ Insbesondere die junge Generation ist stark von den Einschränkungen betroffen. „Die verlorene Zeit kann nicht mehr zurückgeholt werden. Es fehlt an sozialen Kontaktmöglichkeiten.“ Bis alles wieder wie früher ist, ist es noch ein langer Weg. Auch die Wirtschaft steckt in einer grundlegenden Strukturkrise. „Es wird Jahre brauchen, um aus der jetzigen Situation herauszukommen und ein besseres wirtschaftliches Niveau zu erreichen.“ Erste positive Trends sieht Meixner an der Jugendarbeitslosenrate. Im Euroraum befand sich Österreich im Jahr 2020 auf Position 29 von insgesamt 34 Ländern.

Weltweit wurden Entscheidungsträger ins Wanken gebracht. „In Österreich haben sich die Politiker*innen sehr stark zu Krisenmanagern deklariert und die Expert*innen kaum zu Wort kommen lassen. Es gibt große Enttäuschungen in Bezug auf einzelne Personen auf dem politischen Parkett.“ In anderen Staaten konnte Meixner ein differenziertes Krisenmanagement wahrnehmen. „Dieser österreichische Zickzack-Kurs hat in zu einer großen Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt.“ Ein Blick in die USA zeigt, inwiefern eine Spaltung herbeigeführt werden kann. „Gruppen die sich an den Rand gedrängt fühlen, können dabei großen Einfluss nehmen. Die nächsten Wahlen werden zeigen, inwiefern die politischen Gruppen weiterhin überzeugen können.“

Demonstration

Schon vor der Corona-Krise zogen viele Menschen für ihre Anliegen auf die Straße.

Aktiv werden

Eine weitere Facette der Coronakrise bezieht sich auf die Einführung der Impfpflicht, darin sieht Meixner eine Entscheidungskrise. Dabei betont der Wissenschaftler, dass viele Menschen schon vor der Pandemie für ihre Anliegen auf die Straße gezogen sind. So konnte beispielsweise die Fridays-for-Future-Bewegung viel Zuspruch erhalten. Die Anzahl der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen und die Impfpflicht nimmt momentan weiter zu. „Es handelt sich um keine einheitlichen Gruppen. Es muss noch erforscht werden, welche unterschiedlichen Motive hinter einer Teilnahme an einer Demonstration stecken.“ In diesem Zusammenhang konnte der Wirtschafts- und Sozialhistoriker feststellen, dass die neuen Medien ganz andere Wege zulassen, um Menschen zu mobilisieren. „Viele Teilnehmer*innen haben das Gefühl, dass sie nicht mehr gehört werden. Es gibt ein Bedürfnis, sich zu artikulieren.“ Die öffentliche Kultur und die Art, wie Medien kommunizieren, hängen damit eng zusammen. „Es wäre wichtig, wieder mit den Menschen in einen Dialog zu kommen. Das elaborierte Vereinswesen und die Hausärzte hätten eine Anlaufstelle geboten.“ Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Bürger*innen und dem Staat wäre es aus Sicht von Meixner wichtig gewesen, die Menschen mehr miteinzubeziehen. „Es geht dabei darum die Frage zwischen der individuellen Freiheit versus der Solidarität gegenüber der Gesellschaft in den Fokus zu rücken.“ Es gab immer schon Gruppen, die sich gegen Impfungen gestellt haben, betont der Wissenschaftler. In Tirol war die Pockenimpfung, die vor rund 220 Jahren eingeführt wurde, umstritten. „Damals wurde die Impfung zur Propaganda gegen die bayerisch-napoleonische Besatzung instrumentalisiert. Es war die Rede von einer Zwangsimpfung.“ Im Jahr 1948 wurde die Impfpflicht gegen Pocken in ein Gesetz gegossen. Die damalige Regelung umfasste in erster Linie Kinder und Personen in gefährdeten Berufsgruppen. Wer dagegen verstieß, musste eine Verwaltungsstrafe in Höhe von bis zu 1.000 Schilling leisten oder einen Arrest absitzen.

Fundament nutzen

Viele Waren sind knapp oder aufgrund von Lieferengpässen nicht verfügbar. „Die Wirtschaft würde gerade boomen, da viele Menschen verschobene Einkäufe nachholen möchten. Im Endeffekt müssen sich viele Branchen überlegen, wie sie ihre Produktionsketten in Zukunft organisieren, um Umsatzausfälle zu vermeiden.“ Meixner ist der Meinung, dass sich durch die Corona-Pandemie für die Tourismusbranche nicht viel geändert hat. „Mit den richtigen Rahmenbedingungen werden die Gäste auch in Zukunft wiederkommen.“ Aus seiner Sicht befand sich der Tourismus schon vor der Coronakrise in einer Struktur- und Systemkrise. „Längerfristig betrachtet wird der Klimawandel das Buchungsverhalten verändern. So werden manche Skigebiete in Zukunft nicht mehr Bestand haben. Die Krise kann dabei ein Anstoß für neue Wege sein.“ Im Zuge der Corona-Pandemie wurde zahlreichen Wirtschaftsbereichen unter die Arme gegriffen. Ein Blick in die Geschichte verrät, dass es solche umfassenden Förderungen in dieser Form noch nie gab. „In der ersten Republik wurden aufgrund von internationalen Auflagen keine Kredite aufgenommen, um eine Verschuldung zu vermeiden. Unterstützungen gab es damals nur im kleinen Rahmen.“ Das System Kurzarbeit gab es in ähnlicher Form auch schon vor dem Ausbruch von Covid-19. „Bereits in der Finanzkrise 2008 hat man gesehen, dass sich dieses System bewährt.“ In Österreich gab es seit den 1980er-Jahren eine Vielzahl von innovativen Instrumenten, um Arbeitslosigkeit abzufedern. Im Jahr 1994 wurde das Arbeitsamt in das Arbeitsmarktservice umgewandelt und weiter ausgebaut. „In vielen anderen Staaten gibt es diese Auffangnetze nicht.“ Darin sieht Wolfgang Meixner ein gutes Fundament, um die Coronakrise im Arbeits- und Wirtschaftsbereich weiterhin gut zu überstehen.

Tourismus

Aus Sicht von Wolfgang Meixner befand sich die Tourismusbranche bereits vor Covid-19 in einer Krise.

Parallelwelten

Sie sind ein Zusammenschluss aus Menschen, die gemeinschaftlich und organisiert handeln, um mit verschiedenen, wiederkehrenden Aktionen ein bestimmtes Ziel zu erreichen – soziale Bewegungen, die eine gesellschaftliche Veränderung anstreben und die manchmal auch zu einer gesellschaftlichen Spaltung führen können. An ihnen forscht Trix van Mierlo, die seit 2017 am Institut für Politikwissenschaft arbeitet. Ihre Forschungsthemen – Protest, „contentious politics“ und eben soziale Bewegungen – haben sie dabei bereits auf die Philippinen und nach Mexiko geführt, wo sie für ihre Doktorarbeit Protestbewegungen in substaatlichen autoritären Enklaven analysiert hat. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie hat Trix van Mierlo bereits früh auch ganz persönlich zu spüren bekommen: Der dritte für ihr Forschungsprojekt geplante Aufenthalt in Brasilien musste im März 2020 sehr kurzfristig abgebrochen werden.

Trix van Mierlo

Trix van Mierlo hat Conflict Studies und Human Rights an der Universität Utrecht studiert. Seit 2017 ist sie an der Universität Innsbruck.

Links und rechts

Die Themen gehen der jungen Politikwissenschaftlerin wohl trotzdem so schnell nicht aus, ihre Forschung ist derzeit aktueller denn je. Tausende protestieren in Österreich, aber auch im Heimatland von Trix van Mierlo, den Niederlanden, regelmäßig gegen die Covid-Maßnahmen der jeweiligen Regierungen. Diese Entwicklung beobachtet sie genau: „Soziale Bewegungen sind natürlich nichts Neues. Trotzdem zeigen sich bei den aktuellen Protestbewegungen einige Besonderheiten. Während sie sich in der Vergangenheit häufig mit Nischenthemen beschäftigt haben und dadurch von vielen gar nicht wahrgenommen wurden, ist das bei Covid-19 anders: Es betrifft uns alle“, sagt van Mierlo. „Das führt schließlich auch dazu, dass sich unterschiedlichste Gruppierungen und Gesinnungen zusammenschließen, um gemeinsam gegen die Covid-Maßnahmen zu protestieren – da kommt es auch vor, dass Personen, die sich politisch links verorten, mit Menschen aus dem politisch rechten Lager auf die Straße gehen“, führt die Politikwissenschaftlerin weiter aus.

Während dieses Phänomen in den Medien aktuell häufig als etwas neues und einzigartiges beschrieben wird, weist Trix van Mierlo auf ein oft kontrovers diskutiertes politisches Modell hin, das das Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Lager bereits seit den 1970er Jahren zu erklären versucht und vor dem Hintergrund der aktuellen Protestbewegungen eine mögliche Erklärung liefert: „Das Hufeisenschema beschreibt das politische Spektrum nicht linear von links nach rechts, sondern mit Hilfe der Hufeisenform, bei der das linke und das rechte Spektrum näher beieinander liegen als im klassischen linearen Modell. Extreme politische Lager sind sich hier also näher, als sie jeweils am Zentrum liegen“, erläutert van Mierlo.

Dafür oder dagegen

Trotz großer medialer Aufmerksamkeit bilden die Maßnahmengegner*innen eine Minderheit in der Gesellschaft. Die Protestbewegungen können aber dennoch zu einer gesellschaftlichen Spaltung beitragen, weiß van Mierlo:

„Soziale Bewegungen können unbeabsichtigt oder auch als strategisches Ziel eine gesellschaftliche Spaltung hervorrufen. Dazu trägt ein starkes „Wir-Gefühl“ innerhalb der Gruppe bei, das die Handlungsbereitschaft der Teilnehmer*innen trotz möglicher persönlicher Risiken erhöhen kann und den Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der Gemeinschaft vereinfacht. Letztlich geht es in diesem Stadium nur mehr um eine Abgrenzung nach außen – persönliche oder politische Differenzen innerhalb der sozialen Bewegung können dadurch leichter überwunden werden.“

Dass Covid-19 und die damit einhergehenden Maßnahmen alle betreffen, trägt letztlich auch dazu bei, dass viele Menschen das Gefühl haben, sich für eine Seite entscheiden zu müssen: Jene der Menschen, die sich an die Maßnahmen halten oder jene der Menschen, die sich den Maßnahmen verweigern. Es gibt Befürworter und Gegner – selbst innerhalb von Familien. „Diese Dynamik wird durch das Internet und diverse Medien verstärkt. Es ist möglich, sich in einem Raum zu bewegen, in dem man die Gegenseite nicht mehr hören muss. Sobald man sich in einer solchen Parallelwelt befindet, sieht man nur noch die eigene ,Wahrheit‘“, sagt Trix van Mierlo.

Corona Demo

Während soziale Bewegungen sich häufig mit Nischenthemen auseinandersetzen, betrifft die Corona-Pandemie uns alle. Nicht erstaunlich also, dass auch Personen unterschiedlichster politischer Couleur gemeinsam gegen die Maßnahmen auf die Straße gehen.

Wir gegen das Virus – statt für oder gegen die Impfung

Die Verantwortung, diese gesellschaftlichen Gräben zu überwinden, sieht Trix van Mierlo bei der Politik: „Es muss der Politik gelingen, die Menschen wieder zusammen und zum Reden zu bringen. Etwas, das viele Menschen verbindet, ist die Angst, die sie während der Pandemie gespürt haben, sei es um die Gesundheit, um Angehörige, den Job oder die gesellschaftliche Entwicklung. Das kann ein möglicher Anstoß für Gespräche miteinander sein. Auch eine übergeordnete Identität kann helfen. Wir müssen weg von Diskussionen, die sich darum drehen, ob man für oder gegen die Impfung ist und hin zu einem ,Wir gegen das Virus‘.“

Als Gesellschaft wieder einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist auch vor dem Hintergrund wichtig, dass die Protestbewegungen auch dann nicht ganz verschwinden werden, wenn Covid-19 nicht mehr das dominierende Thema ist. „Soziale Bewegungen konzentrieren sich zwar grundsätzlich auf bestimmte Themen, diese können jedoch verallgemeinert werden – möglicherweise geht es in Zukunft nicht mehr nur gegen die Covid-19-Impfung, sondern ganz allgemein gegen Impfungen. Außerdem können sich diese Bewegungen institutionalisieren und beispielsweise zu einer Partei formieren, wie wir das in Oberösterreich mit der MFG gesehen haben. Soziale Bewegungen sind nicht null und eins, sie sind – wie die Gesellschaft selbst – in einem stetigen Wandel“, sagt Trix van Mierlo.

Im Infor­mations­netz­werk

Senior Lecturer am Institut für Medien Natascha Zeitel-Bank

Natascha Zeitel-Bank ist Senior Lecturer am Institut für Medien der Universität Innsbruck

Nicht nur SARS-CoV-2 hat sich über die gesamte Welt verbreitet. Im Kielwasser des Virus und seiner Varianten folgt stets der Schwarm aus Desinformationen, Falschmeldungen und gezielter Verunsicherung.  Natascha Zeitel-Bank ist Senior Lecturer am Institut für Medien, Gesellschaft und Kommunikation der Universität Innsbruck mit den Schwerpunkten politische Kommunikation, Social Media sowie Mediensysteme in der Europäischen Union. Zuvor war sie viele Jahre als Journalistin, im Marketing und in der internationalen Pressearbeit tätig. Während der Corona-Krise beobachtet und analysiert die Medienwissenschafterin vor allem die Kommunikation im Netz und auf Social-Media-Kanälen.

Das Publikum suchen

„In der strategischen Kommunikation gilt die Faustregel, Menschen in den Kommunikationskanälen abzuholen, in denen Sie sich auch tatsächlich bewegen“, erklärt Zeitel-Bank. „Man kann relativ leicht nachvollziehen, warum bestimmte Informationen ihre Zielgruppen nicht erreichen. Trotzdem wird noch zu wenig danach geforscht, wo diese Personen sich tatsächlich aufhalten. Ohne Beobachtung und Analyse der Social-Media-Kanäle, dem sogenannten Social Listening, wird es allerdings nicht gehen.“ Zeitel-Bank, die unter anderem strategisches Kampagnenmanagement unterrichtet, sieht dieses Problem auch in Informationskampagnen zur Pandemie, zum Beispiel der aktuellen Impfkampagne. Bei polarisierten und verhärteten Positionen reicht es nicht aus, Information über klassische Massenmedien zu verbreiten, denn manche Zielgruppen werden, ob freiwillig oder unfreiwillig, von diesen gar nicht mehr erreicht.

Bei Aufklärungsarbeit muss also zunächst einmal nach dem Publikum bzw. „Publics“ gesucht werden. „Man muss sich fragen: Wo sind diese Menschen, die noch bereit sind, ihre Meinung zu ändern, aber noch mehr Information brauchen? Und wie konsumieren sie Information? Da sind nicht nur Journalist*innen gefragt, sondern auch Meinungsträger*innen im Netz, die Menschen in dieser Rolle als Influencer*innen erreichen“, so Zeitel-Bank. Deswegen bauen die meisten klassischen Massenmedien, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk, mittlerweile auch ihre Präsenz in den sozialen Netzwerken verstärkt aus. Beispiele hierfür sind die Tagesschau oder ZIB 2 auf TikTok und Instagram.

Aufklärung und Falschinformation

In einer gesundheitlichen Krise wie der Corona-Pandemie, die umfassende Aufklärung und Kommunikation benötigt, liegt der prinzipielle Nutzen von Social Media in der schnellen, unkomplizierten und breiten Zugänglichkeit von Informationen. Zeitel-Bank bewertet es auch positiv, dass diese in Zeiten der Pandemie transparenter wurden und aus erster Hand bezogen werden konnten, beispielsweise durch Livestreams von Pressekonferenzen über YouTube, Facebook oder Europe by Satellite.

Die Schattenseite von Social Media zeigte sich allerdings schnell durch die rasante Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien. Ein großes Problem ist dabei, dass Einzelpersonen sich auf diesen schwer erreichbaren Kanälen abgeschottet bewegen und vernetzen können, während die produzierten Falschmeldungen ein großes Potential besitzen, viral zu gehen und große öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen.

Bei der viralen Verbreitung von Falschinformation spielen sogenannte Hubs, also Knotenpunkte, über die Information vervielfältigt wird, eine wichtige Rolle. Das zeigen Netzwerkanalysen unter anderem auf Twitter. Durch diese Hubs kann Desinformation, die aus wenigen Quellen produziert wird, stark in die Öffentlichkeit hinein wirken. Follower und Likes haben zwar nicht mehr die Bedeutung, die sie früher haben. Dafür ist es zu bekannt, dass diese leicht im Internet gekauft oder über Social Bots, also Programme zur Simulation von menschlichem Verhalten, manipuliert werden können. Dennoch entscheiden diese Zahlen über die Gewichtung einer Person oder Information und sind damit Teil der Algorithmen, die diese Falschinformation priorisieren.

Desinformation bekämpfen

Wie also kann gegen Falschinformation in sozialen Netzwerken vorgegangen werden? Einerseits werden sie auf institutioneller Ebene bekämpft. Die Europäische Union arbeitet in der Pandemie mit der World Health Organisation (WHO) zusammen und setzt zunehmend auch auf die Kooperation mit den ökonomisch ausgerichteten Plattformen wie Facebook, Youtube oder Twitter. Maßnahmen der Plattformen sind dabei, Posts und Videos zu löschen oder mit Hinweisen auf Falschmeldung zu versehen, auf seriöse Gesundheitsinformationen, zum Beispiel der WHO, zu verlinken, bestimmte Accounts zu sperren, die Weiterleitungsfunktion einzuschränken und Anzeigeplätze zu fördern oder zu sperren.  

„Trotzdem ist das Erkennen von Desinformation sehr von der Medienkompetenz der betreffenden Personen abhängig“, sagt Zeitel-Bank. „Fake News und Fälschungen können sehr hochwertig und überzeugend wirken. Mit Deep Fakes können Videos und Reden mittlerweile so manipuliert werden, dass Politiker*innen oder Kulturschaffenden Worte in den Mund gelegt werden. Das ist mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen. Das beste Mittel bleibt es, die Quellen der Information zu prüfen.“

Qualitätsgarantien in Krisenzeiten

Quellen zu prüfen ist allerdings keine spaßige Aufgabe und kostet Zeit. Vor allem, wenn es sich um Alltagsinformation oder beiläufiges Scrollen durch Nachrichten handelt, können oder wollen viele Menschen dazu nicht die notwendige Energie aufbringen. „Im Prinzip müsste in den sozialen Medien jede Einzelperson journalistische Prinzipien anwenden: Wer oder was ist die Quelle? Haben auch andere Medien darüber berichtet?  Wem gehört die Website und wer finanziert sie? Das ist im Alltag natürlich überfordernd“, sagt Zeitel-Bank.

Einfacher ist es, beim Medienkonsum darauf zu achten, ob Medien die Objektivitätsregeln befolgen. Dazu gehören Faktenchecks, Nachrichten- und Quellentransparenz, Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit, Trennung von wertungsfreien Nachrichten und Kommentaren. „Gerade Qualitätsmedien sind besonders in Krisenzeiten nach wie vor ein gewisser Garant für geprüfte und professionell aufbereitete Information“, sagt Zeitel-Bank.  „Natürlich verfolgen auch diese Medien ein Ziel, aber die Information, die sie ausgeben, ist geprüft, das gehört zu ihrem Job. Dass es solche Qualitätsmedien gibt und sie in dieser Form funktionieren können, ist für eine Demokratie ganz entscheidend.“

Mann mit Smartphones als Scheuklappen

Social Media bietet Einzelpersonen die Möglichkeit, sich auf schwer erreichbaren Kanälen abgeschottet zu bewegen und vernetzen.

Wissen schaffen

Birgit Weinberger vom Institut für Alternsforschung

Birgit Weinberger.

Birgit Weinberger promovierte in Virologie und arbeitet seit 2005 am Institut für Biomedizinische Alternsforschung der Universität Innsbruck. Hier beschäftigt sie sich vor allem mit Veränderungen des Immunsystems und Impfungen im Alter. Während Forschungsbereiche wie Immunologie und Virologie seit Beginn der Corona-Pandemie große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, beobachtet Weinberger, dass in der öffentlichen Diskussion vor allem ein Verständnis von Abläufen in der naturwissenschaftlichen Arbeit zu kurz kommt, wie sie auch im Interview erläutert.

Welche Aspekte von Wissenschaft finden zu wenig Beachtung?

Birgit Weinberger: Wissenschaftliches Arbeiten ist normalerweise von einem langen Austausch geprägt, an dem das öffentliche Interesse nicht sehr groß ist. Mit einer neuen Studie befassen sich in der Regel zunächst nur Fachkolleg*innen. Unterschiedliche Wissenschaftler*innen tauschen sich innerhalb der Wissenschaftscommunity aus, das läuft über Fachpublikationen oder Kongresse. Und aus diesen teilweisen sehr langwierigen Diskussionen bildet sich allmählich ein Konsens sowie eine Übereinstimmung verschiedener Studien, die aus unterschiedlichen Quellen stammen. Anhand dieses Gesamtbilds können wir als Forscher*innen dann sagen: wir sind uns relativ sicher, verstanden zu haben, wie Prozess X funktioniert.

Was die Forschung zur Corona-Pandemie betrifft, wird diesem Vorgang keine Zeit gegeben. Sogar Studien, die noch keinen regulären Veröffentlichungsprozess durchlaufen haben, also weder von anderen Wissenschaftler*innen geprüft noch in einem Journal gedruckt oder online gestellt wurden, erlangen mediale und öffentliche Aufmerksamkeit. Das ist auch verständlich. Die Pandemie betrifft uns alle und wir wollen so schnell wie möglich über Neuigkeiten informiert werden. Wissenschaft hat da ein anderes Tempo. Mittlerweile haben wir hervorragende Daten darüber, wie der Wildtyp des Coronavirus sich von der Alpha-Variante unterscheidet. Anfang 2022, mitten in der Omikron-Welle, interessiert das aber niemanden.

Welche Probleme bringt das große öffentliche Interesse mit sich?

Weinberger: Durch diese große Aufmerksamkeit und das verfrühte Abgreifen von Forschungsergebnissen bildet sich für die Öffentlichkeit ein Flickenteppich aus Einzelmeinungen ab, ehe der wissenschaftliche Konsens sich herauskristallisieren kann. Es fehlt auch ein Verständnis dafür, wie wissenschaftliche Diskussionskultur funktioniert. Wenn unter 100 Studien 99 die gleiche Aussage treffen und eine davon abweicht, heißt das nicht automatisch, dass diese dem Konsens widerspricht. Man muss diesen abweichenden Befund mit den restlichen 99 vergleichen, und dann stellt sich oft heraus, dass diese Studie nur eine sehr spezifische Situation beschreibt, methodisch nicht einwandfrei war oder einfach eine Ausnahme darstellt.

In der Öffentlichkeit sorgt es auch für Irritation, dass die Rahmenbedingungen sich ändern und alte Aussagen dann nicht mehr stimmen. Das ist aber für Wissenschaftler*innen vollkommen normal. Mitte 2020 hatten wir einen anderen Wissensstand, andere Varianten und eine andere epidemische Lage. Wir sehen keinen Widerspruch darin, wenn das, was Mitte 2020 gesagt wurde, heute so nicht mehr gilt.

Einen Konsens zu revidieren, ist Grundbestand des wissenschaftlichen Arbeitens und wird gemacht, sobald die Daten dafür sprechen. Während der Pandemie werden aber verbindliche Aussagen und Gewissheiten erwartet, die Wissenschaft in dieser Form nicht bieten kann.

Kann Wissenschaft tatsächlich keine verbindlichen Aussagen treffen?

Weinberger: Wir bekommen oft zu hören, dass wir uns ja nur im Konjunktiv äußern würden. Wer sich als Wissenschaftler*in seriös ausdrückt, sagt, dass mit sehr großer Sicherheit von etwas ausgegangen werden kann. Aber eine 100-%-Garantie kann es niemals geben, es tauchen immer Ausnahmen auf. Auch das kommt uns als Wissenschaftler*innen nicht im Geringsten komisch vor, es gehört zu unserer Arbeit dazu. Wer wissenschaftliches Arbeiten aber nicht versteht oder bewusst Zweifel sähen will, kann dies als Ungewissheit auslegen, nach dem Motto, „die sind sich ja selbst nicht sicher, was sie da erzählen“. Es ist natürlich viel leichter, einen Zweifel zu säen, als eine Sicherheit zu vermitteln, die sich um die 99 % bewegen kann, aber niemals absolut sein kann.

Wie kann man als Wissenschaftler*in dem Zweifel begegnen?

Weinberger: Es ist schwierig, mit Daten einem diffusen Zweifel zu begegnen. Wir als Wissenschaftler*innen wollen uns nicht auf diese emotionale Ebene begeben, weil das eigentlich der Art widerspricht, auf der wir Information vermitteln und die Welt beschreiben. Aber es wäre hilfreich, eben dies öfter zu tun. Wenn eine Impfgegnerin sagt: „Ich als Ärztin und Mutter würde niemals eine Nadel in meine Kinder rammen“, hat sie einen emotional viel wirksameren Standpunkt, selbst wenn ich das Gegenargument mit Daten und Statistiken belegen kann. Neben einer emotionalen Botschaft, mit der wir unsere Ergebnisse können, müssen wir auch darauf achten, dass es Begriffe gibt, die nicht wie fachspezifische Begriffe aussehen, aber trotzdem richtig eingeordnet werden müssen. Worte wie Wahrscheinlichkeit oder Risiko müssten bei vielen Aussagen eigentlich noch eine halbe Stunde lang erklärt werden. Wie haben wir das eigentlich berechnet wurde, was bedeutet der Wert im Detail? Das muss verständlich gemacht werden, damit unsere Ergebnisse von der Öffentlichkeit auch richtig interpretiert werden. Durch die Verkürzung auf einzelne Schlagzeilen geht der Kontext verloren, und ohne Kontext ergeben wissenschaftliche Aussagen keinen Sinn.

Sehen Sie in der Wissenschaft eine Verantwortung, ihre Arbeitsweise besser zu erklären?

Weinberger: Die Wissenschaft bemüht sich momentan sehr zu informieren, und mit den Medien und der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Es ist ein erschreckendes Klima entstanden, in dem Wissenschaftler*innen auch persönlich angegriffen werden. Wir müssen trotzdem nach wie vor bereit sein, öffentlich zu diskutieren und unsere Ergebnisse zu vermitteln, auch verstärkt die emotionale Ebene anzusprechen und uns nicht so sehr an einzelnen Zahlen aufhängen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass es unsere Hauptaufgabe ist, Daten zu liefern und Empfehlungen auszusprechen. Wenn wir es schaffen, das Verständnis für die Abläufe in der Wissenschaft zu verbessern, dann geben wir der Öffentlichkeit besseres Werkzeug in die Hand, um Daten richtig zu interpretieren und von Fehlinformationen zu unterscheiden.

Spritze

„Ich als Ärztin und Mutter würde niemals eine Nadel in meine Kinder rammen“: Impfgegner*innen bedienen sich oft emotionaler Botschaften, gegen die sachliche Gegenargumente schwer ankommen, selbst wenn diese mit Daten und Statistiken belegbar sind. 

Beratene Demokratie

Politikwissenschaftler Thomas Walli

Politikwissenschaftler Thomas Walli forscht unter anderem zu Wissenschaftspolitik und -kommunikation.

Die Krisen der vergangenen Jahre – Covid-19, aber auch und zunehmend prominenter die Klimakrise – haben die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise prononcierter hervorgehoben, Wissenschaftler*innen nehmen noch stärker direkt an öffentlichen Diskursen teil. Für Entscheidungen, die aufgrund ihrer Expertise fallen, sind sie dennoch nur mittelbar verantwortlich, und das ist auch gut so, wie der Politikwissenschaftler Thomas Walli festhält: „Entscheidungen, die beeinflussen, wie wir miteinander leben und umgehen, treffen Politiker*innen, und zwar basierend auf parteipolitisch unterschiedlichen Wertvorstellungen und Interessen. Diese mögen sich unterscheiden – in demokratischen Gesellschaften, in denen wir Einzelpersonen entweder direkt oder über Parteilisten zu unseren Vertreter*innen wählen, ist der Partei- und Werte-Wettbewerb eine Kerneigenschaft des politischen Systems –, aber sie sind nachvollziehbar und die Politiker*innen, die Entscheidungen fällen, sind auch demokratisch dazu legitimiert.“ Walli forscht unter anderem zu Wissenschaftspolitik und -kommunikation – er hebt einen für ihn wesentlichen Unterschied zwischen den Systemen Politik und Wissenschaft hervor: „Frei nach Max Weber: Die Wissenschaft beantwortet keine Soll-Fragen, sondern sagt uns, wie oder warum Dinge so sind, wie sie sind. Für die normativen Fragen, die sich aus diesem Wissen ergeben, ist die Politik zuständig.“

Idealbilder

Dass diese Idealbilder, wie sie der Soziologe Max Weber vor rund 100 Jahren schon beschrieben hat, nicht existieren und mitunter auch Wissenschaftler*innen ganz klare Politikempfehlungen abgeben, ist für Walli wenig problematisch: „Letztlich geht es um die politische Verantwortung für Entscheidungen, und die kann nur die Politik übernehmen. In modernen demokratischen Gesellschaften gibt es den expliziten Anspruch an Politiker*innen, dass ihre Entscheidungen demokratisch zustande kommen, und zunehmend auch, dass sie rational begründbar sind – natürlich ist dafür die Beratung mit Expert*innen nahezu zwingende Voraussetzung.“ Besonders ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dieser Anspruch an rational begründbare Entscheidungen gestiegen: „Der deutsche Soziologe Peter Weingart spricht in diesem Kontext von einer ‚Verwissenschaftlichung der Politik‘ und Zahlen aus Deutschland belegen das auch: Im aktuellen ‚Wissenschaftsbarometer‘ der gemeinnützigen Gesellschaft ‚Wissenschaft im Dialog‘ sagten 69 Prozent der Befragten, politische Entscheidungen sollten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und 75 Prozent meinten, Wissenschaftler*innen sollten sich öffentlich äußern, wenn politische Entscheidungen Forschungsergebnisse nicht berücksichtigen.“

Für die Einbindung von Expert*innen in politische Entscheidungsprozesse unterscheidet Thomas Walli nach Jürgen Habermas drei Modelle, die er 2021 in einem Blog-Beitrag ausführlicher beschrieben hat. „Das beginnt beim sogenannten ‚technokratischen Modell‘, bei dem Expert*innen selbst die Entscheidungsgewalt übernehmen und in dem Sachzwänge Entscheidungen vorgeben – so würde technokratisches Regieren eine demokratische Entscheidungsfindung ersetzen. Dem gegenüber steht für Habermas das ‚dezisionistische Modell‘, in dem der Souverän nur auf jene Expert*innen hört, die politisch opportun erscheinen – dieses Modell sehen wir in der Praxis tatsächlich manchmal, besonders in Nicht-Krisenzeiten“, erklärt der Politikwissenschaftler. Das dritte Modell nennt Habermas „pragmatisches Modell“: Hier treten Politiker*innen und Expert*innen in einen ständigen Austausch, der auch transparent gemacht wird und in dem sich die beiden Sphären auf Augenhöhe begegnen. „Die Einrichtung des Krisengremiums Gecko in Österreich, analog zum Vorgehen in zahlreichen anderen Ländern, ist durchaus als Umsetzung einer Spielart dieses ‚pragmatischen Modells‘ zu sehen, vor allem auch durch die interdisziplinäre Zusammensetzung des Gremiums – hier kommt Expertise tatsächlich aus unterschiedlichsten Fachrichtungen.“

Gegen die Skepsis

Dass sowohl Politik als auch Wissenschaft gerade in der Pandemie stark an Vertrauen eingebüßt haben, ist nicht zuletzt an Protesten und an massivem Widerstand gegen von der Politik beschlossenen Maßnahmen abzulesen. „Was die Wissenschaft betrifft, kann dieses Vertrauen vor allem durch vermehrte Kommunikation wissenschaftlicher Prozesse zurückgewonnen werden“, meint Thomas Walli. „Die Pandemie hat auch gezeigt, dass große Teile der Bevölkerung sich mit unterschiedlichen Meinungen und auch mit ‚unfertigem Wissen‘ auseinandersetzen können und auch dazu bereit sind.“ Um Vertrauen in rationale Entscheidungsprozesse der Politik zurückzugewinnen, schlägt Thomas Walli eine Erweiterung des „pragmatischen Modells“ vor: „Neben Expert*innen sollten Politiker*innen auch die Bürgergesellschaft stärker in weitreichende Entscheidungen einbinden. Wir sehen aus mehreren Ländern, dass das funktionieren und auch Akzeptanz schaffen kann. Der Klimarat in Österreich ist ein Beispiel dafür, dort erarbeitet ein repräsentativ ausgewähltes 100-köpfiges ‚Mini-Österreich‘ unter Anleitung von Expert*innen Maßnahmen gegen die Klimakrise.“ Und ein weiterer Aspekt ist für Walli zentral: Diese Entscheidungen und vor allem der Weg zu den Entscheidungen, wie beispielweise die Auswahl der Berater*innen, müssen transparent nachvollziehbar sein – das entziehe Verschwörungserzählungen den Boden.

Mann mit Anzug im Gespräch hinter einem Schreibtisch.

Wer berät wen und warum: Vermehrte Transparenz kann auch Vertrauen schaffen.

Wissen als Gemeingut

Je offener, desto bester: Davon ist Leonhard Dobusch vom Institut für Organisation und Lernen überzeugt, wenn es um die Zugänglichkeit von Wissenschaft und ihren Daten und Ergebnissen geht. Der Organisationforscher und Experte für digitale Öffentlichkeiten im Audio-Interview über den Wandel der wissenschaftlichen Öffentlichkeit.

Dobusch

„Wissenschaft funktioniert nämlich dann am besten, wenn wissenschaftliches Wissen allen gehört und unbeschränkt zugänglich ist.“ Leonhard Dobusch über die Vorteile einer offenen Wissenschaft.

Stichworte wie „Open Science“ oder „Open Access” gewinnen auch in der öffentlichen Wahrnehmung der Wissenschaft in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Gerade in der Corona-Krise wurde und wird häufig mit den schnell verfügbaren „Preprints“ auf frei zugänglichen Servern gearbeitet. Warum ist eine „offene“ oder „freie“ Wissenschaft von Vorteil – vielleicht nicht nur, aber gerade Krisenzeiten?

Zunächst einmal ist offene Wissenschaft schnellere Wissenschaft. Je mehr Menschen unkompliziert und frei auf wissenschaftliches Wissen, sei es in Form von Artikeln oder auch von offenen Datensätzen, zugreifen können, desto schneller können Erkenntnisse überprüft und auf ihnen aufgebaut werden. Geschwindigkeit macht gerade in Krisenzeiten einen großen Unterschied. Im Fall von Corona konnten so beispielsweise Experten wie der deutsche Virologe Christian Drosten Studien bereits öffentlich einordnen, noch bevor der Veröffentlichungsprozess in einer wissenschaftlichen Zeitschrift abgeschlossen war.

Offene Wissenschaft macht Erkenntnisse, zumindest mittelfristig, auch robuster.

Mehr Menschen mit Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und Daten bedeutet auch mehr kritische Auseinandersetzung, vereinfacht Replikationsstudien und reduziert den sogenannten Publication Bias, also das Problem, dass in wissenschaftlichen Zeitschriften bevorzugt Studien mit statistisch signifikanten Ergebnissen publiziert werden und andere Erhebungen so nie das Licht der Öffentlichkeit sehen. Bei Open Science ist das anders, weil dann die Daten jedenfalls zugänglich sind, auch wenn bestimmte Auswertungen keine statistisch signifikanten Ergebnisse produzieren – was ja auch ein relevantes Ergebnis sein kann: dass es eben keinen nachprüfbaren Zusammenhang gibt.

Sie plädieren in einer kürzlich erschienenen Publikation für einen Strukturwandel der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, darin unter anderem für eine Organisation des wissenschaftlichen Wissens hin zu einem öffentlichen Gut. Wie ist das gemeint?

Der Strukturwandel der wissenschaftlichen Öffentlichkeit hin zu offenerem Zugang zu Ergebnissen und Rohdaten ist längst im Gange. Immer mehr Zeitschriften veröffentlichen Open Access, das heißt die Artikel sind auf der ganzen Welt für alle Menschen frei zugänglich. Damit nähern wir uns dem Ideal des Wissenschaftssoziologen Robert K. Merton an, der für Wissenschaft das Ideal des „Wissenskommunismus“ formuliert hat. Wissenschaft funktioniert nämlich dann am besten, wenn wissenschaftliches Wissen allen gehört und unbeschränkt zugänglich ist.

Allerdings werden manche Probleme des traditionellen Publikationsmodells, allen voran der Warencharakter begutachteter wissenschaftlicher Artikel, ins Open-Access-Zeitalter fortgeschrieben. So zahlen Universitäten und ihre Bibliotheken bei vielen Open-Access-Zeitschriften zwar nicht mehr für Zugang in Form von Abonnements, dafür fallen Kosten für die Veröffentlichung von Beiträgen in Form von Autorengebühren an. Besonders problematisch sind hier hybride Modelle, bei denen Verlage weiterhin Abos an Bibliotheken verkaufen, zusätzlich aber Autorengebühren für einzelne, dann frei verfügbare Beiträge einstreifen. An dem problematischen Modell, dass private Verlage hohe Gewinne mit öffentlich finanzierter Forschung erzielen, ändert sich dadurch nichts. Mehr noch, die Sichtbarkeit von Forschung jener Institutionen, die sich Open-Access-Gebühren leisten können, nimmt verglichen mit schlechter finanzierten Forschungseinrichtungen, zum Beispiel aus dem Globalen Süden, zu. Wir haben es hier also mit einem Matthäus-Effekt zu tun, wonach jene Forschungseinrichtungen, die ohnehin bereits über mehr Ressourcen und Aufmerksamkeit verfügen, durch Open-Access noch zusätzliche Aufmerksamkeit erhalten: wer hat, dem wird gegeben.

Ein Ausweg wäre, viel stärker auf gemeinnützige, nicht-marktliche Alternativen unter Federführung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst zu setzen – so genanntes Scholar-Led Publishing.

Ein Beispiel dafür ist die Open Library of the Humanities, eine Plattform für diverse geistes- und sozialwissenschaftliche Open-Access-Zeitschriften, für die weder Abo- noch Autorengebühren anfallen. Finanziert wird die Plattform über Beiträge von Bibliotheken und Forschungsförderungsinstitutionen. Auch an der Universität Innsbruck gibt es über den universitätseigenen Verlag Innsbruck University Press ein ähnliches Angebot für Wissenschaftler*innen, Zeitschriften und Monographien Open Access und ohne Gebühren zu veröffentlichen. Das ist ein Weg, den wir konsequent weiterverfolgen sollten.

Sie befassen sich intensiv mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Kann die Wikipedia als das große Vorbild in punkto transparenter und offener Generierung und Zugänglichkeit von Wissen gesehen werden, oder ist sie im Gegenteil sogar schon zu offen organisiert?

Als Wikipedia gegründet wurde, gab es die ersten Jahre ständig die Diskussion, wie glaubwürdig dieses Wikipedia-Wissen ist oder sein kann. Schließlich könne ja jeder und jede da einfach alles reinschreiben.

Heute, gut 20 Jahre nach der Gründung, ist die Wikipedia eine gemeinnützige Wissensoase in einem ansonsten von kommerziellen Plattformen dominierten Internet, wo Desinformation und Verschwörungsmythen fast ungehinderte Verbreitung erfahren.

Wie schafft es Wikipedia trotz der großen Offenheit für Beiträge, verlässliches und aktuelles Wissen bereit zu stellen? Entscheidend dafür ist wohl, dass Wikipedia eben von Anfang an lernen musste, mit großer Offenheit und damit Manipulationsversuchen umzugehen. Ein Ansatz ist war und ist hier radikale Transparenz, jede Änderung wird dokumentiert und bleibt dauerhaft nachvollzieh- und nachprüfbar. Auf diese Weise wird auch deutlich, dass und wie ausverhandelt wird, was als Wissen gilt. Ausverhandelt, aber nicht abgestimmt und nie endgültig entschieden. Wahrheitssuche ist ein unendlicher, kollektiver Prozess. Das für alle sichtbar zu dokumentieren, ist vielleicht einer der größten Verdienste der Wikipedia.

Außerdem sind über die Jahre zahlreiche Regeln und Softwarewerkzeuge entstanden, die es den freiwilligen Wikipedia-Autor:innen erleichtern, Manipulationsversuche zu entdecken und zu bekämpfen. Wer zum Beispiel heute einen Wikipedia-Artikel aufruft, sieht oft gar nicht die allerletzten Änderungen, sondern nur solche, die von erfahrenen Wikipedianer:innen gesichtet wurden.

Ironischerweise ist deshalb heute das Problem der Wikipedia nicht mehr, dass jeder und jede alles reinschreiben darf, sondern dass es gar nicht so einfach ist, einen Artikel oder größere Änderungen in der Wikipedia unterzubringen. Einerseits weil die Regeln so kompliziert geworden sind, dass sich Neulinge immer schwieriger in der Wikipedia zurecht finden. Andererseits, weil die radikale Offenheit es fast unmöglich macht, Menschen von der Mitarbeit auszuschließen, die zum Beispiel mit belästigendem Verhalten andere, zum Beispiel weibliche, potentielle Beitragende zu vertreiben.

Diese Offenheit für exkludierende Verhaltensweisen ist die Kehrseite von Wikipedias radikaler Offenheit, die einer inklusiven und damit vielfältigeren Freiwilligen-Community entgegensteht. Das zeigt nur, dass rein formale Offenheit auch im Internet nicht offen genug ist, sondern es Grenzziehungen braucht, nicht nur hinsichtlich dessen, was als enzyklopädisches Wissen gelten soll, sondern auch, was ein akzeptabler Umgangston für Beitragende ist und sein soll. 

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© News-Redaktion der Universität Innsbruck 2022

Mit Beiträgen von:
Melanie Bartos, Stefan Hohenwarter, Lisa Maria Marchl, Fabian Oswald, Miriam Sorko

Fotocredit, wenn nicht anders angegeben:
Universität Innsbruck

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