Meng Haoran 孟浩然 (689-740)
In der Berghütte des ehemaligen Lehrers übernachtend, warte ich auf Dingda, der nicht eintrifft 宿業師山房待丁大不至
Übersetzung:
夕陽 度西嶺,
群壑 倏已暝。
松月 生夜涼,
風泉 滿清聽。
樵人 歸欲盡,
煙鳥 棲初定。
之子 期宿來,
孤琴 候蘿徑。
Abendsonne kreuzt die Westbergkette;
Alle Thäler – wie im Nu erdunkeln.
Kiefernmond gebiert der Nächte Kühle;
Quell im Wind – ätherisches Gemunkel.
Holzarbeiter, die nach Hause wollen;
Nebelvögel erst zur Ruhe kommen.
Ungebundner, wann kehrst du zur Nacht ein?
Hab ja bloß die Qin zum Pfad genommen!
Kommentar
Dieser Übersetzung eines vielfach verdeutschten Gedichtes Meng Haorans wurde eine den passiven Vorgängen im Verlauf des Fünf-Silben-Verses adäquate rhythmische Akzentuierung angemessen, die nur teilweise mit den Betonungsfolgen gemäß Syntax und Morphologie der Zielsprache zusammenfällt. Diese Teilinzidenz macht sich zunächst am weitgehend parallelen Satzbau im Doppelvers und über den Gesamtverlauf des Textes der Übersetzung bemerkbar: die acht Verse, bzw. vier Couplets entsprechen acht Verbalsätzen, deren Subjektpositionen die ersten beiden Silben des Verses vor der Binnenzäsur beanspruchen. Darauf folgt auf erster Position der zweiten, dreisilbigen Vershälfte meist das prädikative Hauptverb (aktiv oder passiv), an das sich auf den Positionen vier und fünf Objekte der Handlung, bzw. Intention schließen. Da auch der Reim als rhythmische Zäsur einzubeziehen ist (sofern es beim Übersetzen um die Kraft des Rhythmus als Qualitätskriterium geht) werden gelegentlich alternative Hauptverben (Vers 8: die Qin zum Pfad genommen anstatt mit der Qin am Pfad warten) auf die Position des Reimwortes gesetzt oder aber ein Verb durch ein Nomen ersetzt (Vers 4: ätherisches Gemunkel der Quelle im Wind anstatt die Quelle im Wind durch den Äther hören).
François Cheng stellt in seiner analytisch-deskriptiven Untersuchung der klassischen Prosodie L’écriture poétique chinoise die passiven Vorgänge im Gestaltungsprozess des Verses den aktiven gegenüber. Während die „procédées actives“ offenbar Gegenstand einer freien Wahl der Versform durch den Autor sind (lüshi, gushi, yuefu usw.), weist Cheng darauf hin, daß die „procédées passives“ in der rhythmischen DNA des klassischen Verses so tief verankert bleiben, daß keine Alternativmodelle zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten: eines der fünfsilbigen Metren unterscheidet sich von den siebensilbigen in der Betonungsabfolge nur quantitativ, nicht qualitativ. Der Vers beginnt mit der Abfolge unbetont-betont, die bis zur Binnenzäsur andauert und sich dann umkehrt in betont-unbetont.
Fünf-Silbenvers: x X X x X ; Sieben-Silbenvers: x X x X X x X
Diese rhythmische Inversion ist für Cheng die prosodische Grundfigur der Yin-Yang-Kosmologie, durch die der Rhythmus kosmischer Energieströme unmittelbar in den der menschlichen Sprache übertragen wird. Dabei steht Yin für die geraden Silbenmengen (2, 4, seltener 6), Yang für die ungeraden (3).
Inversiv sind bei streng kodierten Metren der lü shi und jue ju auch die Abfolgen der Silbentöne, allerdings nicht innerhalb einer Verszeile, sondern im Verlauf des Doppelverses und des gesamten Gedichtes. Außerdem existieren etliche Varianten der Inversion, zwischen denen der Autor wählen kann (procédées actives). Dieses Experiment bezieht die tonale Inversion nicht mit ein, da die Figuration im konkreten Fall sehr viel komplexer verläuft. Während aber Sinologen – bis heute wohl zurecht – die rhythmischen und tonalen Figuren der klassischen Prosodie für nicht übersetzbar (semantisch nicht nachvollziehbar?) erklärten und damit einer Mystifizierung der chinesischen Verskunst Raum gaben, die einem manchmal dubiosen Freiheitsdrang die Tore öffnet, begnügte sich der bislang wohl einflußreichste Übersetzer vormoderner Lyrik, Arthur Waley, bei der praktischen Ausführung seiner prosodischen Theorie mit der Grundannahme des Verhältnisses von Schriftzeichen/Silben des chinesischen Textes zu Akzenten/Silbenbetonungen im Englischen. Das Merkwürdige daran ist, daß Waley eine quantitative rhythmische Größe durch eine qualitative, den Akzent, überträgt, während er die regelmäßige Abfolge betonter und unbetonter Silben, die im chinesischen Vers als „passiver Vorgang“ wirksam wird, ebenso ignoriert wie den Reim. Auf den Gedanken, die passiven Vorgänge im prosodischen Aufbau des chinesischen Verses in seine Übersetzungsstrategie einzubeziehen, kam Waley anscheinend nicht. Ein solcher, experimenteller Versuch wurde hier mit der obigen Übersetzung unternommen. Dabei wird zunächst, wie bei Waley, die Zahl der Silbenakzente im Deutschen mit der Zahl der Schriftzeichen/Silben im Chinesischen auf ein Verhältnis von 1:1 (unbetonte Silben im Deutschen werden nicht gezählt) abgeglichen. Als zusätzliche Regel wird das Prinzip der Abfolge von betonten und unbetonten Silben und der Inversion dieser Abfolge über die morphologische Eigenständigkeit der Wörter gesetzt. Im konkreten Fall werden zwei betonte Silben vor der Binnenzäsur durch eine unbetonte auseinander gehalten, bis dann hinter der Binnenzäsur eine unbetonte Silbe den Auftakt zum ersten Akzent gibt, was den Rhythmus beschleunigt. Indem also die Morphologie der Begriffe durch prosodische Stringenz teils aufgehoben wird, tritt der prosodische Vorgang der rhythmischen Inversion deutlich hervor, womit ein Grundzug der klassischen Prosodie des sinitischen Verses zumindest als Gestus erfaßt wird.
In der Berghütte des ehemaligen Lehrers übernachtend, warte ich auf Dingda, der nicht eintrifft
Abend son nekreuzt dieWest bergkette
Alle Thä lerwie imNu erdunkeln.
Kiefern mond gebiert derNäch teKühle
Quellim Wind äther isches Gemunkel
Holzar bei terdie nachHau sewollen
Nebel vö gelerst zurRu hekommen
Unge bund nerwann kehrstdu zurNachtein?
Habja bloß dieQin zumPfad genommen!
Hier noch einmal zur Verdeutlichung der Strategie mit den Schriftzeichen/Silben des Augsangstextes. Unbetonte Silben werden nach Gravitationsprinzip innerhalb der Versteile entweder nach der Folge betont-unbetont oder ungekehrt an die zunächst gelegene betonte Silbe gezogen. So entsteht rhythmische Interferenz, bei Prosodie und Morphologie ineinander über und auseinander hervor gehen.
夕 陽 度 西 嶺
Abend son nekreuzt dieWest bergkette
群 壑 倏 已 暝
Alle Thä lerwie imNu erdunkeln.
松 月 生 夜 涼
Kiefern mond gebiert derNächte Kühle
風 泉 滿 清 聽
Quellim Wind äther isches Gemunkel
樵 人 歸 欲 盡
Holzar bei terdie nachHau sewollen
煙 鳥 棲 初 定
Nebel vö gelerst zurRu hekommen
之 子 期 宿 來
Unge bund nerwann kehrstdu zurNachtein?
孤 琴 候 蘿 徑
Habja bloß dieQin zumPfad genommen!
Durch die Betonung fallen die Worte Qin (chin. Reißbrettzither) und Pfad sinnvollerweise annähernd zusammen: während das Instrument für das einsam wartende lyrische Ich steht, deutet der Pfad die Leere an, aus der der Freund nicht auftaucht; das letzte Wort, auf Reimposition, ist um die präpositionale Vorsilbe "mit-genommen" verkürzt, was nicht nur den Rhythmus fließend hält, sondern auch die Subjekt-Objekt-Beziehung lockert: Qin und Pfad sind nicht etwa Gegenstand und Ort einer subjektiven "Handlung" - des Erwartens des Freundes -, sondern vielmehr Embleme eines zeitlosen und existentiellen Zustandes - des Wartens ohne Grund.