Profil und Geschichte der Vergleichenden Literaturwissenschaft

Literaturwissenschaften beschäftigen sich mit Literatur. Erforscht werden nicht ausschließlich Werke des literarischen Kanons, sondern auch Werbesprüche, Trivialliteratur, politische Reden oder theoretische Texte.
In den Gegenstandsbereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft fallen außer schriftsprachlichen Texten auch Film, TV-Serien, Tanz, Körper- und Verhaltenssprache, Fotografie, Comics etc. – wobei der literarische Text als Anker- und Ausgangspunkt immer im Zentrum unseres Faches steht. Literaturwissenschaft findet nicht im »Elfenbeinturm« statt, sondern steht im Kontext aktueller und gesellschaftlich relevanter Themen und Probleme.

Im Wesentlichen unterscheidet sich die Vergleichende Literaturwissenschaft von anderen literatur-wissenschaftlichen Disziplinen in drei Aspekten:

(1) Die sogenannten Einzelphilologien stellen stärker als die Vergleichende Literaturwissenschaft literarische Texte einer bestimmten Sprache oder eines bestimmten Kulturraumes ins Zentrum. Die Vergleichende Literaturwissenschaft als »Weltliteraturwissenschaft« (Fritz Strich) setzt hingegen literarische Texte aus verschiedenen Sprachen und/oder Kulturen in Bezug zueinander, untersucht also die vielfältigen Relationen zwischen den Literaturen verschiedener nationaler, sprachlicher oder kultureller Räume.
Besonderes Augenmerk richtet die Vergleichende Literaturwissenschaft daher auf Übersetzungsprobleme, die weit über die Frage der Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere hinausreichen.

(2) Die Vergleichende Literaturwissenschaft untersucht literarische Texte in ihrem Verhältnis zu den so genannten »anderen Künsten« (Malerei, Film, Theater, Tanz etc.) sowie zu anderen kulturellen Phänomenen (Politik, Philosophie, Wirtschaft, Rechtswesen etc.). Auch wenn auch andere literaturwissenschaftliche Fächer sich mehr und mehr mit dem Bereich »Literatur und andere Künste« (Interartes/Intermedialität) auseinandersetzen, so ist dies ein traditionelles und ›starkes‹ Thema der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Texte werden also kontextualisiert, das heißt, innerhalb ihrer gesamtkulturellen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge gesehen.

(3) Die Vergleichende Literaturwissenschaft zeichnet sich durch eine intensive Beschäftigung mit Literaturtheorie aus, das heißt, sie versucht, ihren Gegenstandsbereich und ihr eigenes Tun theoretisch zu hinterfragen und zu konzeptualisieren: Was ist eigentlich ein literarischer Text? Warum lesen wir Literatur? Was heißt es, literaturwissenschaftlich tätig zu sein? etc. Die Analyse von Literatur und anderen Kunstformen vor dem Hintergrund kultureller, gesellschaftlicher und politischer Bedingungen sowie die Untersuchung und Interpretation von Geschlechteridentitäten und -rollen in Literatur und Kunst nimmt in der Vergleichenden Literaturwissenschaft einen wichtigen Platz ein.

Eine Kurzdefinition der Vergleichenden Literaturwissenschaft könnte folgendermaßen lauten:

Die Vergleichende Literaturwissenschaft untersucht literarische Phänomene, die über einen kulturellen Raum, eine Nationalliteratur, eine Sprache oder einen literarischen Text hinausgehen und bettet diese Untersuchung in gesamtkulturelle Kontexte und eine intensive literaturtheoretische Auseinandersetzung ein.

Aus diesen Forschungsfeldern sind zahlreiche Publikationen hervorgegangen, insbesondere die Buchreihen Comparanda und sprachraum.

1970 Gründung des ersten österreichischen Lehrstuhls für Vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck, der mit Zoran Konstantinović besetzt wird. Gemeinsam mit Fridrun Rinner und Klaus Zerinschek baut Professor Konstantinović das Institut sowie das Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft auf. Weitere Institute für Vergleichende Literaturwissenschaft in Österreich folgten1979 in Wien und 1984 in Klagenfurt.

1974 Einrichtung des Instituts für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck.

1979 Ausrichtung der alle drei Jahre stattfindenden Tagung der International Comparative Literature Association (ICLA) in Innsbruck.

1983 Einführung des Diplomstudiengangs Vergleichende Literaturwissenschaft.

1991-2007 Prof. Dr. Maria Deppermann ist Lehrstuhlinhaberin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck.

2000 Fusion der Institute für Vergleichende Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Klassische Philologie zum Institut für Sprachen und Literaturen. Die Studienrichtungen blieben davon unberührt.

2009 Prof. Dr. Sebastian Donat wird Lehrstuhlinhaber der Vergleichenden Literaturwissenschaft.

2009 Einführung des Masterstudiengangs Vergleichende Literaturwissenschaft zum WS 2009/2010.

2012 Einführung des Bachelorstudiengangs Vergleichende Literaturwissenschaft zum WS 2012/2013.

2020 Das Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft wird wieder ein eigenständiges Institut.


Zoran Konstantinović

» In der Literatur steckt die ganze Erfahrung der Menschheit. Sie müssen das gar nicht alles selbst erlebt haben, finden aber in der Literatur alles, was der Mensch erleben kann, fühlen kann, alles, was er weiß. Wenn sie viel lesen, können sie sich das aneignen. Und das ist auch das Schöne des Literatur-Unterrichts: Man nimmt einen Tropfen, irgendeinen Text, den man ans Licht hält. Und dann sieht man, wie er in allen Farben schillert, und was man da alles herausholen kann, in welcher Sprache auch immer. Das ist etwas Wunderschönes. «

Das heutige Verständnis von Literatur ist sehr offen und umfasst »alles Geschriebene«, also nicht nur Werke des literarischen Kanons, sondern auch Werbesprüche, Trivialliteratur oder politische Reden. Die Vergleichende Literaturwissenschaft setzt nun nicht nur literarische Texte aus verschiedenen Sprachen und/oder Kulturen in Bezug zueinander, sondern fragt auch nach den Charakteristika der Verbindungen zwischen Literatur und den so genannten »anderen Künsten« (Malerei, Film, Theater, Tanz, Neue Medien etc.) sowie anderen ›kulturellen Phänomenen‹ (Politik, Philosophie, Wirtschaft, Rechtswesen etc.). »Interkulturalität« und »Intermedialität« zählen zu den Schlüsselbegriffen des Faches.

Diese Offenheit, diese Breite und diese Aktualität sind inzwischen konstitutiv für die Vergleichende Literaturwissenschaft, was auch innerhalb des Faches nicht immer selbstverständlich war und sich in einem Prozess, der sich über einige Jahrzehnte erstreckt, erst durchsetzen musste. Dass dies gelang und sich ein moderner und attraktiver Zugang zu literarischen Phänomenen vor allem an der Innsbrucker Universität verankern konnte, ist nicht zuletzt dem Wirken von Zoran Konstantinović zuzuschreiben, der die Innsbrucker Vergleichende Literaturwissenschaft begründete und ihre Geschicke 20 Jahre lang lenkte.

1920 in Belgrad geboren erlebte Zoran Konstantinović als Soldat der jugoslawischen Armee den Zweiten Weltkrieg. Nach der Kriegsgefangenschaft studierte er ab 1945 in Zagreb und in Belgrad Germanistik und arbeitete bis 1970 als Professor für Germanistik an der Belgrader Universität. Im selben Jahr wurde er auf den ersten österreichischen Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft an die Universität Innsbruck berufen. Dort baute er ein Studium und ein dazugehöriges Institut auf, das er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1990 leitete. Zehn Jahre nach seiner Rückkehr nach Belgrad verstarb Zoran Konstantinović dort im Mai 2007.

Er war ein herausragender Wissenschaftler und unermüdlicher Vermittler, der viel Verständnis für andere Kulturen mitbrachte, kam er doch selbst als Nachfahre einer »Grenzerfamilie« (seine Vorfahren waren kaiserliche Offiziere) – also jener serbischen Bevölkerungsgruppe, die von den Habsburgern im 17. Jahrhundert als ›Schutzwall‹ gegen die Osmanen unter anderem in der Vojvodina angesiedelt wurde – aus einer historisch sensiblen Region. Der Innsbrucker Vergleichenden Literaturwissenschaft kam sowohl in der Forschung als auch in der Lehre diese herausragende Kommunikationsfähigkeit zugute, wie etwa in der Ausrichtung des alle drei Jahre statt findenden Welt-Kongresses der »International Comparative Literature Association« 1979 in Innsbruck deutlich wird. Zoran Konstantinović verstand seine wissenschaftliche Arbeit als die eines Brückenbauers: »Nachbarschaft war für ihn immer auch schon eine wissenschaftstheoretische Kategorie«, konnte in den 1980er-Jahren der bekannte Konstanzer Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß auch folgerichtig sagen.

Zoran Konstantinović beherrschte viele Sprachen und vertrat somit im besten Sinne des Wortes die Idee der Weltliteratur und ihrer humanistischen Grundlegung. Er ordnete sich damit in jene Tradition ein, die den Weltliteraturbegriff in der Goetheschen Bedeutung als »Prozess der kommunikativen Vermittlung« verstand, allerdings sah er auch die weniger helle Seite eines humanistischen Konzepts der Weltliteratur, nämlich Tendenzen der Überformung von Kulturen durch eine dominante Kultur. Seine weit gestreuten wissenschaftlichen Interessen reichten von den Literaturen »Mitteleuropas« und des Donauraums, den slawisch-deutschsprachigen Literaturbeziehungen, der naiven Malerei oder der Choralmusik bis zu Autoren wie V. S. Naipaul oder Salman Rushdie. Diese Interessen fanden in mehr als 600, wissenschaftlich teils wegweisenden Publikationen ihren Niederschlag. Unter den deutschsprachigen Monographien sind vor allem hervorzuheben »Phänomenologie und Literaturwissenschaft« (1973), »Weltliteratur. Strukturen, Modelle, Systeme« (1979), das einführende Handbuch »Vergleichende Literaturwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblicke« (1988) und »Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas« (2003; gemeinsam mit Fridrun Rinner).

Als renommierter Literaturwissenschaftler wurde Zoran Konstantinović in der Fachwelt seit jeher sehr geschätzt, mit der Einmischung in die österreichische Außenpolitik sowie in die Diskussionen in Rundfunk, Fernsehen und Printmedien im Rahmen der Balkankriege Anfang der 1990er Jahre wurde er auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Zwar warnte er immer vor den drei »P« – LiteraturwissenschaftlerInnen sollten sich vor Presse und Politik hüten, ebenso davor, sich selbst poetisch zu betätigen –, missachtete diese Warnung jedoch selbst, um vor den in seinen Augen fatalen Folgen der Politik einer verfrühten Anerkennung der Souveränität Sloweniens und Kroatiens zu warnen. Mit Thomas Mann, der ebenso vor der Einmischung des Intellektuellen in politische Belange gewarnt hatte, diese aber dann einforderte, sollte das Schicksal eines Landes auf dem Spiel stehen, erklärte Zoran Konstantinović seinen Gang in die Medien und seine politischen Interventionen.

Auf diesem Gang wagte er sich in der Öffentlichkeit manchmal auch weit vor, hielt die Idee eines gesamt-jugoslawischen Staates bis zuletzt hoch und warb auch für Verständnis – nicht jedoch für eine Entschuldigung! – für die serbische Politik, was ihm nicht nur harsche Reaktionen in Politik und Medien eintrug, sondern auch viele seiner FachkollegInnen irritierte. Wenn auch seine politischen Stellungnahmen in den 1990er-Jahren von dem abgewichen sein mögen, was viele in der europäischen Öffentlichkeit damals wie heute für richtig ansahen und sehen, so bleibt, dass die Geschichte und auch die Geschichtswissenschaft Zoran Konstantinović inzwischen in Teilen recht gegeben haben. Was ebenso und vor allem bleibt, ist das vielfältige Fortwirken des Wissenschaftlers Zoran Konstantinović.

Martin Sexl

Eine vollständige Bibliographie von Zoran Konstantinović findet sich in:

Zoran Konstantinović: Grundlagentexte der Vergleichenden Literaturwissenschaft aus drei Jahrzehnten. Arbeiten von Zoran Konstantinović, ausgewählt und herausgegeben zu seinem 80. Geburtstag von Beate Burtscher-Bechter, Beate Eder-Jordan, Fridrun Rinner, Martin Sexl und Klaus Zerinschek. Innsbruck-Wien-München, Studien-Verlag (Comparanda. Vergleichende Studien zu Antike und Moderne, 1), 2000.


Quellennachweis:

Martin Sexl: Zoran Konstantinović im Gespräch. Literatur – Wissenschaft – Gesellschaft – Politik, innsbruck university press, Innsbruck 2009, 74pp.

Wir trauern um a.o. Univ.-Prof. Dr. Klaus Zerinschek, der am 16. Februar 2019 verstorben ist.

ao. Univ.-Prof. Dr. Klaus Zerinschek

Klaus Zerinschek hat das Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft mit aufgebaut und jahrzehntelang geprägt. In Innsbruck und an vielen anderen Orten im In- und Ausland leben und arbeiten Absolvent*innen der Vergleichenden Literaturwissenschaft, die er mit seinem enzyklopädischen komparatistischen Wissen, seiner Menschlichkeit, seiner Achtsamkeit, seiner kritischen Perspektive und seinem gesellschaftspolitischen Engagement geprägt hat und die das bei und von ihm Erfahrene und Gelernte auf ihre Weise weitertragen. Klaus Zerinscheks zentrales Forschungsgebiet war die Verbindung von Literatur zu Film, Tanz, Architektur, Fotografie, Musik und anderen Künsten; seine besondere Liebe galt dabei der Oper.

Wir danken ihm aus ganzem Herzen und vermissen ihn.

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Nachruf auf Klaus Zerinschek
Fridrun Rinner, Magnus Roth: Nachruf auf Klaus Zerinschek (1946-2019). In: ATeM - Archiv für Textmusikforschung, 4,1 (2019).

Eine Publikation zu Ehren von Klaus Zerinschek erschien im Jahr 2013 bei innsbruck university press: Intermedialität in der Komparatistik. Eine Bestandsaufnahme. Hg. von Dunja Brötz, Beate Eder-Jordan und Martin Fritz. Open Access: https://www.oapen.org/search?identifier=501344

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