Ya Hsien 瘂弦
Abgrund 深淵
我要生存,除此無他;
同時我發現了他的不快。
——沙特
孩子們常在你髮茨間迷失。
春天最初的激流,藏在你荒蕪的瞳孔背後。
一部分歲月呼喊著,肉體展開黑夜的節慶。
在有毒的月光中,在血的三角洲,
所有的靈魂蛇立起來,撲向一個垂在十字架上的
憔悴的額頭。
這是荒誕的,在西班牙
人們連一枚下等的婚餅也不投給他!
而我們為一切服喪,花費一個早晨去摸他的衣角。
後來他的名字便寫在風上,寫在旗上,
後來他便抛給我們
他吃賸下來的生活。
去看,去假裝發愁,去聞時間的腐味。
我們再也懶於知道,我們是誰。
工作,散步,向壞人致敬,微笑和不朽。
他們是握緊格言的人!
這是日子的顔面;所有的瘡口呻吟,裙子下藏滿病菌。
都會,天秤,紙的月亮,電杆木的言語,
(今天的告示貼在昨天的告示上)
冷血的太陽不時發著顫,
在兩個夜夾著的
蒼白的深淵之間。
歲月,貓臉的歲月,
歲月,緊貼在手腕上,打著旗語的歲月。
在鼠哭的夜晚,早已被殺的人再被殺掉。
他們用墓草打著領結,把齒縫間的主禱文嚼爛。
沒有頭顱真會上升,在衆星之中,
在燦爛的血中洗他的荊冠,
當一年五季的第十三月,天堂是在下面。
而我們為去年的燈蛾立碑。我們活著。
我們用鐵絲網煮熟麥子。我們活著。
穿過廣告牌悲哀的韻律,穿過水門汀肮髒的陰影,
穿過從肋骨的牢獄中釋放的靈魂,
哈里路亞!我們活著。走路、咳嗽、辯論,
厚著臉皮占地球的一部分。
沒有甚麽現在正在死去,
今天的雲抄襲昨天的雲。
在三月我聽到櫻桃的吆喝。
很多舌頭,搖出了春天的墮落。而青蠅在啃她的臉,
旗袍叉從某種小腿間擺蕩;且渴望人去讀她,
去進入她體內工作。而除了死與這個,
沒有甚麽是一定的。生存是風,生存是打穀場的聲音,
生存是,向她們——愛被人膈肢的——
倒出整個夏季的欲望。
在夜晚床在各處深深陷落。一種走在碎玻璃上
害熱病的光底聲響,一種被逼迫的農具的忙亂的耕作。
一種桃色的肉之翻譯,一種用吻拼成的
可怖的語言。一種血與血的初識,一種火焰,一種疲倦!
一種猛力推開她的姿態。
在夜晚,在那波裏床在各處陷落。
在我影子的盡頭坐著一個女人。她哭泣,
嬰兒在蛇莓子與虎耳草之間埋下……。
第二天我們又同去看雲、發笑、飲梅子汁,
在舞池中把賸下的人格跳盡。
哈里路亞!我仍活著,雙肩抬著頭,
抬著存在與不存在,
抬著一副穿褲子的臉。
下回不知輪到誰;許是教堂鼠,許是天色。
我們是遠遠地告別了久久痛恨的臍帶。
接吻挂在嘴上,宗教印在臉上,
我們背負著各人的棺蓋閒蕩!
而你是風,是鳥,是天色,是沒有出口的河。
是站起來的屍灰,詩未埋葬的死。
沒有人把我們拔出地球以外去。閉上雙眼去看生活。
耶穌,你可聽見他腦中林莽茁長的喃喃之聲?
有人在甜菜田下面敲打,有人在桃金娘下……。
當一些顔面像蜥蜴般變色,激流怎能為
倒影造像?當他們的眼珠黏在
歷史最黑的那幾頁上!
而你不是甚麽,
不是把手杖擊斷在時代的臉上,
不是把曙光纏在頭上跳舞的人。
在這沒有肩膀的城市,你底書第三天便會被搗爛再去作紙。
你以夜色洗臉,你同影子決鬥,
你吃遺産、吃妝奩、吃死者們小小的呐喊,
你從屋子裏走出來,又走進去,搓著手……
你不是甚麽。
要怎樣才能給跳蚤的腿子加大力量?
在喉管中注射音樂,令盲者飲盡輝芒!
把種籽播在掌心,雙乳間擠出月光,
——這層層疊疊圍你自轉的黑夜都有你一份,
妖嬈而美麗,她們是你的。
一朵花,一壺酒,一床調笑,一個日期。
這是深淵,在枕褥之間,輓聯般蒼白。
這是嫩臉蛋的姐兒們,這是窗,這是鏡,這是小小的粉盒。
這是笑,這是血,這是待人解開的絲帶!
那一夜壁上的瑪麗亞像賸下一個空框,她逃走,
找忘川的水去洗滌她聽到的羞辱。
而這是老故事,像走馬燈;官能,官能,官能!
當早晨我挽著滿籃子的罪惡沿街叫賣,
太陽刺麥芒在我眼中。
哈里路亞!我仍活著。
工作,散步,向壞人致敬,微笑和不朽。
為生存而生存,為看雲而看雲,
厚著臉皮占地球的一部分……
在剛果河邊一輛雪橇停在那裏;
沒有人知道它為何滑得那樣遠,
沒人知道的一輛雪橇停在那裏。
Ich will existieren, sonst nichts;
gleichzeitig ist mir das Unglück der Existenz bewusst.
– Sartre
Oft verirren Kinder sich in deinen strohigen Haaren.
Die ersten Stromschnellen des Frühlings, versteckt hinter deinen verwahrlosten Pupillen.
Ein Teil der Jahre schreit, der Leib entfaltet das Fest der schwarzen Nacht.
Im giftigen Mondlicht, im Delta des Blutes,
Erheben all die Seelenschlangen sich, stürzen sich auf eine bleiche, matte Stirn
Die am Kreuz hängt.
Es ist absurd; in Spanien
Wirft man ihm nicht einmal ein Stück der minderwertigen Hochzeitstorte zu!
Doch wir tragen wegen alledem Trauer, verwenden einen Morgen drauf, den Saum seines Gewandes zu berühren.
Danach ward sein Name in den Wind und auf die Fahnen geschrieben,
Und später dann warf er uns
Das Leben zu, das er noch nicht zur Gänze aufgegessen hatte.
Geh und sieh, geh und spiele den Besorgten, geh und schnuppere den Verwesungsgeruch unserer Zeit.
Wir sind bereits zu träge, um zu wissen, wer wir sind.
Wir arbeiten, gehen spazieren, huldigen bösen Menschen, lächeln und sind unsterblich.
Sie halten strikt an ihren Losungen fest!
So ist der Tage Antlitz: alle Geschwüre jammern, unter den Röcken verstecken sich zahllose Keime.
Großstadt, Balkenwaage, Papiermond, Worte der Leitungsmasten,
(Der heutige amtliche Aushang klebt auf dem gestrigen)
Die kaltblütige Sonne erzittert von Zeit zu Zeit,
Im kreideweißen Abgrund
Zwischen zwei Nächten eingeklemmt.
Jahre, katzengesichtige Jahre,
Jahre, eng am Handgelenk klebend, signalflaggenschwenkende Jahre.
Abends, wenn die Mäuse weinen, werden Menschen, die schon längst ermordet wurden, noch einmal ermordet.
Das Gras von den Gräbern binden sie sich wie eine Fliege um den Hals, und das Vaterunser in den Zwischenräumen ihrer Zähne zerkauen sie.
Kein Kopf wird wirklich sich erheben, unter all den vielen Sternen,
In dem Blut, das prächtig glänzt, wäscht er seine Dornenkrone,
Im dreizehnten Monat eines Jahres mit fünf Jahreszeiten befindet sich das Paradies drunten.
Doch wir errichten den Motten des vergangenen Jahres Denkmäler. Wir leben.
Wir garen unseren Weizen auf Drahtnetzen. Wir leben.
Durchqueren die traurigen Rhythmen der Werbeschilder, durchqueren die schmutzigen Schatten des Betons,
Durchqueren die aus dem Rippengefängnis befreiten Seelen,
Halleluja! Wir leben. Wir gehen, husten, debattieren,
Besetzen unverfroren einen Teil des Erdballs.
Nichts gibt es, was jetzt, in diesem Augenblick, verstirbt.
Die Wolken von heute imitieren die Wolken von gestern.
Im März, da hör ich das Geschrei der Kirschen.
So viele Zungen wiegen den Niedergang des Frühlings herbei. Doch blaue Fliegen nagen an ihrem Gesicht,
Der Schlitz ihres Kleides bewegt sich zwischen irgendeiner Art von Unterschenkeln hin und her; sie wünscht sich, dass jemand sie liest,
In ihren Körper eindringt und dort arbeitet. Außer dem Tod und dieser Tatsache
Ist nichts sicher. Das Sein ist Wind, das Sein ist der Klang des Dreschplatzes,
Das Sein ist, für sie – die Frauen, die gerne gekitzelt werden –
Das Verlangen eines ganzen Sommers auszuschütten.
Nachts sinken überall Betten in die Tiefe. Eine Art Geräusch, als ob fiebriges Licht
Über zerbrochenes Glas geht, eine Art blindwütigen Ackerns eines vorwärtsgepeitschten Werkzeugs.
Eine Art Übersetzung pfirsichfarbenen Fleisches, eine Art aus Küssen gebildeter
Sprache des Grauens, eine Art erstes Treffen
Von Blut und Blut, eine Art Flamme, eine Art Müdigkeit!
Eine Art Geste, als ich sie mit wilder Kraft wegstoße.
Nachts, in Neapel, sinken überall Betten in die Tiefe.
Am Ende meines Schattens sitzt eine Frau. Sie weint,
Das Baby ist zwischen Scheinerdbeeren und Kriechsteinbrech begraben …
Am nächsten Tag, wieder zusammen, gehen wir die Wolken anschauen, lächeln, trinken Pflaumenwein,
Im Ballsaal tanzen wir alles weg, was wir noch an Charakter haben.
Hallelujah! Ich lebe noch. Meine Schultern tragen einen Kopf
Tragen Existenz und Nicht-Existenz,
Tragen ein Gesicht in Hosen.
Wer ist wohl als nächster dran? Vielleicht eine Kirchenmaus oder das Wetter.
Aus weiter Ferne verabschieden wir die Nabelschnur, die wir so lange gehasst haben.
Küsse baumeln von unseren Mündern, Religion ist auf unser Gesicht gestempelt.
Wir ziehen müßig umher, jeder seinen Sargdeckel auf dem Rücken tragend!
Und du bist der Wind, ein Vogel, das Wetter, ein Fluss ohne Mündung.
Bist aufrechtstehende Leichenasche, ein noch unbeerdigter Tod.
Niemand pflückt uns aus der Erde. Betrachte das Leben mit geschlossenen Augen.
Jesus, kannst du hören, wie der wachsende Dschungel in seinem Gehirn raschelt?
Jemand klopft unter dem Rübenfeld, unter den Myrten …
Wenn manche Gesichter ihre Farbe wie Chamäleons wechseln, wie kann dann eine Stromschnelle
Eine Reflektion zu einem Bild formen? Wenn ihre Augen fixiert sind
Auf die dunkelsten Seiten der Geschichte!
Und du bist nichts,
Du zerbrichst deinen Wanderstab nicht auf dem Antlitz unserer Epoche,
Du tanzt auch nicht mit um den Kopf gewundenen Abendrot.
In dieser schulterlosen Stadt wird dein Buch am dritten Tag zerstampft werden und zum Papier zurückkehren.
Du wäschst dein Gesicht mit dem nächtlichen Dämmerlicht, du duellierst dich mit deinem Schatten,
Du ernährst dich von Erbschaften, von Aussteuern, von den winzigen Schreien der Toten.
Du gehst aus deinem Haus und wieder hinein, händeringend …
Du bist nichts.
Wie kann man die Beinchen eines Flohs stärken?
Musik in den Hals injizieren, Blinde das Licht trinken lassen!
Samen in die Handfläche pflanzen, Mondlicht aus den Brüsten einer Frau pressen,
– Du bist Teil der dunklen Nacht, die sich in zahllosen Schichten um dich dreht,
Verführerisch und schön, sie gehören dir.
Eine Blume, eine Weinkanne, ein Bett der Scherze, ein Datum.
Dies ist ein Abgrund, zwischen den Kissen und den Laken, so bleich wie ein Zweizeiler zu einer Beerdigung.
Dies sind Mädchen mit sanftem Gesicht, dies sind Fenster, Spiegel, kleine Puderdosen.
Dies ist Lachen, dies ist Blut, dies ist eine Satinschleife, die sich lösen lassen will!
In jener Nacht entwich Maria an der Wand und hinterließ einen leeren Bilderrahmen, sie floh,
Den Styx zu suchen, um die Schande wegzuwaschen, von der sie gehört hatte.
Doch dies ist eine alte Geschichte, wie eine Drehlaterne; die Sinne, die Sinne, die Sinne!
Morgens, wenn ich Körbe von Sünden auf der Straße feilbiete,
Sticht mir die Sonne Weizengrannen in die Augen.
Halleluja! Ich lebe noch.
Arbeite, gehe spazieren, huldige bösen Menschen, lächle und bin unsterblich.
Lebe um des Lebens willen, schaue Wolken an, um Wolken anzuschauen.
Besetze unverfroren einen Teil des Erdballs …
Am Ufer des Kongo, ein Schlitten hat dort Halt gemacht,
Niemand weiß, wie er so weit in die Ferne gleiten konnte.
Ein Schlitten, von dem niemand weiß, hat dort angehalten.
(Mai 1959)
Kommentar
Ya Hsien 瘂弦 (1932–2024) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter jener Richtung, die unter der Bezeichnung Modernismus 現代主義 bekannt ist und die im Taiwan der 1950er Jahre ihre Blütezeit erlebte. Geboren in der Provinz Honan 河南省, gehörte Ya Hsien zu jenen „Auswärtigen 外省人“, die Ende der 1940er Jahre mit der chinesischen Nationalarmee vor den Kommunisten auf die Insel flohen. Ya Hsien veröffentlichte von 1953 bis 1968 Gedichte, vor allem in den Zeitschriften Moderne Dichtung 現代詩 und Neue Ära 創世紀. – Eine ausführlichere Kurzbiographie Ya Hsiens ist auf den Seiten (Seitenzahl folgt in Kürze) in Nr. 78 (Mai 2025) der Hefte für ostasiatische Literatur zu finden.
Die Vorlagen meiner Übersetzungen sind aus dem 2010 in Taipeh erschienenen Band Gedichte Ya Hsiens 瘂弦詩集entnommen, einer Neuauflage des gleichnamigen Bandes von 1981, der allgemein als maßgebliche Ausgabe anerkannt ist: „Der Oberst 上校“ (S. 140–141), „Tod eines Provinzgouverneurs 某故省長“ (S. 146), „Der Abgrund 深淵“ (S. 229–236), „Die Frau 婦人“ (S. 23), „Die Nonne 修女“ (S. 142–143). Die beiden zuerst genannten Gedichte wurden bereits im Jahr 2000 von Helga und Erhard Scherner ins Deutsche übersetzt (vgl. Tien-chi Martin-Liao / Ricarda Daberkow: Phönixbaum. Moderne taiwanesische Lyrik, Bochum: projekt, S. 131 und 137), aber ich habe sie dennoch erneut übertragen, weil ich sie teilweise anders verstehe.
Dafür, dass Ya Hsien selbst Soldat und somit zur Loyalität gegenüber dem Regime Chiang Kai-sheks 蔣介石 verpflichtet war, klingen viele seiner Gedichte überraschend düster, wenn nicht gar spöttisch. Das ist umso bemerkenswerter, als das Kriegsrecht im Taiwan der 1950er Jahre noch sehr hart gehandhabt wurde und schon der bloße Verdacht auf Unbotmäßigkeit schwerwiegende Folgen nach sich ziehen konnte. Von der Literatur forderte die politische Führung damals vor allem patriotische, zur Rückeroberung des Festlandes anstachelnde Werke; wer sich dieser Vorgabe nicht beugen wollte, dem blieb nur der Rückzug in das von der Kulturpolitik immerhin noch tolerierte Gebiet der „reinen Literatur 純文學“. Oberflächlich betrachtet war dies auch bei Ya Hsien der Fall, aber bei genauem Hinsehen stellt man fest, dass er nicht einmal die Armee selbst von seinem Hohn ausnahm. Im „Oberst“ beispielsweise fallen flapsige Wendungen (sein Bein „verabschiedete sich“) und eher amüsante Verbindungen („Gefechte“ mit „Nähmaschine“) auf; die Assoziation von „Geschichte“ mit „Gelächter“ klingt ebenfalls nicht besonders ehrerbietig. Auch der „Tod eines Provinzgouverneurs“ ist erkennbar nicht von Ehrfurcht hochrangigen Amtsträgern gegenüber geprägt.
Warum Ya Hsien trotz dieser kleinen Frechheiten ungeschoren davonkam, ist nicht leicht zu beantworten. Vielleicht schützte ihn sein Status als Angehöriger der Streitkräfte – aber vielleicht verhält es sich auch einfach so, wie Ya Hsien es einmal selber andeutete: Dass nämlich die Zensoren nicht allzu helle gewesen seien und sich leicht hätten täuschen lassen. Er belegte dies mit zwei Versen aus seinem wohl bekanntesten Gedicht „Der Abgrund 深淵“ („Wir arbeiten, gehen spazieren, huldigen bösen Menschen, lächeln und sind unsterblich. / Sie halten strikt an ihren Losungen fest!“), die ziemlich eindeutig auf den damals vorherrschenden Personenkult um Chiang Kai-shek abzielten (vgl. dazu Chang Li-hsüan 張俐璇(Hrsg.): Die verlegte Insel. Eine Geschichte des Verlagswesens in Taiwan 出版島讀。臺灣人文出版的百年江湖, Taipeh 2023, S. 84–85. Das Kapitel, in der dieser Stelle vorkommt, habe ich bereits ins Deutsche übertragen, vgl. ASIEN 168/169 vom Juli/Oktober 2023, S. 163–164).
Vom „Abgrund“ liegen mir drei englische Fassungen vor:
von John McLellan, in Chi Pang-yuan 齊邦媛 u.a. (Hrsg).: An Anthology of Contemporary Chinese Literature. Vol. 1 (Poems), Seattle 1975, S. 184–188.
von Michelle Yeh, in Michelle Yeh u. a. (Hrsg.): Frontier Taiwan. An Anthology of Modern Chinese Poetry, New York 2001, S. 202–206.
von Ya Hsien selbst, in Gedichte Ya Hsiens (s. o.), S. 315–307 (sic!). Diese Übersetzung entstand bereits in den späten 1960er Jahren.
Alle drei Versionen weichen in vielen Details voneinander ab, was zum Teil auch darauf zurückzuführen sein dürfte, dass unterschiedliche Versionen auf Mandarin existieren. Diese unterscheiden sich jedoch, soweit ich das gesehen habe, lediglich hinsichtlich der Interpunktion und der Stropheneinteilung, nicht jedoch in der Wortwahl.
Bei den englischen Fassungen weist ausgerechnet Ya Hsien den größten Abstand zu der mir vorliegenden Originalfassung auf. Schon in der ersten Zeile heißt es bei ihm „his hair“, wo im Original doch eindeutig „deine Haare“ steht. In der dritten Strophe wiederum übersetzt er die Zeile „Sie halten strikt an ihren Losungen fest!“ mit „He is a man who clutches maxims“. Eine weitere Umformung vom Plural in den Singular tritt in der 10. Strophe auf: „Wenn ihre Augen fixiert sind / Auf die dunkelsten Seiten der Geschichte“ wird zu „When his eyeballs grow in / The blackest pages of history“ (nebenbei bemerkt: auch das Verb nien 黏 erscheint mir hier sehr frei interpretiert). Ähnliche Änderungen des Subjekts treten noch an vielen weiteren Stellen auf; völlig undurchsichtig wird es in der 11. Strophe, wo im Mandarin durchgängig von „du“ die Rede ist, während Ya Hsien ohne erkennbaren Grund zwischen „we“ und „he“ wechselt. Man könnte diese auktoriale ‚Willkür‘ als Signal an den Übersetzer verstehen, mit den Pronomen sehr freizügig zu verfahren; ich habe mich dennoch eng an die Mandarin-Vorlage gehalten.
Unter den gebürtigen Taiwaner (während des Kriegsrechts als „Einwohner der hiesigen Provinz 本省人“ bezeichnet, um einem potentiellen Separatismus entgegenzuwirken) nahm ab den späten 1960er Jahren der Widerstand gegen den Modernismus und die Reine Literatur zu, weil sie die Werke dieser beiden Strömungen als unverständlich und fernab jeder Lebensrealität empfanden. Ya Hsiens „Abgrund“ zeigt, dass diese Einschätzung längst nicht immer zutrifft, denn auch wenn das Gedicht auf den ersten Blick schwer zugänglich wirkt, so zeigt sich bei näherer Betrachtung eine ausgefeilte Komposition, die gekonnt mit einigen zentralen Begriffen und deren Variierung spielt, also bei aller Verschlüsselung doch ein tiefsitzendes Unbehagen erkennen lässt, das man durchaus politisch deuten kann. Allerdings scheint mir das Gedicht weit über bloße Gesellschaftskritik hinauszugehen: In der durchgehenden Verwendung christlicher Begriffe kommt auch eine existentielle Bedrängnis zum Ausdruck (wobei zu beachten ist, dass Ya Hsien m. W. kein Christ war, zumindest nicht zum Zeitpunkt der Abfassung des „Abgrunds“).
Während „Eine Frau“ Ya Hsien eher von der humorigen Seite zeigt, kommt in „Die Nonne“ wiederum die Anlehnung an christliche Motivik zum Vorschein. Hier habe ich allerdings auch eine textliche Abweichung entdeckt: Während in Gedichte Ya Hsiens die letzte Strophe nur aus drei Versen besteht, hat sie in einer anderen mir vorliegenden Fassung vier (Ma Yüeh-jan 馬悅然 u. a. (Hrsg.): Ausgewählte taiwanische Gedichte aus dem 20. Jahrhundert 二十世紀臺灣詩選, Taipeh 2001, S. 277). Diese fehlende letzte Zeile lautet: „Weil sie ihr seelische Schmerzen verursachen 因它使她心痛“.
Einige weitere Gedichte Ya Hsiens werde ich für die im November 2025 erscheinende Nr. 79 der Hefte für ostasiatische Literatur übersetzen.