Blick über die Kreml-Mauer, im Hintergrund Kirchtürme

Die russisch-orthodoxe Kirche ist zu einer entscheidenden Akteurin und Unterstützerin des Kremls geworden.

Die Rolle der Reli­gion im rus­si­schen „Kulturkrieg“

Die russisch-orthodoxe Kirche versuchte sich in den vergangenen Jahren als internationale Einflussgeberin für moralkonservative Werte zu positionieren, wie die Religionssoziologin Kristina Stoeckl in ihrer Forschungsarbeit zeigt. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine distanzierten sich vorerst auch viele religiös inspirierte Rechtsgruppierungen von Moskau. Noch ist offen, ob sie sich tatsächlich auch langfristig abwenden.

Auf der einen Seite zeigten die vergangenen Jahrzehnte große gesellschaftspolitische Fortschritte, beispielsweise was die Anerkennung von Geschlechteridentitäten oder gleichgeschlechtlichen Verbindungen und Eheschließungen betrifft. Auf der anderen Seite ist seit vielen Jahren ein Erstarken von moralkonservativen, religiös inspirierten Werten zu beobachten. In Teilen der USA ist etwa das Recht auf Abtreibung nicht mehr gegeben, und auch in den EU-Ländern Polen oder Ungarn werden liberale gesellschaftliche Entwicklungen zu Feindbildern erklärt.

Russland nimmt in diesem wachsenden Verbund rückwärtsgewandter Weltsichten, die sich von sogenannten westlichen Werten distanzieren, eine wichtige Rolle ein. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich in dem von Wladimir Putin zunehmend autoritär geführten Land ein reaktionäres, minderheitenfeindliches Gesellschaftsbild etabliert. Das Regime möchte sich als Gegenentwurf zum liberalen Westen positionieren und versucht, seine „traditionellen Werte“ weltweit zu exportieren. In diesem Kontext ist die russisch-orthodoxe Kirche zu einer entscheidenden Akteurin und Unterstützerin des Kremls geworden, indem sie unter anderem über NGOs und verschiedene Lobbying-Aktivitäten international als Meinungsmacherin auftritt.

„Konservativer Norm-Entrepreneur“

Die Religionssoziologin Kristina Stoeckl von der Universität Innsbruck hat, unterstützt durch einen START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF, die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche als „konservativer Norm-Entrepreneur“ innerhalb eines globalen religiös motivierten, moralkonservativen Netzwerks über mehrere Jahre untersucht. Diesen Anspruch gab die Kirche auch nicht auf, als Russland mit dem Angriff auf die Ukraine in eine Diktatur abrutschte. Im Gegenteil: Patriarch Kyrill I. stützt das Narrativ von Machthaber Putin und predigte unter anderem, dass der Krieg dem „Schutz vor den Pride-Paraden“ Homosexueller diene.

„Die Kirchenführung legitimiert den Krieg mit denselben Argumenten, die auch Putin vorbringt. Kyrill I. spricht von schädlichen Einflüssen des Westens und von Nazis, die in der Ukraine an der Macht seien“, erklärt Stoeckl. „Innerhalb der Kirche rumort es zwar. Beispielsweise wurde ein Protestbrief gegen den Krieg veröffentlicht, der von 300 Priestern unterschrieben wurde. Manche haben auch auf der Straße protestiert und wurden eingesperrt. Von ihren Bischöfen wurden sie nicht verteidigt.“

Richtungskampf in der russisch-orthodoxen Kirche

Kyrill I. kam 2009 an die Macht. Die russisch-orthodoxe Kirche war damals in ihrer institutionellen Neuaufstellung nach dem Zerfall der Sowjetunion bereits weit fortgeschritten. „Um 2000 war erstmals das Bestreben bemerkbar, gesellschaftspolitische Akzente zu setzen“, blickt Stoeckl zurück. In den folgenden Jahren war ein Richtungsstreit zwischen drei Gruppierungen wahrzunehmen, wie die Soziologin erklärt: Die eine wollte die Kirche zu einem liberalen Ort der Zivilgesellschaft machen. Ein zweiter, fundamentalistischer Flügel strebte eine vollkommene Abschottung vom Westen und den Errungenschaften der Moderne an. Die dritte Gruppe propagierte ebenfalls ein konservatives Wertekorsett, wollte Russland aber als weltpolitischen Akteur sehen. Kyrill I., der sich schließlich durchsetzte, ist diesen letzteren Traditionalisten zuzurechnen. „Ab 2012, als Putin erneut Präsident wurde, diente die russisch-orthodoxe Kirche als Labor, aus dem der Kreml Ideologien bezog und in Gesetze verpackte“, resümiert Stoeckl.

Die Orthodoxie ist heute zwar Teil eines neuen wertekonservativen kulturellen Selbstverständnisses in Russland geworden. Dennoch bleibt das Land ein im Grunde säkularer Staat, in dem – ähnlich wie im Westen – die Kirche nur in bedingtem Ausmaß tatsächlich gesellschaftliche Werte prägen kann. „Den geringen Einfluss kann man an einem Beispiel gut festmachen: Als moralkonservative Gruppe lehnt die russisch-orthodoxe Kirche sowohl Homosexualität als auch Abtreibung ab. Punkto Homosexualität ist sie im Einklang mit einem großen Teil der Bevölkerung, die ablehnende Haltung war auch bereits in den Sowjetzeiten ähnlich“, erklärt Stoeckl. „Doch Abtreibung war ebenfalls bereits während der Sowjetunion eine gängige Praxis. Hier erzielt die Kirche keine nennenswerten Erfolge bei der Durchsetzung von Verboten. Die Gesetzeslage ist nach wie vor ähnlich jener in Westeuropa – und nicht vergleichbar mit den Verboten in Polen oder in den USA.“

Abspaltung der ukrainischen Kirche

Die Kirche dient also zwar als Ideologie-Lieferant für die Staatsführung, nennenswerter politischer Einfluss im Kreml bleibt ihr aber vorenthalten. Gleichzeitig erwächst dem russischen Patriarchat durch den Ukraine-Krieg ein enormes Problem: „Nachdem sich Kyrill I. gegen die Ukraine gestellt hat, hat die ukrainisch-orthodoxe Kirche nach Kriegsbeginn mit der russischen Kirchenleitung gebrochen“, erklärt Stoeckl. „Das ist für das Patriarchat in Moskau durchaus relevant. Die Kirchengemeinde der Ukraine ist groß, Patriarch Kyrill I. sieht die Ukraine als Teil seines kanonischen Territoriums.“ Noch ist offen, welche Folgen diese Loslösung langfristig haben wird.

Eine weitere aktuelle Frage ist, welche Folgen die Putin-treue Haltung der russisch- orthodoxen Kirche auf ihr weltweites Standing als moralkonservative Einflussgeberin hat. Vor etwa einem Jahrzehnt war eine „religiöse Wende“ bei einer Reihe von Rechtsparteien in Europa – von der italienischen Lega Nord bis zur österreichischen FPÖ – zu beobachten. Einerseits hatte die Einwanderung aus muslimisch geprägten Ländern damit zu tun, andererseits, so betont Stoeckl, gehe es um eine Engführung traditioneller Werte, um sich gegen die liberale Welt zu positionieren. „Hier spielen nun Russland und die russisch-orthodoxe Kirche eine wichtige Rolle. Denn der neue römisch-katholische Papst Franziskus, der seit 2013 im Amt ist, setzte anders als seine beiden moralkonservativen Vorgänger den Schwerpunkt seines Pontifikats auf Themen wie Migration und Armutsbekämpfung. Die daraus entstandene moralkonservative Leerstelle wurde von der Orthodoxie besetzt.“

Der Angriff auf die Ukraine und die darauffolgende Ächtung Russlands hatte zur Folge, dass sich europäische und weltweite Rechtsgruppierungen vom Moskauer „Ideologie-Zentrum“ distanzierten. Noch ist unklar, ob das langfristig auch so bleiben wird. „Zumindest für Russland ist der Krieg in der Ukraine auch einer, der als culture war Wertefragen aufeinanderprallen lässt“, sagt Stoeckl.

Liberale Werte müssen besser kommuniziert werden

Was könnten nun die liberalen westlichen Staaten den illiberalen und vielfach diskriminierenden Tendenzen einer weltweit vernetzten moralkonservativen Szene entgegenstellen? „Besonders wichtig wäre, den eigenen Wertekanon besser zu kommunizieren. Die Nichtdiskriminierungspolitik ist ein Wert für sich, der allen nützt“, betont Stoeckl. „Der Rhetorik der Rechtsparteien, die das Thema verkürzt darstellt und etwa auf die LGBT-Community fokussiert, kann nur so der Wind aus den Segeln genommen werden.“ Gleichzeitig dürfen Konflikte über gesellschaftliche Themen nicht dämonisiert werden. „Debatten zwischen konservativen und liberalen Positionen müssen möglich bleiben. Eine Demokratie muss auf Kompromisse setzen. Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft lässt aber immer weniger Terrain übrig, auf dem sich unterschiedliche Positionen treffen können.“

Zur Person

Kristina Stoeckl ist Professorin am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. Die Religionssoziologin hat am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und war unter anderem Marie-Skłodowska-Curie-Fellow an der Universität Rom Tor Vergata und APART-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Wien. Für ihr Forschungsprojekt zu postsäkularen Konflikten erhielt sie 2015 einen mit knapp 1,2 Millionen Euro dotierten START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF für Nachwuchsforschende sowie den ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrates. Ende 2022 erscheint von Kristina Stoeckl und Dmitry Uzlaner das Buch „The Moralist International. Russia in the Global Culture Wars“, in dem Russlands Rolle als Exporteur moralkonservativer Werte analysiert wird.

(scilog.fwf.ac.at)

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