Wir brauchen eine gute Balance, und das möglichst schnell

Andreas Exenberger

 

Es ist wieder einmal Krise. Diesmal aber wirklich. Viele verfolgen täglich die fortschreitende globale Eskalation und unsere Freiheiten sind zum Wohle aller massiv eingeschränkt, in Tirol nun gelockert, aber nochmals verlängert, eigentlich auf faktisch unbestimmte Zeit (dazu später mehr). „Italienische Zustände“, denen noch zu Jahresbeginn etwas eher Entspanntes anhaftete, sind zur Horrorvision geworden, die mit allen Mitteln abgewendet werden muss.

Dem liegt natürlich auch die Fiktion der Steuerbarkeit, der Kontrolle zu Grunde. Die gibt es im Leben aber leider nicht. Trotzdem ist es mir wesentlich lieber, unsere Regierung versucht sich zumindest an der Eindämmung, als dass sie alles einfach laufen ließe. Auch wenn sie uns damit, ob absichtlich oder nicht, bereits auf eine bestimmte Strategie festgelegt hat, nämlich die der Ausrottung des Virus. So lernen wir vielleicht als Gesellschaft nicht nur etwas über exponentielles Wachstum, sondern auch über Pfad-Abhängigkeit. Aber wir sehen in anderen Ländern, wohin andere Strategien führen. Denn verlieren wir nicht aus dem Blick: 1 Prozent der Weltbevölkerung, eine durchaus nicht unrealistische Mortalitätserwartung von Covid-19, wenn nichts unternommen worden wäre (aber auch nur dann), wären weltweit erheblich mehr Tote als bisher insgesamt in vier Jahrzehnten an AIDS gestorben sind.

Mit der Eindämmung ist die Regierung auch weiterhin täglich gefordert. Was aber im Nebel des Auf-Sicht-Fahrens zunehmend aus dem Blick gerät: sie muss das auch mit einer langfristigen Strategie verbinden, und das bald, wenn sich das Möglichkeitsfenster der Sachzwänge nicht wieder schließen soll. Der 6. April machte deutlich, dass diese Erkenntnis noch nicht in letzter Konsequenz in der Bundesregierung angekommen ist, vor allem nicht ihre langfristige Dimension.

Denn es geht bei allen Maßnahmen in der aktuellen Krisensituation um die richtige Balance. Und die verändert sich mit der Zeit. Kurzfristig besteht kein Zweifel daran, dass vor allem das unmittelbare Gesundheitsrisiko gebannt werden, dass die medizinische Katastrophe abgewendet werden muss, die im möglichen Zusammenbruch der Versorgung besteht. Aber auch das hatte bereits negative Folgen, „Kollateralschäden“, wie man das euphemistisch nennt. Alles Präventive entfällt derzeit (selbst wer in Tirol nur draußen Sport betrieb, machte sich bis vor kurzem strafbar) und dass die Quarantäne psychischen Stress für viele bedeutet, ist mittlerweile auch bemerkt worden. Wie daher die Gesundheitsbilanz über diese Wochen und schließlich über das Jahr 2020 aussehen wird, ist derzeit noch völlig offen. Trotzdem waren die ergriffenen Maßnahmen zwar nicht alternativlos (man hätte es auch machen können wie Donald Trump), aber der internationale Vergleich zeigt, dass in Österreich bei manchen Fehlern in Details, von denen einige auch weitreichende Folgen hatten (wie wir gerade in Tirol sehr gut wissen), insgesamt offensichtlich gut agiert wurde. Nur die Panik vom Montag, den 30. März, die auf der Basis eines ominösen Expertenpapiers verbreitet wurde (ja, es waren ausschließlich Männer verantwortlich, noch dazu ausschließlich aus Wien und zudem fast ausschließlich Mathematiker), möchte ich davon explizit ausnehmen. Es hat Folgen, wie auch der 6. April gezeigt hat, da sich offenbar die Regierung in ihrem Handeln weiterhin auf die methodisch sehr diskussionswürdige Studie bezieht. Pfad-Abhängigkeit eben.

Mittelfristig stellt sich aber ein anderes Problem, nämlich die Vermeidung eines nachhaltigen wirtschaftlichen Niedergangs. Noch kann man in einem Land wie Österreich etwas zuwarten, aber wir befinden uns bereits in der Phase des Übergangs und müssen nun eine gute Balance finden zwischen verschiedenen Zielsetzungen, und das wenn möglich auch noch schnell. Dabei ist Gesundheit natürlich ein Eckpfeiler, der weiter das Handeln entscheidend beeinflussen muss. Es gibt aber zwei weitere Eckpfeiler, ohne die Gesellschaft auch nicht funktioniert. Der eine ist die Wirtschaft, die untrennbar mit dem Sozialwesen verzahnt ist. Der Shutdown ist teuer und das ist nicht nur im rein finanziellen Sinn gemeint (denn das würde schon noch eine Zeitlang gut gehen), es ist im ganz persönlichen Sinn gemeint. Er wird Existenzen kosten, von Unternehmen, aber auch von Beschäftigten. Er wird Armut zur Folge haben. Er wird Stigmatisierungen zur Folge haben. Er kann zur Schuldenkrise eskalieren, öffentlich wie privat. Schweizer Ökonominnen und Ökonomen haben schon im März vorgerechnet, was der Shutdown der Wirtschaft kostet, wohlgemerkt im Vergleich zu Kosten, die eine flächendeckende Test- und Kontrollregelung verursachen würde, mit der eine Verbreitung des Virus vermutlich wirksam begrenzt werden könnte. Sie haben dabei die sozialen und psychologischen Aspekte noch nicht einmal berücksichtigt, die der aktuelle Shutdown ebenfalls zur Folge hat. Der Vergleich macht klar: jede Woche zählt, eigentlich sogar jeder Tag. Der österreichische Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer schlägt in einem Kommentar im Standard in dieselbe Kerbe, wenn er die Orientierung an messbaren und beeinflussbaren Parametern einmahnt. Es ist daher bereits dringend an der Zeit, eine klare Perspektive vorzugeben, in welche Richtung die Regelungen gedacht und entwickelt werden. Wie steht es vor allem um die Schulen, die eine Grundfeste unserer Volkswirtschaft sind, nicht etwa ein verzichtbarer Luxus? Der 6. April war hier ein Anfang, mehr noch nicht. Denn so zu tun, als würden Menschenleben durch die Gestaltung von Maßnahmen nicht bewertet, ändert nichts daran, dass dies genau dadurch unausweichlich geschieht. Jede getroffene Maßnahme hat, ob wir wollen oder nicht, eine Verteilungswirkung – auf Arme und Reiche, auf Frauen und Männer, auf Junge und Alte, auf Gesunde und Kranke, etc.. Sie auszublenden bedeutet, die möglicherweise katastrophalen Folgen zu akzeptieren.

Schließlich geht es auch noch um Gesellschaft, um den Zustand unserer Politik und unserer Grundrechte, aber auch um den Zusammenhalt. Zur Abwendung der Katastrophe akzeptiert die Bevölkerung weitreichende Eingriffe in ihre Freiheit. Nötig und gut, solange all das ein Ablaufdatum hat und nachvollziehbar ist, aber zunehmend auch nur noch dann, wenn sie Ergebnis eines echten demokratischen Diskurses sind. Wer unter dieser Überschrift aber parlamentarische Kontrollrechte einschränkt oder Massenüberwachung installiert oder bestimmte Interessengruppen privilegiert, der gefährdet die Zukunft. Das sind alles Fehler, die in Österreich noch weitgehend vermieden werden können – oder auch gemacht. Und dann möglicherweise die Kontrolle zu verlieren, mit allen Folgen, die das hätte.

Insgesamt braucht die gute Bewältigung der Krise einen Ausgleich zwischen den Ecken dieses Dreiecks aus Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft. Wer mit seinen Maßnahmen dauerhaft in einer der Ecken bleibt, wird letztlich alles zum Kippen bringen. Und sie braucht das für längere Zeit. Es müssen gut abgestimmte Test- und Kontrollregelungen über die Verbreitung des Virus etabliert werden, die einen einigermaßen „normalen“ Ablauf des Lebens gewährleisteen und zugleich Sicherheit dadurch wahren, dass Probleme sofort auffallen und schnell lokalisiert und damit im Normalbetrieb einer Gesellschaft bewältigt werden können, nicht dadurch, dass wieder alles „heruntergefahren“ wird. Das kann man auf verschiedene Weise tun, aber leider nicht ohne Inkaufnahme von Unsicherheit über das Ergebnis. Dabei muss klar sein (oder zumindest werden), dass wirksame Medikamente dauern werden und niemand garantieren kann, dass es überhaupt je eine akzeptable Impfung geben wird (dass uns trotzdem manche eine solche „bald“ in Aussicht stellen, hat auch Gründe, die man verstehen kann). Es muss also ein Umgang gefunden werden, der unabhängig davon möglichst viel Normalität zulässt. Und leider auch eine gewisse Kontrolle, aber hoffentlich keine mehr, die Einzelpersonen von Parkbänken aufscheucht. Beim glücklicherweise sehr langsamen Fortschreiten der Krankheit in Österreich, das sich auch nicht entscheidend beschleunigen darf, geht es bei der relevanten Zeitspanne, in der solche Regelungen funktionieren müssen, um zumindest zwölf Monate, fast sicher mehr. Noch sieht es nicht danach aus, dass die Größenordnung der Herausforderung wirklich verstanden wurde.

Damit sind wir bei der Zukunft. Langfristig geht es darum, die aktuelle Lage auch zu nutzen, um Lenkungsmaßnahmen zu setzen. Die Krise ist natürlich keine Chance, denn dafür ist sie viel zu ernst, aber sie ist eine Situation der unausweichlichen Entscheidungen. Wie wird Zukunft aussehen, in Österreich, Europa und weltweit? Wird es eine instabilere oder eine resilientere Gesellschaft sein? Wird sie von dichten Grenzen, Massenüberwachung, Verteilungskämpfen und billigem Öl geprägt sein, oder von internationaler Kooperation, Rechtsstaatlichkeit, sozialem Ausgleich und ökologischer Vernunft? Werden die Besitzenden mächtiger (wie meistens in Krisen) oder setzen wir Schritte zu mehr Gerechtigkeit? Wird Rücksichtslosigkeit gegen die Natur und die Menschen dazu führen, dass der Ausbruch vergleichbarer Krankheiten wahrscheinlicher wird oder gehen wir einen anderen Weg? Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dafür ist nicht später noch Zeit. Die Entscheidungen fallen jeden Tag und das in Österreich bereits seit rund vier Wochen. Wer diese Entscheidungen nicht selbst gestaltet, der wird von ihnen bestimmt. Noch einmal Pfad-Abhängigkeit.

Und übrigens: Es gibt keine Zeit nach dem Corona-Virus. Wir leben seit 2002 damit, wir haben es nur bisher nicht bemerkt und werden auch in Zukunft nie völlig vor neuen Ausbrüchen ähnlicher Krankheiten gefeit sein. Es wird aber eine Zeit nach der Krise geben. Und dann wird klar werden, ob wir letztlich in dieser für sehr viele von uns herausfordernden Zeit mehr richtige als falsche Entscheidungen getroffen haben werden. Ob wir den Weg zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft gegangen sein werden, die krisenfester, innovativer und vielleicht sogar gerechter ist, oder nicht. Unmittelbar wird uns nichts anderes übrig bleiben, als mit längeren Übergangslösungen zu leben, die eine Balance zwischen medizinischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten halten – ja, in all diesen Bereichen gibt es Notwendigkeiten. Und es wäre sehr wertvoll, wenn es dabei bald eine gesamteuropäische Vorgehensweise gäbe, die auch hier auf Ausgleich setzt. Denn wenn Europa nun einen Weg geht, der uns noch lange mit Aufräumarbeiten beschäftigt halten wird, um wieder zum Vorkrisenzustand zurückzukehren, dann wird der Kontinent bald wirklich ziemlich „alt“ aussehen. Schaffen wir besser unsere Zukunft, in der ein gutes Leben für alle möglich wird. Heute und jeden weiteren Tag.

 

Andreas Exenberger ist assoziierter Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Fakultät für Volkswirtschaft und Statistik der Universität Innsbruck und Vorstandsmitglied von „Wissenschaft und Verantwortlichkeit“. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Entwicklung, Institutionenökonomie sowie Armuts- und Verteilungsforschung.

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