In den Alpentälern ist der Boden nicht nur knapp, sondern auch umkämpft. Landwirtschaft, Tourismus, Siedlungsentwicklung, Verkehr und Energieproduktion konkurrieren um begrenzte Flächen. Mit den Folgen des Klimawandels, wie zunehmenden Starkregenereignissen oder längere Hitze- und Trockenperioden, nehmen diese Nutzungskonflikte weiter zu: Naturgefahren müssen neu bewertet, Frischluftkorridore offengehalten werden und Gewässer brauchen Retentionsflächen. Zudem werden Konzepte für die Errichtung von Anlagen zur Produktion erneuerbarer Energien, wie Photovoltaikanlagen oder Windräder, in Siedlungsräumen oder bereits touristisch oder landwirtschaftlich genutzten Landschaften benötigt. Auch die Europäische Union reagiert auf die anhaltende Versiegelung von Grund und Boden: Bis 2050 soll der Bodenverbrauch in der Union durch die Schaffung von Ausgleichsflächen auf Netto-Null reduziert werden. Das heißt: Wer versiegelt, muss der Natur wieder etwas Gleichwertiges zurückgeben. Konflikte zwischen den unterschiedlichen Interessen von Gemeinden, Wirtschaft und Bürger:innen bleiben dabei nicht aus.
Leitfaden entwickeln
Genau diese Herausforderungen stehen im Mittelpunkt eines aktuellen Projekts am Institut für Gestaltung an der Fakultät für Architektur der Uni Innsbruck. Unter der Leitung von Andreas Flora (Arbeitsbereich Gestaltung 1) erforscht ein Team im Rahmen des transnationalen Projekts BrokeringSpaces, das durch das Interreg Alpine Space Programm der Europäischen Union finanziell unterstützt wird, wie sich Konflikte um Raum und Bodennutzung in den Alpen sichtbar, verstehbar und – im besten Fall – auch für einen nachhaltigen Erhalt und eine positive Entwicklung des Alpenraums lösen lassen. Dazu vergleichen sie die Wirksamkeit bestehender Instrumente aus Raumplanung und Baugesetzgebung staatenübergreifend, um voneinander zu lernen und in Kooperation mit lokalen Interessensvertretern Lösungen zu entwickeln, die unter den speziellen Anforderungen des Alpenraums funktionieren. „Wie in vielen anderen Bereichen braucht es in den Verhandlungen zur Raumnutzung einen Kulturwandel. Unser Projekt will dazu in den Austausch gehen. Wenn andere die gleichen Probleme haben, kommt man mit einer gemeinsamen Suche nach Lösungen meist schneller zum Ziel als allein“, erklärt Andreas Flora, Projektleiter am Institut für Gestaltung der Uni Innsbruck. „Es geht uns nicht nur darum, welche Flächen wofür genutzt werden“, sagt Alexander Gogl, Projektmitarbeiter und ebenfalls am Institut für Gestaltung tätig, „sondern darum, wie wir mit Konflikten umgehen, die sich nicht auflösen lassen – sondern verhandelt werden müssen.“ Der Boden ist dabei nicht einfach Ressource oder neutrale Fläche, sondern ein sozialer, politischer und ökologischer Raum.
Regionaler Vergleich
Um zu verstehen, wie mit diesen Raumnutzungskonflikten umgegangen wird, nimmt das Projekt-Team unterschiedliche Steuerungs- und Kompensationsinstrumente im Alpenraum unter die Lupe. Die Bayerische Kompensationsverordnung (BayKompV) ist eines dieser Instrumente: Sie regelt detailliert, wie Eingriffe in Natur und Landschaft durch Ausgleichsmaßnahmen kompensiert werden müssen. Dabei werden Biotopwerte errechnet, Maßnahmen in Ökokonten verbucht und Flächen bilanziert. Laut Alexander Gogl ist diese Verordnung nur ein Beispiel unter vielen und nützlich, weil sie sichtbar macht, wie technokratisch und standardisiert unsere Antworten auf komplexe räumliche Fragen oft ausfallen.
Auch andere Regionen in den Alpen – zum Beispiel die Schweiz, Südtirol, Tirol oder die französischen Alpen – haben eigene Modelle entwickelt. Manche gelten nur für bestimmte Projekte, andere wirken langfristig. Doch oft fehlt dabei der qualitative Blick auf die Gestaltung des Raums und der Landschaft, die diese so lebenswert macht. Und noch seltener wird Raum als etwas verstanden, das immer auch umstritten ist – etwas, das sowohl geplant als auch ausgehandelt werden muss.
Modellfunktion
Hier setzt die Arbeit des Innsbrucker Projektteams an. Die Forscher:innen bringen architektonisches und landschaftliches Denken zusammen, um neue Perspektiven auf die Nutzung und Gestaltung von Flächen zu entwickeln. „Wir wollen keine neuen Regeln schreiben“, erklärt Andreas Flora, „sondern zeigen, wo und wie bestehende Regeln an gestalterische Grenzen stoßen – und wie man dort neue Räume des Denkens öffnen kann.“ Flora betont aber, dass das Projekt keine Top-Down-Lösungen vorschlagen will: „Uns geht es darum, dass die einzelnen Stakeholder:innen zu Wort kommen und selbst an Lösungskonzepten mitarbeiten.“ Um dies zu gewährleisten, werden verschiedene Modellregionen im Alpenraum ausgewählt, die von den einzelnen regionalen Projektpartner:innen betreut werden. „Mit Interviews – die wir anhand eines definierten Leitfadens in den Pilotregionen führen werden – wollen wir herausfinden, wie das Bewusstsein für Raumnutzungskonflikte ist“, erklärt Alexander Gogl. „Hierbei wollen wir gezielt darauf eingehen, wie es um den Bodenverbrauch und die Ortsentwicklung steht, wie mit Leerständen und Freiflächen umgegangen wird und welches historische Wissen im Hinblick auf Naturgefahren gegeben ist. Und natürlich spielt auch die im Ort wirksame Gesetzgebung eine Rolle.“
Zudem wollen die Wissenschaflter:innen neben aktuellen Daten auch historische Quellen nutzen. „Das Problem der Raumknappheit ist auch ein historisches. Schon früher gab es besondere Gunstlagen, die eher für die Landwirtschaft verwendet wurden, und es galt, Naturgefahren auszuweichen. Es könnte also durchaus hilfreich sein, zu schauen, wie unsere Vorfahren mit diesen Problemen umgegangen sind“, sagt Andreas Flora. Wobei auch die Unterschiede zwischen den aus unterschiedlichen Kulturmustern hervorgegangenen Siedlungsformen, wie Streu- und Einzelhofsiedlungen oder geschlossene Dorfanlagen, in die Analysen der Wissenschaftler:innen einfließen sollen.
Insgesamt wollen die Wissenschaftler:innen mit dem Projekt einen konstruktiven Wandel einleiten. Die Transformationsprozesse und Leitlinien, die im Rahmen des Projekts erarbeitet werden, sollen auch auf Regionen außerhalb des Alpenraums übertragbar sein. „Auch wenn es ein Nachteil des Alpenraums ist, dass es diese Raumknappheit gibt, kann dieser auch die Chance bieten, eine Modellfunktion für andere Gebiete in Europa zu übernehmen, die diese Raumverknappung noch nicht haben, im Zuge der Folgen der Klimakatastrophe aber haben werden“, so Alexander Gogl und Andreas Flora.
Das Projekt BrokeringSpaces wird im Rahmen des Interreg Alpine Space Programms der Europäischen Union finanziell unterstützt und läuft noch bis Ende 2026. Geleitet wird das Projekt vom Salzburger Institut für Raumordnung und Wohnen. Projektpartner sind neben dem Arbeitsbereich Gestaltung 1 des Instituts für Gestaltung der Uni Innsbruck die österreichische Bundeskammer für Ziviltechniker:innen, der Südtiroler Verband Plattform Land, das deutsche Gemeindenetzwerk Allianz in den Alpen, die slowenische Land- und Forstwirtschaftskammer sowie die Schweizer Stiftung Pro Terra Engiadina.
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe unseres Magazins wissenswert erschienen. Eine digitale Version finden Sie hier.