23. Juli 2025: An diesem Tag veröffentliche der Internationale Gerichtshof (IGH) in den Haag, das Gutachten, das dem Klimaschutz den Stellenwert eines Menschenrechts einräumt. Es ist ein Meilenstein im Völkerrecht und das erste Mal, dass sich der IGH so umfassend zur Klimakrise äußert. Doch was verändert ein solches Gutachten an der derzeitigen rechtlichen Handhabung von Klimafragen und -klagen? Werner Schroeder, Leiter des Instituts für Europarecht und Völkerrecht, ordnet das Gutachten aus rechtlicher Sicht ein und betont: „Dieses Klimagutachten besitzt – insbesondere auf Grund der Beteiligung von 96 Staaten und elf Internationalen Organisationen im vorausgehenden Verfahren – ein besonderes Gewicht und wird sowohl rechtlich als auch politisch einen hohen Druck auf Staaten erwirken.“
Welche rechtliche Bedeutung hat ein Gutachten des IGH im Völkerrecht – und was unterscheidet es von einem Urteil?
Univ.-Prof. Dr. Werner Schroeder: Ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ist – anders als ein Urteil, das in einem Rechtsstreit zwischen zwei Staaten vor dem Gerichtshof ergeht – nicht verbindlich. Es handelt sich um eine rechtliche Einschätzung, die der IGH auf Antrag eines Organs der Vereinten Nationen oder einer Organisation, die zum System der UNO gehört, wie z.B. die WHO, erlassen kann. Das Klimagutachten ist auf Antrag der UN-Generalversammlung ergangen.
Auch wenn es keine rechtsverbindliche Wirkung hat, so besitzt ein solches Gutachten doch ein hohes rechtliches und politisches Gewicht. Der IGH wird als der „Weltgerichtshof“ betrachtet und ist die rechtliche Autorität auf dem Gebiet des Völkerrechts. Auf seine Feststellungen zum geltenden Völkerrecht, auch wenn sie rechtlich nicht verbindlich sind, berufen sich regelmäßig nicht nur Staaten, sondern auch andere internationale Tribunale und nationale Höchst- und Verfassungsgerichte. Das ist auch für das Klimagutachten zu erwarten, das vom IGH einstimmig erlassen wurde.
An dem Verfahren, das dem Gutachten vorausging, haben sich 96 Staaten und elf Internationale Organisationen beteiligt, so viel wie nie – wobei Österreich leider die Chance zur Mitwirkung verpasst hat. Diese umfassende Beteiligung spricht dafür, dass das Klimagutachten ein besonderes Gewicht besitzt und auch rechtspolitisch erheblichen Druck auf die Staaten erwirken wird.
Welche Menschenrechte sind laut Gutachten durch mangelnden Klimaschutz besonders gefährdet?
Werner Schroeder: Es steht fest, dass der Klimawandel Gesundheitsrisiken verschärft: Luftverschmutzung und Wassermangel, Hitzestress sowie neue Infektionskrankheiten gefährden insbesondere vulnerable Gruppen wie Kinder, alte und kranke Menschen.
Im Gutachten unterstreicht der IGH, dass ein guter Umweltzustand elementar für die Menschenrechte auf Leben und Gesundheit sowie auf einen angemessenen Lebensstandard sind. Zugleich erkennt er erstmals ein eigenes Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt („right to a clean, healthy and sustainable environment“) an.
Dieses Menschenrecht betrachtet der Gerichtshof zugleich als Voraussetzung für die volle Realisierung aller anderen Menschenrechte. Ein gesundes Klima ist also nicht nur ein Umweltstandard, sondern ein völkerrechtsverbindliches Menschenrecht, auf das sich Betroffene vor zuständigen Gerichten berufen werden können.
Außerdem verweist der IGH darauf, dass Klimaflüchtlinge internationalen Schutz vor Zurückweisung genießen, wenn Klimafolgen Menschen zwingen, ihren Lebensraum zu verlassen und in andere Staaten zu flüchten.
Inwiefern stützt sich der Internationale Gerichtshof in dem Gutachten auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel?
Werner Schroeder: Der Gerichtshof stellt dem Gutachten einen ausführlichen Abschnitt voran, der die Relevanz der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel erklärt und beruft sich in seinen rechtlichen Schlussfolgerungen auf die Feststellungen des International Panel on Climate Change (IPCC).
So zitiert der IGH das IPCC wie folgt: „Menschliche Aktivitäten, vor allem durch den Ausstoß von Treibhausgasen, haben eindeutig zur globalen Erwärmung geführt, wobei die globale Oberflächentemperatur im Zeitraum 2011–2020 um 1,1 °C über dem Wert von 1850–1900 lag.“ Weiter heißt es: „Jeder Anstieg der globalen Erwärmung wird mehrere und gleichzeitige Gefahren verstärken. Eine tiefgreifende, schnelle und nachhaltige Reduzierung der Treibhausgasemissionen würde innerhalb von etwa zwei Jahrzehnten zu einer erkennbaren Verlangsamung der globalen Erwärmung und innerhalb weniger Jahre zu erkennbaren Veränderungen der Zusammensetzung der Atmosphäre führen.“
Die Vereinbarung des 1,5-Grad-Zieles zur Verlangsamung der Klimaerwärmung wird in dem Gutachten als wissenschaftsbasierter internationaler Konsens festgelegt, woran sich Staaten rechtlich zu halten haben.
Was bedeutet das Gutachten konkret für einzelne Staaten?
Werner Schroeder: Das IGH-Gutachten hat weitreichende Konsequenzen: Alle Staaten müssen Maßnahmen ergreifen, um eine Verletzung von Menschenrechten durch unzureichenden Klimaschutz zu verhindern. Zugleich gilt es, präventiv gegen erhebliche Schäden an der Umwelt vorzugehen, die durch den Klimawandel entstehen. Gegebenenfalls sind Staaten auch verpflichtet, auch entstandene Schäden durch Leisten von Schadenersatz an betroffene Staaten wieder gutzumachen.
Voraussetzung für eine solche Verantwortung der Staaten ist jedoch, dass sie insoweit bestehende Sorgfaltspflichten verletzen. Der IGH stellt klar, dass nicht bereits die Emission von Treibhausgasen durch die Staaten an sich völkerrechtswidrig ist, sondern nur die Verletzung der sogenannten „due diligence“-Pflichten: Sorgfaltswidrig ist etwa, wenn die Staaten im Widerspruch zum im Pariser Klimaabkommen von 2015 vereinbarten 1,5-Grad-Ziel keine robusten Klimapläne umsetzen oder den CO2-Ausstoß von privaten Akteuren völlig unzureichend regulieren. Diesen Umstand hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem bahnbrechenden „Klimaseniorinnen“-Urteil von 2024 am Beispiel der Schweiz festgestellt.
Der IGH lässt dabei den – auch in Österreich gerne verwendeten – Einwand, einzelne Staaten hätten keinen Einfluss auf den Klimawandel, weil ihr eigener Beitrag hierfür viel zu gering sei, nicht gelten. Jeder Staat trage zum Klimawandel bei und der individuelle Beitrag lasse sich auch wissenschaftlich ermitteln und den einzelnen Staaten zurechnen. Die Staaten des globalen Nordens, d.h. die Industrieländer, haben aufgrund ihrer größeren wirtschaftlichen und technologischen Kapazitäten gesteigerte Sorgfaltspflichten, ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. Sie sollen auch Ressourcen bereitstellen, um den globalen Süden bei der Anpassung an den Klimawandel zu unterstützen, beispielsweise stärker in dortige Klimaschutzprojekte investieren.
Zwei Richter:innen des IGH hatten in Sondervoten gefordert, der Gerichtshof hätte noch stärker auf Fragen der Klimagerechtigkeit eingehen müssen. Das Gutachten bleibt in dieser Hinsicht etwas vage, ebenso wie in Bezug auf die Verpflichtungen gegenüber besonders betroffenen Staaten, wie den pazifischen Inselstaaten, die vom steigenden Meeresspiegel in ihrer Existenz bedroht sind.
Können sich künftig Gerichte oder nationale Verfassungsgerichte bei Klimaklagen auf dieses Gutachten berufen?
Werner Schroeder: Das IGH-Gutachten kann und wird – auch wenn es nicht rechtlich bindend ist – in Klimaklagen, die Umweltaktivist:innen und NGOs vor nationalen Gerichten gegen Staaten erheben, künftig eine wichtige Rolle spielen. Es betont explizit die rechtliche Pflicht der Staaten, Maßnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen, um die Menschenrechte zu schützen. Es kann daher als Argumentationshilfe in nationalen Gerichtsverfahren verwendet werden, denn in den meisten Staaten sind solche Menschenrechte direkt anwendbar oder beeinflussen jedenfalls – so zumindest in Österreich – die Auslegung des nationalen Rechts. Viele nationale Verfassungsgerichte, z.B. in Deutschland das BVerfG, haben bereits die Verfassungsmäßigkeit von Klimaschutzgesetzen geprüft, und das IGH-Gutachten wird ihnen künftig als zusätzlicher Referenzpunkt dienen.
Außerdem verbessern die Feststellungen des IGH die Chancen von einzelnen Personen, die Klimaschutzpflichten der Staaten direkt vor Menschenrechtstribunalen auf regionaler Ebene, wie vor dem EGMR, oder auf globaler Ebene, wie vor den UN-Menschenrechtgremien durchzusetzen. So liegt es nicht fern, dass der EGMR in Straßburg unter Bezugnahme auf das IGH-Gutachten aus der EMRK ein Grundrecht auf eine gesunde und saubere Umwelt herleitet, das auch vor österreichischen Gerichten als Verfassungsrecht durchsetzbar wäre.
Könnte das Gutachten den Weg für ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen zum Recht auf Klimaschutz ebnen?
Werner Schroeder: Das IGH-Gutachten bereitet zweifellos den Weg für weitere umfassende Bemühungen zum Klimaschutz und bietet auch eine Hilfestellung in Richtung eines völkerrechtlich verbindlichen Abkommens zum Recht auf Klimaschutz. Es könnte als rechtlicher Referenzpunkt für die Definition eines universellen Rechts auf Klimaschutz dienen, das z.B. in die UN-Menschenrechtsverträge aufgenommen werden und mit gerichtlichen Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen verknüpft werden könnte. Ob es dazu allerdings kommt, ist zu bezweifeln, weil die meisten Staaten in letzter Zeit generell wenig Bereitschaft gezeigt haben, die vertraglichen Grundlagen der Menschenrechte zu stärken und sich dadurch stärker rechtlich zu binden.
Eine weitere vertragliche Festschreibung eines Rechts auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt wäre allerdings auch gar nicht unbedingt notwendig, weil internationale Gerichte mit Hilfe des IGH-Gutachtens auch aus den bestehenden Menschenrechtsverträgen ein solches Recht ableiten könnten. Entsprechend sind die UN-Menschenrechtsgremien beim Menschenrecht auf Wasser vorgegangen, das sie aus dem Recht auf Leben und auf Gesundheit hergeleitet haben.

