Ein SW-Foto von mehreren Menschen, die auf einer Demonstration in einer Reihe gehen.

Bild von der Montagsdemo am 8. Januar 1990 in Leipzig. (Foto: Andreas Krüger, CC BY-NC-ND 2.0)

Pro­test: Netz­werk als Erfolgs­fak­tor

In vielen Ländern ist aktuell die Zunahme autoritärer Tendenzen zu beobachten. Dagegen regt sich vielerorts Widerstand. Über Wege, wie soziale Bewegungen gegen ein autoritäres Regime erfolgreich sein können, spricht der Ökonom Johannes Buggle im Interview.

In der autokratisch geführten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurden alle Medien vom Staat kontrolliert, private Telefonanschlüsse gab es kaum. Wie sich die Protestbewegung 1989 kurz vor Wende und Wiedervereinigung dennoch rasant über ganz Ostdeutschland ausbreiten konnte und welche Rolle evangelische Pastor:innen dabei spielten, hat der Ökonom Johannes Buggle gemeinsam mit Max Deter und Martin Lange in einer aktuellen Forschungsarbeit untersucht.

Netzwerk des Protests

Welche Faktoren waren entscheidend für den Erfolg der Protestbewegung 1989 in Ostdeutschland? Zu welchen Ergebnissen sind Sie in Ihrer Studie gekommen?

Johannes Buggle: Unsere Studie zeigt, dass evangelische Pastor:innen eine wichtige Rolle für die rasche und flächendeckende Ausbreitung der Proteste spielten. Sie waren eingebunden in einem dichten persönlichen Netzwerk, das durch gemeinsame Ausbildungsstätten und frühere Wirkungsorte entstand, und gesellschaftlich tief verankerte Autoritätsfiguren. In einem Umfeld ohne freie Medien und mit begrenztem Zugang zu Telefonen oder Mobilität waren solche Netzwerke von lokalen Persönlichkeiten entscheidend, um Informationen über Protestereignisse und deren Ablauf zu verbreiten. Diese Netzwerkverbindungen waren insbesondere dort wichtig, wo die Menschen unzufrieden mit dem Regime waren. Wir schätzen, dass es ohne diese Netzwerke ca. 30% weniger Proteste im Herbst 1989 gegeben hätte.

Welche Schlüsse lassen sich daraus für soziale Bewegungen in autokratisch geführten Ländern ableiten?

Buggle: Eine wichtige Lehre ist, dass erfolgreiche Protestbewegungen auf Personen angewiesen sind, die in ihren lokalen Gemeinschaften als glaubwürdig und integer wahrgenommen werden. In Ostdeutschland waren das oft die evangelischen Pastor:innen – in anderen Kontexten können es Lehrer:innen, Künstler:innen oder zivilgesellschaftliche Akteur:innen sein. Dazu kommt, dass wenn klassische Kommunikationskanäle unterdrückt oder überwacht werden, bestehende persönliche Netzwerke an Bedeutung gewinnen. Gerade religiöse oder zivilgesellschaftliche Institutionen können in solchen Kontexten als Rückzugsräume dienen, in denen Vertrauen besteht, welches essenziell für kollektives Handeln ist. Nicht ohne Grund versuchen deswegen Diktatoren auf der ganzen Welt solche zivilgesellschaftlichen Verbindungen zu unterdrücken.

Im Vergleich zum Ostdeutschland der 1980er-Jahre hat sich die Medienwelt durch das Internet stark gewandelt. Heute dominieren Social-Media-Plattformen den Medienkonsum. Welche Rolle spielen persönliche Kontakte für den Erfolg einer Protestbewegung?

Buggle: Das ist schwierig abzuschätzen. In der Tat bieten digitale Medien heute große Chancen zur Informationsverbreitung und zur Koordination. Einige Forschungsergebnisse zeigen, dass der Zugang zu Social Media auch zur Verbreitung von Protestbewegungen in Ländern wie Russland oder China führte. Gleichzeitig sind digitale Kontakte aber auch anonymer und anfällig für Überwachung, Zensur oder Desinformation. Meiner Meinung behalten deswegen persönliche Kontakte weiterhin Bedeutung. Sie schaffen Verbindlichkeit, Vertrauen und ermöglichen es, auch unter dem Radar staatlicher Kontrolle zu agieren. Heute könnten in bestimmten Kontexten auch digitale Influencer:innen eine ähnliche Funktion übernehmen wie Pastor:innen in der DDR – als Menschen, die in ihrer Community Vertrauen genießen, Orientierung bieten und mobilisieren können.

In den USA fehlt es aktuell im Protest gegen Präsident Trump an einer Leitfigur oder auch gemeinsamen Zielen. Sie haben selbst bereits in den USA geforscht, erkennen Sie Netzwerke, über die sich dort eine Protestbewegung organisieren könnte?

Buggle: In den USA existieren grundsätzlich viele zivilgesellschaftliche Strukturen wie Kirchen, Nachbarschaftsinitiativen, Studierendengruppen und lokale Vereinigungen. Das Potenzial für Vernetzung ist da, aber nicht mehr so stark in der Gesellschaft verankert wie früher. Robert Putnam hat in „Bowling Alone“ bereits Anfang der 2000er-Jahre beschrieben, wie Menschen sich zunehmend isolieren und das soziale Kapital in den USA über Jahrzehnte hinweg erodiert ist. Somit fehlen genau das Vertrauen, die Netzwerke und die Normen gegenseitiger Unterstützung, die kollektives Handeln ermöglichen. Dieses soziale Kapital ist aber entscheidend für den Aufbau wirksamen zivilgesellschaftlichen Protests. Um dieses Potential zu aktivieren braucht es vermutlich gar nicht unbedingt eine charismatische Leitfigur, sondern eine Vielzahl von lokalen Führungspersönlichkeiten.

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Johannes Buggle ist seit kurzem Assistenzprofessor am Institut für Finanzwissenschaft der Universität Innsbruck. Er studierte in Konstanz, Paris und Barcelona, war Postdoc am HEC in Lausanne und Assistenzprofessor an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftsgeschichte. Er untersucht historische Episoden und nutzt ökonometrische Methoden, um politische Ökonomie, langfristige Wirtschaftsentwicklung und Migration besser zu verstehen und daraus Impulse für die heutige Welt abzuleiten.

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