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Im Rahmen der Refugee-Proteste im Winter 2012 wurde unter anderem die Votivkirche in Wien besetzt, hier ein Foto von Aktivisten aus der Kirche vom 18. Dezember 2012. (Foto: © RefugeeProtestCamp)

Weder Opfer noch Kriminelle

Durch die Flüchtlingskrise ist der öffentliche Fokus wieder verstärkt auf Zuwanderung nach Europa gerichtet: Der Philosoph Andreas Oberprantacher analysiert, wie Menschen, die pauschal als „Illegale“ diskriminiert werden, sich trotz ihrer prekären Lage politisch mobilisieren und demokratisch zusammenschließen.

Sie leben zumeist am Rand der Gesellschaft, ihnen werden häufig grundlegende bürgerliche Rechte abgesprochen – weil sie etwa als Fremde ohne rechtmäßigen Aufenthaltstitel registriert werden und teilweise auch nur geringe Chancen haben, irgendwann einmal eingebürgert zu werden: Schutzbedürftige Menschen aus Kriegsgebieten oder aus so genannt „strukturschwachen“ Regionen der Welt und von ihnen angeblich mit verursachte Probleme sind u.a. infolge der kriegerischen Situation im Nahen Osten derzeit wieder täglich in den Medien. „Die Flüchtlinge begegnen uns in medialen Diskursen vor allem in zwei Schattierungen, je nach Interessenslage: entweder als Opfer oder aber als Kriminelle. Opfern muss selbstverständlich geholfen werden, Kriminelle wiederum gehören bestraft, das sind die beiden dominanten Botschaften“, sagt Andreas Oberprantacher, Philosoph an der Universität Innsbruck. Er befasst sich mit „Illegalen“ als politischem Subjekt und setzt sich in diesem Zusammenhang mit der Frage ihres politischen Erscheinens und der Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse auseinander.

Eingeengte Wahrnehmung

Auch der vermeintlich großzügige Blick etwa auf die Situation syrischer Flüchtlinge ist ambivalent: „Allgemein gesprochen: Von Flüchtlingen als ‚Opfern’ einer desaströsen humanitären Lage wird paternalistisch erwartet, dass sie sich ‚uns’ gegenüber dankbar zeigen, dass sie sich professionell ‚managen’ lassen und politisch nach Möglichkeit nicht partizipieren – jene, die helfen, wissen nämlich schon, was gut ist“, sagt Oberprantacher. Das ist mit ein Grund, warum Kampagnen oder Aktionen wie z.B. das „Refugee Protest Camp Vienna“, als „Refugees“ – wie sie sich selbst positionierten – im Jahr 2012 zunächst von der Bundesbetreuungsstelle Ost in Traiskirchen nach Wien zogen, wo sie wiederum ein Protestlager im Sigmund-Freud-Park errichteten und, nach dessen gewaltsamer Räumung, die nahe gelegene Votivkirche in Wien besetzen, häufig mit vehementer und lautstarker Ablehnung vonseiten der Mehrheitsbevölkerung konfrontiert werden. „Bewegungen wie diese, wo prekär lebende und generell als „Illegale“ disqualifizierte Menschen einerseits Rechte reklamieren und andererseits genau diese Rechte performativ demonstrieren, haben mittlerweile eine, sagen wir, latente Tradition: angefangen bei der Chicano-Bewegung ab den 1940ern in den Vereinigten Staaten, als mexikanische ‚Wetbacks’ gegen Diskriminierung und für gleiche Rechte protestieren, über Kundgebungen und Kirchenbesetzungen von ‚Sans Papiers’ in Frankreich seit den 1980er Jahren bis zu den verschiedenen Aktionen in jüngerer Vergangenheit und in der Gegenwart.“

Allein schon mit Begriffen werden Einwanderer abgewertet und an den Rand gedrängt: „Der Begriff der ‚illegalen’ Einwanderung bzw. der ‚Illegalität’ von Menschen ist extrem problematisch. Wie wird das bestimmt und kontrolliert? Unter welchen Bedingungen ist ein Mensch überhaupt ‚legal’?“, fragt Oberprantacher. Zugleich beruhen Wirtschaftszweige in der Europäischen Union oder in den Vereinigten Staaten auf den ansonsten als „unerwünscht“ titulierten „Illegalen“: In der Obstproduktion in Süditalien oder -spanien arbeiten vielfach Menschen ohne erforderlichen Aufenthaltstitel in der Sklaverei ähnlichen Verhältnissen. Ihre „Illegalität“ ist ein Druckmittel, um Ergebenheit zu forcieren, droht ihnen doch, abgeschoben zu werden. Abgesehen davon gibt es in vielen Ländern auch eine Menge prekärer Aufenthaltstitel, um Fremde ungleich zu behandeln, bis hin zur Praxis der „Duldung“, was bedeutet, dass die Abschiebung von Betroffenen vorübergehend ausgesetzt wird, weil sie im Moment nicht „abschiebbar“ sind. Zugleich bleibt ihnen aber auch das Recht auf einen legalen Aufenthalt sowie auf Arbeit versagt. Neue rechtspopulistische Bewegungen, die infolge der Krise des europäischen Grenzregimes verstärkt Aufwind haben, kanalisieren gesellschaftliche Widersprüche, indem sie Ressentiments gegenüber Flüchtlingen verstärken, was es prekär lebenden „Illegalen“ umso schwerer macht, die eingeengte Wahrnehmung aufzubrechen.

Gefährliche Grenzzonen

Auch die Idee der Grenze fasst Andreas Oberprantacher in diesem Zusammenhang anders: „Jemand, der in bürgerlichen Gesellschaften offiziell als unerwünscht, sprich als ‚überzählig’ deklariert wird, trägt Grenzen sozusagen ständig mit sich herum: Grenzen werden nicht bloß passiert, sie werden von ‚Illegalen’ auch täglich verkörpert. In diesem Sinne ist auch jede Interaktion im öffentlichen Raum eine Interaktion im Schatten diverser Grenzen. Und dementsprechend eignet sich hier auch der englische Begriff ‚frontier’ weit besser als alternative Begriffe wie ‚boundary’ oder ‚border’, womit eher so etwas wie eine enge Grenzlinie impliziert wird.“ Infolge dieser Unsicherheit und der Marginalisierung – durch die unklare rechtliche Situation, den mangelnden Rechten und die oft verzerrte Wahrnehmung durch die Mehrheitsbevölkerung – fehlen Menschen, die generell als „Illegale“ diskreditiert werden, auch Erinnerungsräume und somit ein Medium, um an der öffentlichen Wahrnehmung selbstbewusst teilhaben zu können. „Obwohl in weiten Teilen der Europäischen Union oder der Vereinigten Staaten unzählige Menschen schon seit oft mehr als einer Generation in einem rechtlichen Graubereich leben, haben sie kaum Möglichkeiten, ihre Situation öffentlich zu machen, sie historisch im Sinne einer Erinnerungskultur zu dokumentieren: Sie haben weder Monumente, noch Archive noch Museen zu ihrer Verfügung“, betont Andreas Oberprantacher. „So sind die aktuellen Refugee-Proteste auch als ein mobiler Erinnerungsraum zu verstehen, als eine transnational verteilte Dokumentation der prekären Existenz von Menschen, die gewissermaßen erkennbar machen, dass die Vorstellung einer staatlich geregelten Demokratie selbst an eine historische Grenze gelangt ist und dass es eben an der Zeit ist, sie zu verändern.“

Zur Person

Assoz. Prof. Andreas Oberprantacher (*1974 in Bozen) hat in Innsbruck, Nottingham und Castellón Philosophie, Geschichte, Europäische Ethnologie und Komparatistik sowie Friedens- und Konfliktforschung studiert. Seit 2005 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2015 assoziierter Professor am Institut für Philosophie. Zugleich ist er als Faculty Member am UNESCO Chair for Peace Studies der Universität Innsbruck sowie als Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie tätig. Abgesehen davon lehrte er für viele Jahre an Universitäten in Indien, Thailand und Taiwan. Zurzeit verbringt er als Visiting Professor ein Forschungssemester an der University of New Orleans. In der Forschung befasst er sich unter anderem mit Fragen der politischen Theorie und Ästhetik, Sozial- und Kulturphilosophie, Friedens- und Konfliktforschung und Religionsphilosophie. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen verschiedener Fachrichtungen beteiligt er sich am Aufbau des Forschungszentrums „Migration & Globalisierung“ im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Kulturelle Begegnungen – kulturelle Konflikte“.

Dieser Artikel ist in der Dezember-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).

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