Bo Juyi (Bai Juyi) 白居易
Zufällige Impulse auf Gebirgswegen 山路偶興
Übersetzung:
筋力未全衰,
僕馬不至弱。
又多山水趣,
心賞非寂莫。
捫蘿上煙嶺,
蹋石穿雲壑。
谷鳥晚仍啼,
洞花秋不落。
提籠復攜榼,
遇勝時停泊。
泉憩茶數甌,
嵐行酒一酌。
獨吟還獨嘯,
此興殊未惡。
假使在城時,
終年有何樂。
Noch sind die Muskeln nicht total erschlafft,
Diener und Roß nicht erledigt, geschafft.
Umso mehr Lust an den Bergen, Gewässern!
Herz und Genuß nicht doch stimmlos gemacht.
An Ranken empor zu Nebelgraten,
Geröll durchsteigend in wolkiger Schlucht.
In Tälern Vögel, die spät noch schreien;
Vor Grotten Blüten, des Herbst’s ungeacht.
Bald trägst du den Korb, bald hältst du den Krug.
Wo auch der Blick lockt, wird Pause gemacht.
Am Quell rastend Tee – viel’ Schalen davon;
Zu Berggängen Bräu – ein Krug ist dir recht.
Allein rezitierend und pfeifend allein –
Solch ein Vernügen war sicher nie schlecht.
Nun angenommen, ich weilt’ in der Stadt,
Was hätte der Lebensabend gebracht?
Kommentar
Die Ausgangssituation – ein Literat (der Autor) steigt auf einer Durchgangsstraße vom Pferd, um mitsamt den ihm zu Fuß folgenden Dienern aus Lust und Laune einem Pfad in die höheren Gebirgslagen zu folgen.
Die Heiterkeit, die in Texten wie diesem nachtönt – und es sind nicht wenige davon, die das überlieferte Werk Bos enthält –, rührt zunächst von der Art tiefer Entspannung, die manchen erst ein fortgeschrittenes Lebensalter ermöglicht. Das meint die erste Zeile, die dem Körper die verbleibende Elastizität nun umso höher anrechnet, desto weniger es noch zu erreichen gilt. Der weise Konfuzius, der den freien Sinn für Kunst und Schönheit erst für möglich hält, nachdem Familien- und Staatsgeschäfte geduldig und gewissenshaft erledigt sind, erscheint im Licht dieser Zeile; aber auch der Dichter Tao Qian, der sich erst mit der Reife eines gewissen Alters – die Vierzig galt nach Konfuzius als Altersschwelle, an der man frei von Zweifeln an seiner Stellung in der Welt sein sollte (si shi er bu huo 四十而不惑) – auf das Vergessen aller Pflichten verstand und in den Bergen zu jener inneren Gelöstheit fand, die sein dichterisches Hauptwerk erst ermöglichte.
Eine befreiende Altersmüdigkeit lässt etwas bislang Unerhörtes erwachen, nämlich den Sinn für das Dasein in seiner reinsten bzw. in seiner selbstlosesten Dauer im Widerschein des unmittelbar bevorstehenden Endes. „Berge und Gewässer“ sind die Form, in der diese Dauer Bestand hat; der Mensch, der vereinzelte, das abendländische und moderne „Subjekt“ ist Zu-Fall im Sinn einer impulsiven Bewegung, die im Rhythmus der Verse durch dieses aus Versatzstücken bestellte Landschaftsbild huscht. Dieser zufällige Impuls (ou xing 偶興) macht aber das Bild der selbstlosen Dauer im Widerschein des Endes erst wahrnehmbar, verleiht ihm „Herz und Genuß“ (xin shang 心賞), betrügt es um die „Leere und Verlassenheit“ (jimo 寂莫) seines Wesens, des Wesens der Berge-und-Gewässer-Landschaft als irdischer Manifestation kosmischer Natur.
So wird der folgende Gang auf Gebirgswegen zum heiter-mühelosen Spiel in drei Stufen: vom bewundernden Belauschen und Betrachten der einsamer und größer werdenden Bergwelt beim Aufstieg über das Sammeln seltener Kräuter und den gelegentlichen Genuss von Tee und Gebrautem in den Höhenlagen bis zum begeisterten Verserezitieren und ekstatischen Pfeifen (ein schamanistisch-daoistisches Ritual zur Vereinigung mit den Naturgottheiten, Topos in der Gebirgsnaturlyrik) während des Abstiegs.
Nichts Vergleichbares hätte die Stadt dagegen zu bieten. Ehre, Reichtum, Ruhm, Macht wären schon als Worte erdrückend. Ihrer wird daher nicht einmal mehr gedacht.