Blick auf den Mondsee, im Vordergrund das Forschungsinstitut

Einige der kultivierten Organismen stammen aus Proben vom Mondsee.

Hun­derte Süß­was­ser­mi­kro­ben kul­ti­viert

Eine aktuelle Studie in Nature Communications markiert einen wichtigen Durchbruch in der Mikrobiologie: Forschende haben erstmals eine umfangreiche Sammlung bislang nicht kultivierter Süßwasserbakterien erfolgreich im Labor vermehrt. Diese Organismen sind in der Natur weit verbreitet, fehlen jedoch bislang weitgehend in entsprechenden Sammlungen.

Bislang konzentrierten sich die meisten Bemühungen zur Kultivierung von Mikroorganismen auf schnell wachsende Organismen, die in nährstoffreichen Medien wachsen. Dadurch blieben viele der am häufigsten vorkommenden aquatischen Mikroorganismen, langsam wachsende Oligotrophen, die an nährstoffarme Bedingungen angepasst sind, weitgehend unerforscht. Ein internationales Team um Michaela Salcher vom Biologiezentrum der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und Bettina Sonntag vom Forschungsinstitut für Limnologie, Mondsee hat diese Lücke nun geschlossen, indem sie erfolgreich 627 Reinstämme von 72 Gattungen aus 14 mitteleuropäischen Seen kultiviert hat.

Das Unkultivierte kultivieren

Das Team verwendete einen Hochdurchsatz-Verdünnungsansatz mit speziell entwickelten Medien, die natürliches Seewasser mit niedrigen Nährstoffkonzentrationen nachahmen und das Wachstum von Oligotrophen unterstützen, während ein Überwachsen durch schnell wachsende Konkurrenten vermieden wird. Diese Methode führte zu einer reichen Vielfalt an kultivierten Mikroben, darunter Stämme aus 15 der 30 häufigsten Süßwasserbakteriengattungen, die bis zu 72 % der in Umweltproben nachgewiesenen Gattungen (durchschnittlich 40 %) ausmachen und wichtige, in globalen Süßwassersystemen weit verbreitete Abstammungslinien umfassen.

Mondsee (links) und Attersee (rechts)

Mondsee (links) und Attersee (rechts) vom Gipfel des Schafbergs aus gesehen, zwei der Seen, aus denen viele neue Mikroben isoliert wurden.

Die neu eingerichtete Kultursammlung umfasst viele bisher nicht kultivierte Taxa aus klassischen Süßwasserphyla (z. B. Actinomycetota, Pseudomonadota, Verrucomicrobiota, Bacteroidota) sowie den ersten frei lebenden Süßwasservertreter der Armatimonadota. Unter den kultivierten Stämmen befinden sich viele der am häufigsten vorkommenden Süßwasserbakteriengattungen, darunter Vertreter der Süßwasser-SAR11-Gattung Fontibacterium, der methylotrophe Methylopumilus und Süßwasserspezialisten wie Planktophila. Diese Taxa sind in öffentlichen Repositorien aufgrund ihres langsamen und instabilen Wachstums und ihrer unbekannten Wachstumsanforderungen bekanntermaßen unterrepräsentiert.

Die metagenomische Sequenzierung derselben Seeproben ergab, dass die kultivierten Stämme weitgehend mit den aus Metagenomen assemblierten Genomen (MAGs) übereinstimmen, was die Relevanz der Kulturen für natürliche mikrobielle Gemeinschaften bestätigt. Die Forscher analysierten außerdem über 460 öffentlich zugängliche Süßwasser-Metagenome aus sechs Kontinenten und bestätigten, dass viele dieser Taxa weltweit verbreitet sind.

Genomische Neuheit und metabolische Erkenntnisse

Die Gesamtgenomsequenzierung von 87 der kultivierten Stämme ergab zwei neue Familien, neun neue Gattungen und 41 neue Arten. Die sequenzierten Genome liefern Einblicke in ökologische Anpassungen: Kleine Genomgrößen, die zu Energieeinsparungen und einer verringerten metabolischen Flexibilität führen, sind oft bei sehr häufigen Taxa wie Fontibacterium und Planktophila anzutreffen, die an nährstoffarme (oligotrophe) Umgebungen angepasst sind. Stämme nutzen protonenpumpende Rhodopsine oder aerobe anoxygene Phototrophie, um Lichtenergie zu sammeln. Von Schwefel- und Stickstoffstoffwechsel über Vitaminbiosynthese bis hin zum Kohlenhydratabbau deckt die Kultursammlung ein breites Spektrum ökologischer Funktionen ab. Während den meisten Stämmen die Biosynthesewege für mehrere Vitamine wie Cobalamin (Vitamin B₁₂) fehlen, scheinen einige Stämme in der Lage zu sein, die umgebenden Süßwassergemeinschaften mit diesen wichtigen Vitaminen zu versorgen.

Laborutensilien

Links: Vorbereitung für die Isolierung der Bakterien in Behältern, die mit künstlichem Seewassermedium gefüllt sind. Rechts: Teil der Kulturensammlung, die in 15-ml-Röhrchen gezüchtet wurden. 

Sammlung eröffnet neue Möglichkeiten

Die neuen Kulturen schließen eine große Lücke in der Mikrobiologieforschung, indem sie Zugang zu Modellorganismen bieten, die in der Natur reichlich vorhanden sind, aber selten im Labor kultiviert werden. Dies ermöglicht kontrollierte Experimente zur Beantwortung grundlegender ökologischer und evolutionärer Fragen: Wie interagieren diese Mikroben? Was sind ihre Wachstumsgrenzen? Wie könnten sich Umweltveränderungen auf sie auswirken?

Die neue Stammsammlung und die Genome sind öffentlich zugänglich und bieten eine grundlegende Ressource für Forscher, die die Rolle von Mikroorganismen im Kohlenstoff- und Nährstoffkreislauf, für die Wasserqualität, in der Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen und in anderen Bereichen untersuchen.

 

Publikation: Bringing the uncultivated microbial majority of freshwater ecosystems into culture. Salcher MM, Layoun P, Fernandes C, Chiriac M-C, Bulzu P-A, Ghai R, Shabarova T, Lanta V, Callieri C, Sonntag B, Posch T, Lepori F, Znachor P, Haber M. Nature Communications 16:7971. Doi: 10.1038/s41467-025-63266-9

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