Verena Schröder erhielt ihre Auszeichnung für ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Mensch-Wolf-Beziehungen in der alpinen Kulturlandschaft. Transaktionen, Intraaktionen und Resonanzen: Eine mehr-als-menschliche Geographie des Verbundenseins“, in der sie die vielschichtigen Beziehungen zwischen Menschen und Wölfen in der Schweiz untersucht.
Eine neue Perspektive auf das Zusammenleben von Mensch und Tier
Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, wie Menschen und Wölfe in der alpinen Kulturlandschaft koexistieren – nicht als voneinander getrennte Wesen, sondern als Entitäten, die sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Schröder beschreibt diese Koexistenz als leibliche Praxis: Spuren, Geräusche, Gerüche und Bewegungen werden zu Ausdrucksformen einer wechselseitigen Beziehung: „Wölfe agieren nicht losgelöst von Menschen, sondern werden durch deren Praktiken transformiert. Ebenso verändern die Tiere die Menschen und deren Wahrnehmungen und Emotionen, sodass niemand in den betroffenen Regionen von den Tieren unberührt bleibt“, erläutert die Forscherin.
Die Erforschung dieser schwer greifbaren Verflechtungen ist herausfordernd aber weitreichend relevant. Denn sind gerade diese viszeralen Aspekte und nonverbalen Erfahrungen – das Sehen von Wolfsspuren, das Spüren der Anwesenheit der Tiere durch ein verändertes Verhalten von Herdenschutzhunden, oder das Irritiert- oder Affiziertsein bei plötzlichen Begegnungen – zentral für die Aushandlungen über das Leben und den Tod der Tiere. Ebenso gehen aus ihnen neue Materialitäten, Territorialisierungen und (Im)Mobilitäten hervor.
Theorien der Verflechtung und innovatives Forschungsdesign
Zur Analyse dieser Mensch-Tier-Beziehungen stützt Verena Schröder sich auf den klassischen Pragmatismus von John Dewey, den agentiellen Realismus von Karen Barad und die Resonanztheorie von Hartmut Rosa. Ein besonderes Augenmerk legt die Wissenschaftlerin auch auf neue, methodische Herangehensweisen, die sich aus einer anthropozentrismuskritischen Perspektive ergeben. Neben Interviews in Form von Go-Alongs und tierzentrierter Geschichtenerzählung kamen multisensorische und visuelle Methoden zum Einsatz. Die Geographin entwickelte unter anderem einen kollaborativen Comic, der mehr-als-menschliche Narrative anschaulich macht und die emotionale Qualität ihrer Forschung unmittelbar erfahrbar werden lässt. Dieser Comic wurde als multisensorisches Erlebnis mit Klanguntermalung im Rahmen einer Ausstellung zum Thema Kohabitation einem breiten Publikum präsentiert.
In der Laudatio von Prof. Boris Braun, dem Vorsitzenden des VGDH heißt es:
„Die Studie der Preisträgerin ist in vielerlei Hinsicht innovativ. Frau Schröder bewegt sich theoretisch wie methodologisch-methodisch auf einem ausgesprochen hohen Niveau. Sie führt mehrere anspruchsvolle Theorieentwürfe zu einem plausiblen konzeptionellen Dreiklang zusammen, der für den Bereich des New Materialism, insbesondere für die Forschung im Schnittfeld von Gesellschaft und Umwelt, ausgesprochen weiterführend ist. Damit lässt sie es aber nicht bewenden, sondern sie führt ihre theoretischen Überlegungen in ein anspruchsvolles Forschungsdesign weiter, und auch hier entwickelt sie neben teilweise bewährten Formen der Feldforschung eigene innovative Arbeitsweisen der Datengewinnung, der Interpretation und der Dokumentation. Anspruchsvolle theoretische Entwürfe bleiben dabei kein schmückendes Fundament oder Beiwerk, sondern strukturieren die Interpretationen der Daten in kraftvoller Weise und eröffnen damit neue Perspektiven auf das komplexe Spannungsfeld von Gesellschaft und Umwelt am Beispiel der wiedereingewanderten Wölfe und ihren Beziehungen zu den Menschen.“
Eine Geographie des Verbundenseins
Im Fazit ihrer Arbeit betont Schröder, dass Koexistenz verstanden als leibliche Praxis aufzeigt, wie tief gesellschaftliche Umweltkonflikte in sinnlich-emotionalen Erfahrungen wie Kontrollverlust, Entfremdung von Welt oder fehlender gesellschaftlicher Wertschätzung von Interessengruppen verwurzelt sind. Mit ihrer Konzeption einer „mehr-als-menschlichen Geographie des Verbundenseins“ gibt die Forscherin Denkanstöße für eine neue Form des Miteinanders zwischen Menschen, Wölfen und anderen Lebensformen, die auf Verbindung statt auf Kontrolle basiert. Wölfe bleiben in dieser Konzeption unbestimmt und unverfügbar – und gerade in dieser Offenheit gegenüber dem Anderen und Fremden, liegt, so die Forscherin, das Potenzial, Lebendigkeit und Selbstwirksamkeit zu erfahren.
Basierend auf Ansätzen des klassischen Pragmatismus, des agentiellen Realismus und der Resonanztheorie identifiziert die inzwischen als Buch veröffentlichte Studie die Koexistenz von Menschen und Wölfen als leibliche Praxis, die beide Seiten wechselseitig hervorbringt.

